Tanz der Flachpfeifen

von Stefan Keim

Recklinghausen, 9. Juni. Vielleicht sollte man so tun, als hätte es diesen Abend gar nicht gegeben. Denn es tut weh, darüber zu schreiben, wie viel Begabung hier vergeudet wurde. Aber sie ist nun in der Welt, die Nicht-Aufführung von Elias Canettis "Hochzeit", die bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen Premiere hatte und ans Deutsche Theater nach Berlin weiter wandert.

Das Stück ist nicht besonders ergiebig. Elias Canetti hat 1932 eine moralische Satire geschrieben, in der Menschen in einem großen Haus ihre Geilheit und Geldgier austoben. Eine Hochzeitsparty gerät außer Kontrolle, eine junge Frau wartet ungeduldig auf den Abgang ihrer Großmutter, damit sie das Haus erbt, ein fast 80-jähriger Arzt baggert Amok. Die Strafe für die all diese Verderbnis folgt am Ende, ein Erdbeben legt das Haus in Schutt und Asche. Alle sterben. Ein Idealist namens Horch kündigt zuvor die Apokalypse an. Wer will, kann das Stück als Vorahnung der Nazi-Diktatur oder heute als Warnung vor Rechtspopulisten verstehen. Wahrscheinlich ist es deshalb auf den Spielplan des Deutschen Theaters und mithin der Ruhfestspiele gelangt. Eine schwache, verkommene, wertelose Gesellschaft taumelt ihrem Untergang entgegen.

Die Braut flieht "ganz in Weiß"

Es braucht ein Regiekonzept, um dieses geheimnislose, angestaubte, mit derben Typisierungen arbeitende Stück heute bühnentauglich zu machen. Am Beginn der Aufführung spielt Andreas Kriegenburg ein bisschen herum. Das Hochzeitspaar sitzt steif nebeneinander auf einem Sofa und weiß nichts mit sich anzufangen. Er singt "Ganz in Weiß", den Roy-Black-Schlager, verheddert sich im Text, sie rennt entnervt weg. Dann treten zwei Schauspielerinnen auf und stecken das Manuskript von Elias Canettis "Hochzeit" Blatt für Blatt in einen Schredder. Dabei erzählen sie, dass der Autor sein Werk selbst für den Hörfunk eingesprochen hat. Das sei ja toll, dann hätten sie nicht so viel Arbeit. Darauf tönt Canettis Stimme aus dem Lautsprecher, die beiden verwandeln sich in Enkelin und Großmutter, bewegen die Münder im Vollplayback, spielen ein bisschen Kasperletheater. In diesem Moment ahnt noch keiner, dass dieser nicht sonderlich inspirierte Beginn der Höhepunkt der Aufführung sein würde.hochzeit1 560 Arno Declair uEin Ensemble hochbegabter Schauspieler*innen scheitert erbärmlich © Arno Declair

Denn dann geht die Party los. Von Anfang an dreht das Ensemble den Energielevel so hoch, dass keine Steigerung mehr möglich ist. Ein Grabschen und Schubsen, Kreischen und Schreien, Plappern und Rennen setzt ein. Nur gelegentlich sind einzelne Sätze verständlich. Wer das Stück vorher gelesen hat, ahnt, dass die Figuren Elias Canettis aufeinander los gelassen werden. In der allgemeinen Hysterie sind Unterschiede zwischen all den Flachpfeifen und Vollpfosten kaum auszumachen.

Es ist unfassbar: Hier stehen die ausgezeichneten Schauspielerinnen und Schauspieler des Deutschen Theaters Berlin auf der Bühne. Sie geben sich die größte Mühe, all ihre Qualitäten zu verbergen. Mit Ausnahme der Körperbeherrschung, denn bei all dem Gerutsche, Gefalle, Gekloppe und Gerangel tut sich anscheinend niemand ernstlich weh. Jeder Darsteller entwickelt einen einzigen Tonfall und findet den so toll, dass er den Rest des Abends dabei bleibt. Das ist nervend und unendlich langweilig.

Apokalypschen now!

Andreas Kriegenburg hat schon wunderbare Inszenierungen gemacht. Vielleicht hat er hier einen Exorzismus probiert. Vielleicht wollte er dem Stück seine Schwächen austreiben, indem er sie potenziert. Indem er blöde Figuren noch blöder, dämliche Situationen dämlicher, Eindeutigkeiten noch eindeutiger inszeniert. Wenn das die Idee war, funktioniert sie nicht. Möglicherweise ist ihm auch gar nichts eingefallen, und jetzt musste einfach dieses doofe Stück auf die Bühne. Dann sollen es Effekte retten. Die Spielfläche von Harald Thors Bühne gerät immer mehr ins Schwanken. Im Hintergrund sind schon zu Beginn Risse in der Wand zu sehen. Am Ende fällt ein bisschen was herunter, aber weil das so vorhersehbar ist und man darauf so lange gewartet hat, gerät das Apokalypschen putzig und harmlos. Diese Bühne ist ein Paradebeispiel, wie man viel Geld für nichts verschleudern kann.

Und dann kommt auch noch eine moralische Erläuterung! Die einzige Überlebende tritt aus den Trümmern und verkündet mit viel Pathos, was der ganze Quatsch bedeuten sollte. Das unterbeschäftigte Hirn schmerzt. Natürlich ist es erlaubt, im Theater zu scheitern. Auf so eine erbärmliche Weise zu scheitern, ist freilich peinlich. Für alle. Ehrlich, es macht keinen Spaß, darüber zu schreiben. Und es ist eine Qual, sich den Mist anzusehen.

 

Hochzeit
von Elias Canetti
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Harald Thor, Kostüme: Andrea Schraad, Licht: Matthias Vogel, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit Jörg Pose, Natali Seelig, Franziska Machens, Camill Jammal, Nina Gummich, Bernd Moss, Moritz Grove, Wiebke Molllenhauer, Markwart Müller-Elmau, Elias Arens, Anja Schneider, Harald Baumgartner, Linda Pöppel, Nele Rosetz, Edgar Eckert, Tabitha Frehner.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de
www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Irre, was für ein Szenenbild Harald Thor für diese Kooperation mit dem Deutschen Theater Berlin geschaffen hat", schreibt Bettina Jäger in den Ruhr Nachrichten (12.6.2017). "Leider ist es schon das Beste, das die Premiere (...) zu bieten hatte." Denn in der Inszenierung Andreas Kriegenburgs bleibe der Text von Elias Canetti "belanglos". Das Ensemble gebe "alles, doch wir sehen nur Pappkameraden aus Gier und Geilheit." Die Besucher schauten "eher ungerührt auf eine tolle Theatertechnik, die diese Gesellschaft unter Trümmern begräbt."

Als "flach nivelliertes Beschwipsten-Kabinett" beschreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (14.7.2017) den Abend. "Kriegenburg behält seinen sonst so klugen Kopf nicht über, will sagen: Er steigert den Entlarvungsfuror der Komödie nicht peu à peu, erweitert nicht schlau die Risse im Konstrukt, sondern legt von Anfang an die Karten offen auf den Tisch. Wir haben es hier mit einer tristen Truppe von Alkoholikern, Schürzenjägern und Idioten zu tun." Dabei stehe ihm ein fabelhaftes Ensemble zur Verfügung. "Es sind verschenkte Ressourcen, wie auch das aufwendige Bühnenbild von Harald Thor eine bessere Inszenierung verdient hätte."

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