Oh wie schön ist Panama (und seine Leichen)

von Steffen Becker

Stuttgart, 11. Juni 2017. Es gibt Theaterabende, da kann man sich mit Figuren richtig gut identifizieren. "Arsen und Spitzenhäubchen" in der Regie von Jan Bosse am Schauspiel Stuttgart gehört dazu. Zum Ende der Spielzeiten ertappt man sich als Kritiker ja immer wieder mal bei dem Gedanken, es mal so zu machen wie unser Alter Ego in der Hauptrolle dieses Stückes: der Rezensent Mortimer. Also: Den Verriss schon auf dem Weg ins Theater schreiben (wie immer) und das Ergebnis dann der Redaktion ins Telefon bellen (übellaunig, weil die keinen Ersatz für den Auftrag gefunden hat, nicht mal diesen Azubi, den keiner leiden kann).

Ich hätte auch nichts dagegen, wie Mortimer von einem Polizisten in engem Leder gerettet zu werden. Nur die Idee, im Theater allenfalls den ersten Akt anzuschauen, würde ich mir in Stuttgart nicht zu eigen machen. Man würde was verpassen. Nämlich den launigen Abend eines Teams in einer ähnlichen Endzeit-Stimmung wie der Kritiker: Jetzt ist es ja bald rum, jetzt lassen wir das mal mit den Charakterstudien, den Anspielungskaskaden: Jetzt haben wir Spaß.

Steile Stufen ins Nirwana

Der Spaß besteht bei "Arsen und Spitzenhäubchen" in dem Aufeinandertreffen bürgerlicher Idylle und Horror. Moritz Müllers Bühne beweist dabei viel Liebe zum Detail. Die so liebenswürdigen wie mörderischen Tanten nehmen Platz auf Art Déco-Möbeln aus der Zeit, in der das Stück spielt. Die 1940er Sessel-Idylle kombiniert Müller mit einer überdimensionierten Showtreppe, die Mortimers verrückter Bruder entert – im Wahn, er sei US-Präsident Theodore Roosevelt. Steile Stufen zweigen ins Nirwana einer Teppichwand ab, hinter der sich ein Labor des mit Medizinexperimenten reich gewordenen Großvaters verbergen soll.

Arsen1 560 Bettina Stoss uWo der Bär steppt und hockt: "Arsen und Spitzenhäubchen" mit Sebastian Röhrle, Ferdinand Lehmann, Christian Schneeweiß, Manolo Bertling, Astrid Meyerfeldt © Bettina Stöß

Der Wahnsinn und die gutbürgerliche Fassade – Inszenierung und Bühne bringen es in eins statt es als zwei verschiedene Welten darzustellen. Das hätte Jan Bosse auch durchhalten können statt zwischendrin hinter die Kulissen zu blicken, die Tanten lasziv über den Särgen ihrer zwölf Gift-Opfer tanzen zu lassen und die Bühnenbauten am Schluss aufzusprengen. Aber gut: Die Drehbühne des Schauspielhauses war teuer, für zwei Jahre Bauverzögerung verantwortlich, jetzt muss man sie halt nutzen.

Der US-Präsident hat Leichen im Keller

Der schwarze Humor des Stücks speist sich doch gerade daraus, dass die vermeintlich Wahnsinnigen normal erscheinen, während Mortimer, der 08/15-Theaterkritiker, angesichts ihrer Taten komplett die Nerven verliert. Sebastian Röhrle als Mann im Stars&Stripes-Strampler, der sich für einen US-Präsidenten hält, gräbt patriotisch-brav im Keller den Panama-Kanal aus und bestattet die Opfer. Im Glauben, so weitere Gelbfieber-Ausbrüche zu verhindern. Klingt gar nicht mehr so unlogisch, wenn man sich die Fotos seines Vorbilds Teddy Roosevelt im Programmheft ansieht. Der ritt im Paradeoutfit Elche durch Flussfurten, was auch ein wenig nach "einen an der Klatsche" ausschaut.

Ha, doch ein aktueller Bezug! An den derzeitigen Präsidentendarsteller Trump kann man denken, wenn Mortimer zur Ablenkung einen indischen Premier mimt und mit "Teddy" über "Atomwaffen" sprechen will – damit er den Nachbarn nicht weiter mit seiner Trompete auf die Nerven geht. Und war es nicht so, dass in der Verfilmung des Stoffes die Hauptrolle ursprünglich dem späteren Präsidenten Ronald Reagan zugedacht war (bevor es Cary Grant wurde)?!

Eine schöne schwarze Komödie

Daraus könnte man ein paar Gedanken über Politik als Schauspiel drechseln. Die Kritikerkollegen im Premierenraum machen sich eifrig Notizen. Das Schöne an Bosses Inszenierung: Man kann es auch lassen. Der Abend drängt einem das alles nicht auf. Er funktioniert auch einfach als gut gemachte schwarze Komödie. Bosse kann auf ein glänzend aufgelegtes Ensemble zurückgreifen. Astrid Meyerfeldt etwa als Dr. Hermann Einstein, Gesichtschirurg des kriminellen Neffen Nr. 3. Eigentlich eine Nebenfigur, aber sie sahnt mit Slapstick-Einlagen wie Um-die-Wette-Schmauchen, dem Anspringen ihres nervösen Patienten und abgeklärtem Zynismus einen Großteil der Lacher ab.

Arsen2 560 Bettina Stoss uLasst den Schreiber schreien! Manolo Bertling als Rezensent Mortimer, umstellt von Christian Schneeweiß und Astrid Meyerfeldt. Abseits: Ferdinand Lehmann © Bettina Stöß
Im Hauptfeld überzeugen die beiden Tanten Abby und Martha (Rahel Ohm und Marietta Mequid) – zwei distinguierte Damen, giftmordend mit sich im Reinen und immer ein bisschen von oben herab. Eine Lust, ihnen zuzusehen, wie sie ihre Spitzentaschentücher schwenken und ihre wechselnden Kostüme theatralisch durch die Kulisse bugsieren.

Demgegenüber agieren Manolo Bertling als Kritiker Mortimer und Lea Ruckpaul als seine Verlobte Elaine einen Tick zu überkandidelt. Das Hin- und Her-Gerenne und Gliedmaßen-vom-Körper-Wegschmeißen nötigt zwar sportlichen Respekt ab. Es ist auch klar, dass das den wahren Wahnsinn bei denen verortet, die eine bürgerliche Existenz als Ehepaar anstreben. Für den atmosphärischen Anspruch von Bühne und Ausstattung, bürgerliche Konvention und durchgeknallte Moral als miteinander verwoben darzustellen, ist die schauspielerische Aufteilung in normale Irre hier und irre Normalos dort etwas zu strikt.

Aber gut: Ich will eigentlich nicht meckern. Und auch gar nicht mehr in die Tiefe gehen. Ansonsten würde ja der Vorwurf von Elaines Pastor-Vater greifen: Dass jemand, der ständig dem Theater ausgesetzt ist, Gefahr läuft, an diesem Interesse zu finden. Ein Satz, bei dem die Theatervertreter*innen im Publikum herzlich gelacht haben.

 

Arsen und Spitzenhäubchen
von Joseph Kesselring
Deutsch von Helge Seidel
Regie: Jan Bosse, Bühne: Moritz Müller, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Marietta Meguid, Astrid Meyerfeldt, Rahel Ohm, Lea Ruckpaul, Manolo Bertling, Ferdinand Lehmann, Sebastian Röhrle, Christian Schneeweiß, Michael Stiller.
Dauer: 2 Stunden, 10 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de


Kritikenrundschau

Nicole Golombek schreibt auf der Website der Stuttgarter Nachrichten (11.6.2017): Jan Bosse verweigere "klug ein Happy End", verzichte auf die horrorkomödischen Effekte der Film-Vorlage, setze den Schwächen der Komödie - ihrer Umständlichkeit, Langatmigkeit und falscher Konstruktion - aber nichts entgegen. Bosse komme es weniger auf den "Theater-im-Theater-Kommentar" an als auf "Kritik am großen Ganzen – an der Welt und ihrer Verfasstheit". Im Theater zeige sich: "die Vernunft hat verloren, die Welt wird von Irren bevölkert". So stelle sich "inmitten der Pastellseligkeit" doch noch "so etwas wie ein Gefühl des Grauens" ein.

Roland Müller schreibt auf der Online-Seite der Stuttgarter Zeitung (11.6.2017): Mit der Komödie habe man es in Stuttgart unter dem "strengen Armin Petras" nicht so. Immerhin habe Bosse ein Händchen für Komödien, was er jetzt wieder beweise. Er puste die Krimifarce als "leichte Sommerunterhaltung ins Theater". Manolo Bertling koste jeden Szenen- und Wortwitz, jeden Kalauer und Slapstick hemmungslos aus, noch nie habe er so viel Kontur gewonnen wie in dieser Rolle des tolpatschigen Kritikers.

"Bosse punktet mit Slapstick, dadaistischer Wortakrobatik und einem stark aufspielenden Ensemble, aber er versäumt es, der Klamotte einen doppelten Boden einzuziehen oder wenigstens die bedrohliche Unterseite des Idylls auszuspielen", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.6.2017). "Ab und zu dreht sich die Bühne, und dann enthüllt die bürgerliche Fassade, eine Art-déco-Wohnlandschaft mit Sesseln, Drehtüren und steilen Treppen ins Nichts, ihre düstere Hinteransicht: Särge, wabernde Nebel, gespenstische Dunkelheit wie in Draculas Gruft. Am Ende bekommt die Fassade Risse, die Kulissen brechen auseinander, aber bloß weil das Theater sich fröhlich einmal um sich selber dreht, geht die Welt noch lange nicht aus den Fugen."

Es dominiere eilfertige Situationskomik. Jan Bosse habe eine eine Komödie für Menschen mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne geschaffen, so Peter Kümmel von der Zeit (13.6.2017). "Das Spiel ist körperbetont und rasant – und wird immer wieder von Redundanzen gebremst, die auf Gelächter zielen, aber geringen Ertrag abwerfen." Bosses Figuren verzweifelten an der Tücke des Objekts, "und da auch sie hier nur Objekte, überflüssige Körper, sind, hat das Spiel eine balsahölzerne Leichtigkeit, ja Beliebigkeit."

 

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