Klippschule der Revoluzzer

von Harald Raab

Mannheim, 20. Juni 2017. "Ihr habt wirklich nichts verstanden", stöhnt gegen Schluss der Aufführung Anja Dargatz. Im richtigen Leben ist sie Landesvertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien. Bei den Schillertagen am Mannheimer Nationaltheater tritt sie in "Demetrius (Exporting Freedom)" als mitwirkende Politikberaterin und gestrenge Seminarleiterin auf. Und sie hat wahrscheinlich recht: Denn es wird dem Publikum bei dieser mit der Mannheimer Bürgerbühne erarbeiteten Adaption des schillerschen Demetrius-Fragments nicht leicht gemacht.

Da ist zunächst die sinistre russische Mord-und-Totschlags-Geschichte um Zar Boris Gudonow und den scheiternden Möchtegern-Zarewitsch Demetrius. Durch Betrug will letzterer an die Macht kommen – mit der oberfaulen, sattsam bekannten Begründung, es geschehe alles nur zum Wohl des Volkes. Am Ende ist er selbst nur die manipulierte Schachfigur im perfiden Spiel polnischer Eliten um Macht und Besitz im russischen Reich.

Schachspiel nach den Regeln einer höheren Macht

Schillers pathetisch-melodramatische Dialoge gegengeschnitten mit dem Kriegs- und Polit-Chaos unserer Tage: Das hätte eigentlich schon gereicht. Tobias Rausch und Aljoscha Begrich geben ihrem Projekt aber noch eine Reflexionsebene bei über Sinn und Unmöglichkeit, Revolutionen mit der lodernden Fackel der Freiheit in von Diktatoren regierte Länder zu tragen. Die Uraufführungsbesucherinnen und -besucher bekamen also einiges um die Ohren gehauen.

Demetrius 560 lys y seng uBaris Tangobay, Matthis Thömmes, Julius Forster, Carmen Witt © Lys Y. Seng

Gespielt wird auf einem schräggestellten und dazu noch nach oben geklappten Schachbrettmuster. Das soll uns wohl sagen, dass hier eine höhere Macht die Züge plant und ausführt. Obendrein lassen sich die Quadrate des Bodens einzeln aufklappen. Wie bei einem Adventskalender sind darunter Überraschungen verborgen. Die Figuren tragen Barockperücken. Jede ist auf eine Farbe in Hose und T-Shirt abonniert: Grün, Blau, Orange und Gelb aus der Kollektion diverser Revolutionen. Im gestenreichen Stil einer Moritat wird agiert und gesprochen. Alles immer einen Tick zu viel, an der und über die Grenze der Persiflage hinaus gehend.

Was heißt Freiheit?

Wenn der Schillertext endet und die Seminarstunde mit Frau Oberlehrerin Dargatz beginnt, ist nur noch Klamotte angesagt. Motto: Wie sich die Klippschüler eines Revolutionskurses einen Umsturz vorstellen. Der olle Schiller ist dagegen ein Stümper. Er hatte nur Menschenschicksale und ihr Schuldigwerden in der Tragödie des Lebens im Kopf. Er wusste nichts von Thinktanks, Spindoctors, Revolutionsmarketing, Logos und Slogans und all den Strategien, die heute zum Gelingen eines Umsturzes unerlässlich sind. Die vorgetragenen gruppendynamischen Erörterungen sind Soziopolit-Sprech aus der Klischee-Lamento-Schublade. Beispiel: "Freiheit. Sind wir frei? Hier in Deutschland? Ich glaube das nicht. Freiheit heißt nicht, einen Mercedes fahren zu können." Wahrlich eine fundamentale Erkenntnis. In dieser Preisklasse ist noch mehr an naivem Weltjammer geboten. Man glaubt nahe am Volk zu sein und drischt doch nur leeres Stroh.

Tobias Rausch, ein Meister des Recherche-Theaters, ist in die Sackgasse des scheinbar Authentischen geraten. Wer auf ästhetische Verdichtung pfeift, landet im Flachwasser des Beliebigen. Es gilt das Tucholsky-Wort: "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint." Goethe wollte auch einmal den Demetrius seines Männerfreundes Schiller ergänzen. Was dabei wohl herausgekommen wäre? In Mannheim kriegte man die Kurve immerhin noch mit einem Schiller-Gedicht, brav aufgesagt im Schluss-Chor: "Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden, / Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort? / Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden, / Und das neue öffnet sich mit Mord …"

Demetrius (Exporting Freedom)
von Aljoscha Begrich und Tobias Rausch nach Friedrich Schiller
Regie: Tobias Rausch, Ausstattung: Steffi Wurster, Musik: Florian Huth, Licht: Björn Klaassen, Dramaturgie: Silke zum Eschenhoff, Recherche: Tobias Kluge.
Mit: Julius Forster Baris Tangobay, Matthias Thömmes, Carmen Witt, Anja Dargatz und Bürgerinnen und Bürgern aus Mannheim und der Region.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 
Kritikenrundschau

"Einen der eindringlichsten Momente" der Inszenierung fand Martin Vögele vom Mannheimer Morgen (22.6.2017) das "Präludium in den Katakomben des Mannheimer Werkhauses", in der eine Bürgerbühnen-Spielerin namens Serap von den Istanbuler Gezi-Protesten berichtete: "Freiheit ist wie ein Virus." Vögele zufolge stelle die Eigenproduktion der Schillertage die Frage, ob Schillers "schöne Freiheit" auch heute eine "ansteckende Kraft" entfalten könne und sich verpflanzen lasse. Gibt der Theaterabend eine Antwort? Martin Vögele erachtet ihn als "etwas zu ambitioniert" und dennoch sehens- wie bedenkenswert.

Flott und interessant findet Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (22.6.2017) "das hochpolitische Projekt" von Rausch und Begrich, das Schillers 1857 in Weimar uraufgeführtes Dramenfragment zusammenspannt mit heutigen "Veränderungsbestrebungen" angesichts der "Machtkonzentrationen überall auf der Welt". Die "Schiller-Story" um Zar Dimitri werde in der ersten Stunde von Schauspielern und Laien "so kompakt wie pointiert" dargestellt. In der zweiten Stunde würden "Workshop-artig in freiem Assoziieren Strategien gegen die Tyrannen durchgehechelt" – aber "wirkliche Freiheit" oder "eine allgemeingültige Glücksstrategie" könne es wohl nicht geben, so Vogt. "Starker Applaus."

Tobias Rausch habe Schillers "Demetrius"-Fragment "weitergeschrieben in die Gegenwart" und lasse "Flüchtlinge und Augenzeugen zu Wort kommen, aus Syrien, der Ukraine, der Türkei." Was aber, fragt Christian Gampert auf Deutschlandfunk (Zugriff 25.6.2016), bedeute "diese Erfahrung dann für den 'Demetrius'-Text, der im Anschluss von vier Schauspielern höchst konventionell daherdeklamiert wird?" Seine Antwort lautet: "offenbar gar nichts". Rausch fühle "sich nach einer vollen Stunde Schiller bemüßigt, uns von einem Politikberater verschiedene Revolutionsmodelle erklären zu lassen. Das ist rührend pädagogisch und hilflos."

 

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