Einmal Flüchtlingskrise mit allem

von Jan Fischer

Hannover, 14. Juni 2017. Womit beginnen? Mit den nüchternen Zahlen? Mit dem Meta-Diskurstheater? Mit dem bedrückenden Endbild? Mit dem Pinguin auf Rollschuhen? "Mare Nostrum", die mexikanisch-kolumbianische Koproduktion auf dem Festival Theaterformen, macht es einem nicht leicht.

"Dieses Stück ist asozial", sagt eine der Schauspieler*innen, Tata Castañeda, als es dem Ende zugeht. Vorher hat sie die Frage gestellt, wie viele Menschen wohl von dem Geld, das in die Inszenierung gesteckt wurde, übers Mittelmeer hätten flüchten können. Das ist vielleicht ein guter Punkt zu beginnen, ein kleiner, flüchtiger Moment, ein Moment zum Anfassen. Ein Moment der zeigt,  wie viel Idealismus und Wut in dieser Inszenierung steckt, wie viel Willen zu sagen: Nein, nicht mehr. "Die Menschen, um die es in dieser Inszenierung geht würden sie nicht wahrscheinlich nicht verstehen", ist noch so ein Satz.

Ein Sternenfeld voller Gewalt

Schon von Anfang an macht "Mare Nostrum" sich groß: Ein Sternenfeld wird groß projiziert. In einem See in Kenia, heißt es in riesigen Lettern darüber, habe man die Opfer des ersten Massakers der Menschheitsgeschichte gefunden, 10.000 Jahre seien die Knochen alt. Gewalt sei Teil unserer Menschlichkeit. Langsam schießt die Projektion sich von da aus auf Kolumbien ein, das Land läge, so wieder die Projektion, mit der Zahl Geflüchteter und Vertriebener weltweit an der zweiten Stelle – direkt hinter Syrien. Grund dafür ist eine – grob zusammengefasst – undurchsichtige Gemengelage aus linken und rechten Guerillatruppen, korrupter Regierung, gewaltsamer Landnahme, westlichem Kapitalismus und Nachwirkungen der Kolonialisierung. Das alles wird in Infoblöcken erklärt, die hin und wieder mit Text und Bild an eine der vier Leinwände auf der Bühne projiziert werden.

MareNostrum1 560 Moritz Kuestner uIm Netz aus Stacheldraht © Moritz Küstner

Allerdings möchte "Mare Nostrum" Kolumbien gerne verlassen, schon der Titel rekurriert, je nachdem, wie man es sehen möchte, entweder auf römischen Imperialismus oder auf die Marineoperation gleichen Namens, die 2013 und 2014 Geflüchtete im Mittelmeer aus Seenot rettete. Jedenfalls spielt er auf die politische Aneignung des Mittelmeeres an. Und so driftet die Inszenierung direkt in der ersten Szene in unbekannte, allgemeinere Gewässer: Während im Hintergrund Tata Castañeda und Marisol Álvarez "Somewhere over the rainbow" singen, beginnt Juan M. Madrigal die Inszenierung mit einer Variation von Moby Dick, in der, nachdem der Wal getötet wurde, eine Gruppe Schwarze aus seinem Bauch strömt.

Und wozu eigentlich Kunst?

Diese Geschichte wiederum driftet in die Frage ab, was Krieg und Gewalt generell eigentlich sollen, nur, um dann irgendwann zu Meta-Theater zu werden. Man macht sich Gedanken, welche Szenen überhaupt, gerade in Kolumbien, gezeigt werden können – offenbar kennt eine der Schauspielerinnen jemanden, der in der Netflix-Serie "Narcos" mitgespielt hat und danach einen bösen Anruf von einem Verwandten Pablo Escobars bekam. Mit der FARC-Guerilla sei ohnehin nicht zu spaßen. Und überhaupt: Wozu solle Kunst eigentlich gut sein, angesichts des menschlichen Elends?

Die Schauspieler*innen erzählen aus ihren Biographien: Juan konnte von seiner – schwarzen – Familie nicht versorgt werden und wurde in eine weiße adoptiert. Tata wohnte in einem Ort, in dem ein Bombenanschlag passierte, der die Menschen dort bis heute prägt. Álvarez verlor gleich zwei ihr wichtige Menschen an die FARC-Guerilla: Ihre Mutter wurde von ihnen erschossen, ihre damals beste Freundin kämpfte zu dem Zeitpunkt für die Bewegung.

Ein Pinguin auf Rollschuhen

Dazwischen wiederum gibt es Geschichten, wie die von den Fischen, die menschliche Augen bekommen, weil sie so viele Ertrunkene essen, und Bilder, wie den Pinguin in Ganzkörperkostüm, der auf Rollschuhen über die Bühne rollt und ratlos mit den Flügeln flappt. Und eben dieses Endbild, in dem die drei SchauspielerInnen nackt und wie tot an Haken zwischen alten T-Shirts hängen, blau angeleuchtet, während wieder "Somewhere over the Rainbow" eingespielt wird.

MareNostrum2 560 Moritz Kuestner uVon Fischen und Menschen © Moritz Küstner

Die Regisseurin Laura Uribe ist mittlerweile in Südamerika keine Unbekannte mehr – und ihre deutsche Erstaufführung feierte "Mare Nostrum" in den Münchner Kammerspielen. Die Vorstellung beim Festival Theaterformen zeigt warum: Während die Inszenierung stellenweise in langatmigen Meta-Diskurs ausartet und auch vor Flüchtlingskitsch à la Ai Wei Wei (es gibt eine Szene mit einem Foto von einem Schwimmwestenhaufen) nicht zurückschreckt, entschädigt sie gerne und reichlich mit großartigen Bildern.

Ein auf drei Leinwände projiziertes Meer, während sich die drei darüber unterhalten, wie letztes Jahr eine Frau angeschwemmt wurde, die dann auch noch gebar, die Geschichte mit den menschlichen Fischaugen, Moby Dick – alles das ist großartig skurril und gleichzeitig so bösartig und dunkel wie ein Meeresgraben. Und tatsächlich ist "Mare Nostrum" eine berührende, bedrückende, wütende, stellenweise unerträglich bittere Inszenierung über Flucht und Vertreibung in Kolumbien und weltweit. Allerdings auch eine, der ein bisschen weniger Meta-Diskurs durchaus gut getan hätte – denn oft wirkt es so, als wolle die Inszenierung sich damit für ihre eigene Durchschlagkraft entschuldigen. Und das hat sie eigentlich gar nicht nötig.

 

Mare Nostrum
von Teatro en Código
Regie: Laura Uribe, Bühne: Tenzing Ortega,  Kostüme: Ricardo Loyola Multimediadesign: Edmundo Herrera, Hector Cruz, Multimedia-Live-Performance: Hector Cruz, Sounddesign: Edmundo Herrera, Anna Cristina Portillo, Live-Musik: Tata Castañeda.
Mit: Marisol Álvarez, Tata Castañeda, Juan M. Madrigal , Karla Garrido.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theaterformen.de

 

Kritikenrundschau

Mit Filmen, Musik, Tanz und Reden versucht die Regisseurin zwei Stunden lang gegen Krieg, Gewalt und Unterdrückung anzugehen, schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (15.6.2017). Das Spiel der drei Akteure sei irgendwo zwischen Predigt und Künstlermonolog angesiedelt. Packend ist die pubertäre Anklage meist nicht." Nur an einer Stelle werde es bitter ernst, "da berichten die die Schauspieler von ihrer Angst, eine Szene über die politische Situation in Kolumbien zu spielen."

Immens viel Material sei versammelt, so Michael Laages auf Dradio (15.6.2017). Aber ob nun Kunst behauptet werden soll oder eine Daten-Dokumentation, wäre kaum zu sagen. Vom eigenen schlechten Gewissen sei dagegen viel die Rede.

Ganz große Bilder, unterstützt von (Video-)Bild und Ton, so Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (15.6.2017). "Maximale Distanz und unbedingte Nähe", das ergebe einen Frontalangriff auf die Sinne und auch auf die Zuschauer. 

Es gehe überwältigend zu, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung  (16.6.2017). "Zu Actionfilmmusik und Videoclips werden Fakten zu globalen Fluchtbewegungen eingeblendet. Dazu geben die Schauspieler dekadente Reiche, die nach mehr Kaviar verlangen. Das ist so wenig subtil wie neu." Stark werde Laura Uribes Inszenierung dort, wo sie konkrete Geschichten erzähle.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      

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