Ringelpiez mit Ablass

von Eva Biringer

Wien, 9. Juni 2017. Gut, Mensch, akzeptiere, dass Dein Wasserkocher der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es gibt nämlich, frei nach Adorno, keine richtige Charity im Falschen. Man ahnte das bereits, nach dem Besuch von "Traiskirchen" weiß man es. Als "Musical" kündigt das Volkstheater diese Koproduktion mit den Wiener Festwochen an. "Jahrmarkt der Barmherzigkeit" und "Abendunterhaltung weit jenseits der Obergrenze" floskelte das Programmheft, da wird man doch mal sagen dürfen: Es war ein Potpourri der bunten Einfälle und die meisten schossen über ihr Ziel hinaus.

Zielscheibe der identitären Rechten

Am Abzug standen Tina Leisch und Bernhard Dechant. Zusammen sind sie "Die schweigende Mehrheit sagt JA", ein Künstlerkollektiv, das nach dem Motto "Bitte liebt Österreich!" zeigen will, dass nicht alle Alpenländer ein Problem mit Geflüchteten haben. Bekannt wurde es spätestens, als vergangenes Jahr Mitglieder der rechtsradikalen identitären Vereinigung ihre Aufführung der "Schutzbefohlenen" im Wiener Audimax stürmten. Als Gegenreaktion wurde das Jelinek-Stück ein weiteres Mal unter Polizeischutz aufgeführt und der Gruppe eine Volkstheater-Einladung für eine neue Stückentwicklung zugesagt. Jetzt also Traiskirchen: Jene niederösterreichische Kleinstadt, deren Flüchtlingslager 2015 zum Symbol der fehlgeleiteten Asylpolitik wurde. Wieder wurde das Stück mit Geflüchteten erarbeitet, 33 sind es dieses Mal, rund die Hälfte davon professionelle Schauspieler.

Traiskirchen 560 Alexi Pelekanos uTraiskirchen, Flüchtlingslager und Symbol einer fehlgeleiteten Asylpolitik © Alexi Pelekanos

Einer von ihnen bekennt: "Ich würde gern das politische Theater neuerfinden." Man muss sich Tina Leisch als eine Art weiblichen Volker Lösch vorstellen, schließlich hat sie bereits mit Obdachlosen, Prostituierten und Gefängnisinsassen zusammengearbeitet. In Interviews gibt die gebürtige Münchnerin unumwunden zu, dass Theater für sie Mittel zum Zweck ist, ihre politische Botschaft unters Volk zu bringen. Gut, dass wenigstens der zum Schauspiel ausgebildete Dechant vom Theater kommt.

Für Leisch ist "Traiskirchen" ein Stück mit "100 Prozent Unterhaltungswert". Auf die Mitwirkenden trifft das sicher zu. Fraglos gelingt es den beiden Nestroypreisträgern, auf der Bühne eine Stimmung jenseits von Betroffenheit zu kreieren. Es ist ja auch lustig, behördendeutsche, respektive behördenösterreichische Sätze wie "Welchen Teil Ihrer Persönlichkeit mussten Sie im Herkunftsland unterdrücken" zur Abwechslung mal zu singen. Leider wird es trotzdem meistens dann unangenehm schultheaterhaft, sobald die Musik einsetzt. Und das, obwohl dafür namhafte Größen wie Texta (großartiger Hip Hop aus Linz), Eva Jantschitsch alias Gustav (ein besserer "Gutmensch“-Song kommt nicht mehr: Rettet die Wale) und das Akustik-Duo Bauchklang verantwortlich sind. Das siebenköpfige Orchester unter der Leitung von Imre Lichtenberger Bozoki schlägt sich tapfer.

Hoch ansteckend: Mitmenschlichkeit

Zurück zu den Wasserkochern. Dem Lageraufseher ORS-Moses (Moussa Thiaw) zufolge gibt es aufgrund einer Spendenflut so viele davon, dass der Strom ausfällt. Dass dieser Aufseher unübersehbar kein Bio-Österreicher ist, dafür aber breitestes Wienerisch spricht, gehört zu den sympathischen Regieeinfällen. Der sympathischste von allen ist der sogenannte Quotensandler (Sandler, zu Deutsch: Wohnsitzloser). In Pelzmantel und Marken-Sneaker schimpft Dechant vom Bühnenrand aus mit einem derartigen Schmäh, dass die Übersetzung allen Nicht-Wienern recht gelegen kommt.

Wir lernen: Österreichisch ist auch nur eine Spielart des Alt-Aramäischen und Heimat ein schlecht foliertes Glitzerschild und allen Widrigkeiten zum Trotz "das Einzige in Traiskirchen, womit man sich anstecken kann, die Mitmenschlichkeit". Gegen solche Weichspühlwahrheiten rennen die wenigen spannenden Ansätze des Stücks – Stöckelschuhe als Burka des Westens, Tinder-User als Schänder der heiligen Liebe, Geflüchtete als zukünftige "Konsumzombies" – so vergeblich an wie gegen die sprichwörtliche Mauer, die nicht nur Politiker der rechten FPÖ gerne hochgezogen hätten.

Traiskirchen2 560 Verena Schaeffer uAuf der Suche nach der Offenen Gesellschaft in der Heimat: "Traiskirchen" vom Kollektiv "Die Schweigende Mehrheit sagt Ja" © Verena Schäffer

Nach der Pause folgen einige kurze Szenen voll Melancholie: Als Müllsackballett kriechen die Darsteller am Boden, ein Kriegstribunal lässt einen Realismus à la Milo Rau aufkommen. Wenn Theater schon derart schamlos instrumentalisiert wird, dann bitte mit mehr Abstraktion als einem "Gutmensch"-T-Shirt. Aber schon im nächsten Moment kalauert Khalid Mobaid als Innenministerin Mikl-Leitner unterm "Austria"-Regenschirm herum. Zuvor kriegte schon der ehemalige Leiter des Flüchtlingslagers Franz Schabhüttl sein sogenanntes Fett weg. Am Ende kommt man auf einen Schlepper-Sündenbock (ebenfalls Khalid Mobaid, diesmal hippiesk), der, man wagt es kaum zu schreiben, als Jesus ans Kreuz genagelt wird, und ganze zwei transnationale Liebesgeschichten, und überhaupt zieht sich dieses Ende in die Länge wie ein Tag im Einwohnermeldeamt mit einer dreistelligen Wartenummer.

Zusehends fühlt man sich wie ein Elternteil, das die ungelenken Kritzeleien seines Kindes an den Kühlschrank hängen muss oder eben: beim Schultheater klatschen. Der Ansatz der "Schweigenden Mehrheit" ist lobenswert, die ästhetische Umsetzung ist es nicht. Nennen wir es Ringelpiez mit Ablass. Denn erwartungsgemäß hat sich an diesem Abend kein Identitärer ins Volkstheater verirrt und die in der Flüchtlingsfrage klar positionierten Anwesenden geben Standing ovations, Stichwort: Preaching to the converted. Gut, Mensch, behalt Deinen Wasserkocher und akzeptiere, dass auch die richtige Idee im falschen Konzept enden kann.

 

Traiskirchen. Das Musical
von Die Schweigende Mehrheit sagt Ja (Tina Leisch und Bernhard Dechant)
Konzept, Text und Regie: Die Schweigende Mehrheit sagt Ja (Tina Leisch und Bernhard Dechant), Bühne und Kostüme: Gudrun Lenk-Wane, Musikalische Leitung: Imre Bozoki Lichtenberger, Musik: Lukas Lauermann, Jelena Popržan, Mahan Mirarab, Mona Matbou Riahi, Jörg Mikula, Sakina Teyna. Mit Songs und Lyrics von Bauchklang, TEXTA, Eva Jantschitsch, Imre Bozoki Lichtenberger, Leonardo Croatto, Sakina, Richard Schubert u.a., Choreographie: Birgit Unger und Tim Nouzak, Chorleitung: Eva Prosek, Lichtdesign: Dulci Jan, Sound: Gustavo Petek, Produktionsleitung: Christina Pröll, Verena Schäffer, Stefan Wurmitzer, Thomas Auer.
Mit: Bagher Ahmadi, Yasser Alnazar, Stefan Bergmann, Julia Bernhard, Hanna Binder, Alireza Daryanavard, Bernhard Dechant, Ardee Dionisio, Daniyal Gigasari, Gat Goodovich, Laila Hajoulah, Farzad Ibrahimi, Negin Keivanfar, Jihad al-Khatib, Amin Khawary, Jasmeet Lamba, Zaher Mahmoud, Johnny Mhanna, Haidar Ali Mohammadi, Khalid Moubaid, Hisham Morscher, Mazen Muna, Nyima Ngum, Dariush Ongaie, Jantus Philaretou, Eva Prosek, Sophie Resch, Basima Saad Abed Wade, Shureen Shab-Par, Futurelove Sibanda, Pal Singh Chopra, Hicran Taptik, Moussa Thiaw.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, exklusive einer Pause

www.festwochen.at
www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

Bernd Noack von Spiegel Online (10.6.2017) sah "kleine, leise Geschichten, komische, traurige, immer sehr wahre, anrührende und ehrliche". Natürlich klappere da manchmal auch das Klischee, und wenn das politische Sendungsbewusstsein anschwelle, gerate das Ganze auch etwas plump und allzu populär. "Wirklich stark, motiviert, mit saftiger Ironie die Ruhe und Gleichgültigkeit störend und die Obergrenze der Doppelmoral schleifend ist das Musical 'Traiskirchen' aber da, wo es einfach von den richtigen Menschen und ihren falsch gelaufenen Leben erzählt, die uns nicht mehr interessieren."

Durch das Wechseln von Rollen bzw. eine wohlweislich atypische Besetzung durchkreuze das Musical Stigmatisierungen und rassistische Bilder. So gebe es weder den guten Flüchtling noch den bösen Soldaten, schreibt Margarete Affenzeller im Standard (10.6.2017). "Alle haben ihren Auftritt – der militante Muslim und die Identitäre, die 'Refugees welcome'-Romantikerin und der ehemalige syrische Scharfschütze. Das bildet einerseits die Komplexität einer sich verändernden Gesellschaft gut ab, bremst in seiner (v. a. gegen Ende hin allzu langen) Auflistung sämtlicher Stimmen und Schauplätze den Abend aber auch ein." 

"Ein Einheimischer lässt den Satz fallen, es gehe darum, das politische Theater neu zu erfinden. Zu spät! Die offene burleske Form bediente schon vor 100 Jahren der Rotavantgardist Wladimir Majakowski." Heute verführe sie zum raschen Wechsel von Trist und Heiter, Dokument und Phantasma, Aggression und Elendskitsch, Kalauer und Politansage, schreibt Hans Haider von der Wiener Zeitung (10.6.2017). Die 'Missstands-Revue' drehe sich zu lange im Kreis.

"Endlich passiert eine Aufarbeitung der Geschehnisse, endlich in einem Ton fern von jeglicher postulierter politischer Korrektheit. Ehrlich, tiefgründig - und durchaus witzig", jubelt Elisabeth Stuppnig im ORF (10.6.2017). "Es ist ein Theaterabend, wie er sein soll und wie man ihn sich öfter im Wiener Volkstheater wünscht: unterhaltsam, zum Nachdenken anregend, animierend."

Absurde kleine Vignetten, Geschichten von Krieg und Folter, von der Kraft des Miteinander und viel Musik bestimmten diesen Abend, schreibt Bernadette Lietzow von der Tiroler Tageszeitung (11.6.2017). "Mitten hinein in den 'Sommer der Solidarität', in die Hitze des Augusts 2015, als die doch ziemlich flüchtige 'Willkommenskultur' neben schönen Blüten auch solche von Chaos und Konfusion trieb, führt ein technisch kunstfertiger Theaterabend, der in seinem gut gelaunten Engagement doch etwas stutzig macht." Von Grenzenlosigkeit im Denken wie im politischen Handeln und von dem Gewinn einer bunten Gesellschaft zu träumen, sei die Grundfarbe des Musicals.

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