Ein Platz für Bürger

von Lukas Pohlmann

Dresden, 11. Juni 2017. Eigentlich beginnt "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" bereits bevor sie beginnt: Die Bürger sind schon da, die Bühne auch – ganz gleich, wann sich die Zuschauer zur Premiere Stücks von Peter Handke in Dresden einfinden. Vielleicht war noch nie eine Produktion der Bürgerbühne des Dresdner Staatsschauspiels besser vorbereitet.

Bürger unter Bürgern

Dresden-Besucher, Menschen zwischen Sightseeing, Faszination und Verwirrung bevölkern den Theaterplatz in der Mitte der sächsischen Landeshauptstadt, prominent gelegen zwischen Semperoper, Zwinger, Hofkirche und Residenzschloss. Gehören die schon zum Handke-Figurentableau der angekündigten "Theaterplatzbespielung mit Dresdner Bürgern"? Noch sind sie scheinbar zufällige Passanten im Sommersonntagabendmodus während der Schatten der Semperoper zur Sonnenuhr wird.

Stunde da wir2 560 Klaus Gigga x© Klaus Gigga Der Glockenschlag der Hofkirche läutet schließlich die (nicht-)bewusste Stunde ein, die der Autor betitelt und die Regisseur Uli Jäckle mit 120 Beteiligten inszeniert. Musik schallt vom König-Johann-Denkmal herüber, aus den Vereinzelten und kleinen Grüppchen auf dem Platz werden choreografierte Darstellergruppen. Erste Gestalten, die sich allein bekleidungsmäßig von den anderen abheben, huschen über das Pflaster. Ein trauriger Clown schießt Fotos mit dem Selfiestick.

Die erste konstatierte Aktion beschreibt einen Grundansatz des Abends: Die Darsteller sammeln sich vor dem Publikum und tragen alsbald die roten Kordeln weg, die den Zuschauerbereich begrenzten. Nichts steht mehr zwischen der im Inszenierungsfaltblatt beschworenen "lebendigen Kunstausstellung" und dem "Betrachter".

Lebendige Kunstausstellung

Fortan wird Handkes Idee vom Stück ohne gesprochenen Text konsequent umgesetzt. Ein paar Toneinspieler geben den Takt vor. Unter die Darsteller, die ganz heutige Bewohner und Besucher Stunde da wir1 280 Klaus Gigga x© Klaus Gigga Dresdens sein könnten, mischen sich fantasievoll Kostümierte, aus der Zeit gefallene Gestalten und sich in verblüffenden Bewegungsmustern artikulierende Figuren. Winnetou und Old Shatterhand reiten auf Steckenpferden, jemand durchmisst den Platz in Flick-Flacks, eine Frau verteilt überdimensionierte Pilze auf dem Pflaster. Scheinbar zufällig doch kunstvoll arrangiert begegnen sie sich immer wieder, übertreiben alltägliche Konfrontationen, suchen, finden einander, treiben Bekanntes ins Absurde. Eine Gruppe Musikerinnen macht sich bereit, ein Ständchen zu spielen, nur um nach vollendeter Vorbereitung den Ort des Geschehens auch schon wieder zu verlassen. Plötzlich verändern Töne die Atmosphäre, schneidender Wind und Schiffsglocken gaukeln einen Ort an der See vor, ein Boot fährt auf einem Trailer über den Platz. Wie einfach das ist, die Wahrnehmung eines Ortes zu verändern.

Bald erschallen historische Rundfunkmitschnitte, ein Hitlerverschnitt mit Blondi heischt um Aufmerksamkeit, während eine junge Frau daran scheitert, drei große Fahnen der AfD in den Griff zu bekommen – sie wird es niemals schaffen, sie zu entrollen.

Verweile doch, ich will dich ansehen

All das und so viel mehr geschieht immerfort gleichzeitig. Stück, Inszenierung und Protagonisten verweigern innehaltendes Betrachten. Gruselig, sich vorzustellen, dass moderne Überwachungstechnik solch einem Gewusel trotzdem habhaft werden könnte, wo die menscheneigene Fokussierung versagt.

Stunde da wir3 280 Klaus Gigga x © Klaus Gigga Regisseur Jäckle macht die Stunde als Zeiteinheit tatsächlich zum Programm. Rastlos fließen die Bilder ineinander. Viel zu selten verlangsamen die Darsteller ihr Treiben. Wobei, gerade wenn dies geschieht, wunderschöne Bilder entstehen. Zum Beispiel, wenn dutzende Fahrradfahrer erst den Platz umrunden um ihn dann so langsam tretend zu queren, dass man fürchten wollte, sie würden umkippen.

Intensive Blicke, die dem selbst entscheidenden Betrachter vorbehaltene Sicht auf ein Ausstellungsstück, bleiben ihm so leider meist versagt. Was aber gelingt, ist die Umwidmung eines Platzes, der in den letzten Monaten und Jahren allzu oft Proklamationsort zu einfacher Wahrheiten und populistischen Dünkels war. Bürger nehmen den Platz in Beschlag. Sie zeigen Bürgern, wie vielgestalt, wie fantasiereich eine komprimierte Stunde gemeinsamen Daseins in der Mitte einer Stadt sein kann. "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" kommt in Dresden da an, wo sie hingehört: in den öffentlichen Raum und macht Lust darauf, mehr voneinander zu erfahren.

 

Die Stunde da wir nichts voneinander wussten
von Peter Handke
Regie: Uli Jäckle, Kostüme: Elena Anatolevna, Dramaturgie: David Benjamin Brückel, Produktionsleitung: Christiane Lehmann.
Mit: Hilal Alwan, Jutta Angelow, Matthias Auerswald, Sylvia Backofen, Cornelia Barth, Torsten Behr, Irene Bender, Sarah Berger-Schütze, Käte Berneis, Jacqueline Böttcher, Greta Börke, Romy Buse, Isabela Castillo-Arias, Eva Daßinnies, Sebastian Degenhardt, Anja Dellner, Emilia Ebert, Kerstin Ehrlich, Maria Eichler, Katja Ertelt, Hamoud Eshtay, Mohammad Ezzouini, Nora Findeisen, Louis Förster, Laura Fritzsche, Gabriel Garbe, Carmen Gaunitz, Eva Gnauck, Veit Grasreiner, Anna Groschwitz, Lovis Groschwitz, Christina Günther, Kerstin Guse, Svenja Guse, Thorvald Guse, Alena von Havranek, Janek Heese, Marlies Heese, Jenny Henze, Claudia Hoegg, Simone Hoegg, Thomas Hoegg, Katrin Hoppe, Thomas Huhn, Hansruedi Humm, Lucie Hüter, Silvia Jentzsch, August Jubelt, Conny Jubelt, Franziska Jubelt, Johanna Jubelt, Ludwig Jubelt, Mathilda Jubelt, Evelyn Kahnwald, Sonja Kittlick, Luise Klama, Gudrun Kleinbeckes, Elias Kollbeck, Helga Kraft, Lilian Kupka, Sebastian Lachnitt, Heiko Lange, Mike Löpelt, Claudia Luschnat, Sabine Lüttich, Undine Materni, Jassem Mazal, Laura Salomé Menzel, Elisa-Mia Metzeroth, Verena Müller, Margit Neugebauer, Oliver Nicklisch, Jula Nowaczyk, Gabriele Oehme, Susanna Pervana, Frida Ponizil, Anna Porstendorfer, Philipp Rahn, Henriette Reichel, Lilli Reichel, René Roschig, Sophia Rößler, Yvonne Rothe, Britta Röwer, Katrin Schicker, Susanne Schrader, Alfred Schramm, Sabine Schrem, Tim Schubert, Steffi Schuh, Yasin Schulze, Walter Seltmann, Jasmin Sommer, Sabine Soyk, Jennifer Staudte, Ute Steinhäuser, Lena Stolte, Lilli Johanna Teichmann, Kathleen Tomaszewski, Lennard Tröndle, Kai-Uwe Ulrich, Marion Ullrich, Josef Villao Crespo, André Voigt, Lucy Voß, Luise Wauer, Eva Weinberger, Andreas Werner, Florian Wieczorek, Yves Zirke, Julia Zühlke sowie dem Ensemblemitglied Claudius von Stolzmann.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Eine Produktion der Bürgerbühne des Sächsischen Staatsschauspiel
www.staatsschauspiel-dresden.de

Kritikenrundschau

"So schlicht ist die Choreografie bisweilen, so alltäglich, dass alles möglich ist. Man fühlt sich wie in einem lebendigen Wimmelbuch, ständig ereignet sich etwas Neues, Amüsantes, Trauriges, völlig Alltägliches. Dann wieder entstehen Bilder von großer Poesie", schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (13.6.2017). Menschliche Begegnungen fänden statt im Rahmen dieser "Hommage an Dresden". "Indem das Staatsschauspiel Dresden der Alltäglichkeit an genau diesem Ort Raum gibt, gibt es dem Theaterplatz seine Würde zurück."

Michael Bartsch von der taz (14.6.2017) sah einen "fantasievollen Bilderbogen der Liebenswürdigkeiten". Charmanter und herzlicher könne man diesen Platz gar nicht umwidmen. "Endlich verbinden sich mit ihm wieder freundliche Assoziationen, plauderten die Premierengäste am Sonntagabend erleichtert."

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