Ausweitung der Gesangszone

von Martin Krumbholz

Aachen, 10. Juni 2017. Man könnte gegen Michel Houellebecq kleinlich einwenden, in Bezug auf 2017 habe er sich schon mal geirrt: Zwar kam der Front National in die zweite Runde, wie prognostiziert, aber die Sozialisten wurden nicht wiedergewählt. Stattdessen tauchte wie aus dem Nichts ein bürgerlich-liberaler Kandidat auf, jünger noch als der fiktive 43-jährige Mohammed Ben Abbes von der Bruderschaft der Muslime, den der französische Romancier in seinem Dystopie-Thriller "Unterwerfung" 2022 zum Präsidenten wählen lässt. Auch in fünf Jahren wird die Wahl wahrscheinlich anders ausgehen, als der Autor es uns an die Wand malt. Und doch nehmen offenbar viele Leser (und Theatergänger) Gedankenspiele wie diese rührend ernst: "Tja, Zukunftsvision", meint ein älterer Besucher nachdenklich beim Verlassen des Aachener Theaters.

Emanzipation auf den Müllhaufen

Die Leute mögen den Kitzel, auch wenn sie die Idiosynkrasien des knapp sechzigjährigen Schriftstellers wohl kaum teilen und von einem Joris-Karl Huysmans, einem katholischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, den er zu seinem geistigen Mentor erwählt, noch nie gehört haben. "Unterwerfung" dürfte inzwischen der meistadaptierte Roman in der deutschen Theaterlandschaft sein, allein gestern fanden zwei Premieren statt. In Aachen bietet man drei Schauspieler sowie einen riesigen Opernchor bzw. Sinfonischen Chor auf, um den Text von 270 Seiten auf die große Bühne zu stemmen, und zwar gefühlt: ungekürzt. Also eins zu eins. Huysmans, der mit seinem pechschwarzen Bart ein bisschen wie ein Salafist aussieht (Rainer Krause), ist wie der Protagonist Francois (Karl Walter Sprungala) ständig zugegen, Elke Borkenstein spielt alle Frauen, also zum Beispiel die jüdische Studentin Miriam, die vorläufig letzte Geliebte des Helden, bevor er schließlich zum Islam konvertiert und mehrere Frauen gleichzeitig heiraten darf.

Unterwerfung2 560 Ludwig Koerfer uDer Chor und seine Parolen mit populistischem Pathos auf Andreas Beckers Bühne.
@ Ludwig Körfer

Und der Chor? Hat Sätze oder Parolen zu schmettern wie "Wir sind das französische Volk!" oder auch, ganz hinterfotzig: "Ist es eine gute Idee?" – nämlich Frauen gleichberechtigt zu behandeln. Nebenbei will Houellebecq ja zeigen, dass die Identitären und die Muslime sich in gewissen Punkten ideologisch decken. Aber das ist nicht die zentrale Pointe des Romans. Die besteht vielmehr darin, dass die "sanfte" Machtübernahme der Muslim-Brüderschaft die Errungenschaften der Emanzipation auf den Müllhaufen der Geschichte wirft. Houellebecq bzw. sein Protagonist leidet vor allem unter dem Liberalismus westlicher Prägung, weniger unter bestimmten totalitären Ideologien. Vielleicht kann man sagen: Der Liberalismus ist für ihn eine totalitäre Ideologie, er vernichtet den Menschen (den Mann), indem er ihn in sexuellen Konkurrenzen und Aporien aufreibt. Das war schon in der (literarisch viel spannenderen) "Ausweitung der Kampfzone" das große Thema.

Wiederkehrender Spuk

An der Behandlung des Chors in der Aachener Inszenierung von Ewa Teilmans lässt sich ablesen, dass die Vox populi, so naiv sie sich darstellt, als Angstmacher fungiert: Wenn der Chor in seiner Masse auftritt und seine Parolen brüllt (gelegentlich auch mal ganz schön singt), duckt Francois sich förmlich weg. Der Chor ist eine Art wiederkehrender Spuk. Aber eine Haltung zum Text lässt die Inszenierung kaum erkennen, geschweige denn, wie im Programmheft angekündigt, dass sie ihn "gegen den Strich" bürste. Die Bühne (Andreas Becker) ist ein hohes verschachteltes Klettergerüst, mit Neonröhren bestückt, auf das die Akteure sich zurückziehen können, wenn der Chor raumgreifend agiert. Sprungala memoriert den riesigen Text – mit einiger Mühe, aber das ist nicht verwunderlich –, Huysmans/Krause fungiert als Sidekick, aber nicht als Antagonist – den gibt es ja auch im Roman nicht. Der Antagonist ist die Geschichte.

Falsches Pathos

Letztlich wird der Roman, in Kapitelchen aufgeteilt, brav und bieder abgespult, warum es gerade drei Spieler sind und nicht einer oder dreizehn, ist so wenig auszumachen wie die Notwendigkeit eines Bürgerchors, der mit falschem Pathos und ungelenken Gebärden wie ein Papiertiger wirkt. Es gibt auch dramaturgische Unstimmigkeiten: So wird Macron im Kontext von 2017 erwähnt, in dem von 2022 aber nicht mehr, als sei der Mann inzwischen verschwunden. Aktualisieren lässt so ein Szenario, das von surrealen Zuspitzungen lebt, sich kaum. Und man fragt sich, was ein hochambitionierter Literatur-Abend wie dieser bei den geduldigen Zuschauern am Ende bewegt oder auslöst. "Tja, Zukunftsvision." Achselzucken. Und dann?

 

Unterwerfung
von Michel Houellebecq
Fassung von Ewa Teilmans
Regie: Ewa Teilmans, Bühne und Kostüme: Andreas Becker, Komposition: Anno Schreier, Licht: Dirk Sarach-Craig, Video: Luca Fois, Choreinstudierung: Elena Pierini/Ewa Teilmans, Sounddesign: Ralf Sunderdick, Dramaturgie: Michael Schmitz-Aufterbeck.
Mit: Karl Walter Sprungala, Rainer Krause, Elke Borkenstein, Opernchor Aachen, Sinfonischer Chor Aachen.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.theateraachen.de

 

Kritikenrundschau

Die "Unterwerfung"-Fassung von Ewa Teilmans komme " mit gewaltiger Textmenge, ohne Handlung und ohne Dialoge" daher, "intensives Zuhören" sei angesagt, schreibt Eckhard Hoog in der Aachener Zeitung (12.6.2017). Der "Schwall des Textes" habe etwas schwer Verdauliches, zumal "die Erklär-Passagen über die politische Entwicklung mit ihrer Unzahl an Namen so langatmig daherkommen wie im Roman". Hoog erhebt auch weitere Einwände: "Ausgerechnet die Bürger einer politisch total zersplitterten Nation artikulieren sich im Gleichklang eines Chors? Da fehlt es an Logik. überhaupt: Die ganze Personalzusammenstellung bleibt unmotiviert." Aber immerhin habe das Theater "einige brennende Themen der Stunde auf die Bühne gebracht – vielleicht ist das hier überhaupt das Wichtigste."

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