Presseschau vom 22. Juni 2017 – Die Medien kommentieren die Berufung von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg nach Zürich
Positive Erwartungshaltung
Positive Erwartungshaltung
22. Juni 2017. Die Medien kommentieren die Berufung von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg nach Zürich.
Ihre "Idee eines Regiekollektivs" umzusetzen, dazu seien Stemann und von Blomberg von der Findungskommission einstimmig berufen worden, schreibt Alexandra Kedves im Zürcher Tages-Anzeiger. "Am Schauspielhaus solle auf diese Weise ein Ort entstehen, an dem der Theaterprozess als eine im Kern partizipative und soziale Kunstform wieder erlebbar sei und die Gesellschaft widerspiegle", fasst sie Stemanns Vision zusammen. Sowohl für eine Doppelspitze und auch die Verjüngung der Leitung gäbe es in der Schweiz positive Beispiele, so Kedves: "Eine positive Erwartungshaltung ist also durchaus angesagt."
"Zürich leistet sich Aufbruch", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (21.6.2017). "Die Revolte wandert in den Taschen der beiden aus München mit ein – es ist das Denk- und Produktionsmodell Lilienthal an den Münchner Kammerspielen: Internationalität ist ein Stichwort, Koproduktionen ein anderes. Ein Stadttheater im Spannungsfeld zwischen Performance, Experiment und Pflege des Ensembles."
"Diese Orientierung an politischen und sozialen Konflikten und freien performativen Erzählformen birgt natürlich die Gefahr, das angestammte, in Zürich durchaus 'älter' zu nennende Theaterpublikum zu verprellen", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung. "Der Neuanfang, den das Duo Stemann und von Blomberg vorschlägt, könnte stattdessen ein junges urbanes Publikum locken, das sich aber primär digital vernetzt erlebt und vom Theater als relevanter Kunstform erst noch überzeugt werden will."
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommentiert Simon Strauß: Stemann verkörpere "alles, was das Theater im Moment nicht brauchen kann, was es sogar gefährdet und klein macht: Selbstgefälligkeit, Hochmut und einen ungezähmten Zynismus". Unter Theatermachen verstehe er vor allem "spaßbürgerliche Dekonstruktion": "Statt Distanz auszuhalten, das Theater als eine Gegenwirklichkeit zu begreifen, entwickelte er eine Technik der vulgärrealistischen Vereinfachung, immer abgefedert durch einen ironischen Blick, nie zu verunsichern von Textinhalten und ihren tieferen Bedeutungen." Strauß’ Fazit: "Unter dem wehenden Banner der Identitätspolitik stehen einem im Moment offenbar alle Türen offen." Außerdem wirft er Stemann, der im Februar dieses Jahres zum Leiter des Studiengangs Regie an der Zürcher Hochschule der Künste ernannt wurde, Ämterhäufung vor. Diesen Vorwurf weist Peter Haerle, Präsident der Findungskommission und Kulturdirektor der Stadt Zürich, in einer E-Mail an die Redaktion der FAZ, die nachtkritik.de vorliegt, zurück. Haerle bittet die FAZ ferner um eine Richtigstellung. Stemann habe in der Medienkonferenz klar mitgeteilt, dass er die Professur an der ZHdK auf den Beginn der Intendanz abgebe.
"Die Entscheidung für Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg ist eine sehr gute, eine mutige Wahl", findet ebc auf Spiegel Online. "In Zeiten, in denen sogar der einst als Erneuerer gefeierte und drei Jahre später nach einigen Querelen zum Rückzug bewegte Regisseur Christoph Marthaler nach 13 Jahren Bann wieder für eine Produktion als Gast am Haus willkommen geheißen wird, könnte sich das konservative Schauspielhaus Zürich von alten Theaterzöpfen verabschieden wollen."Möglich sei aber auch, dass Zürich an den zukünftigen Arbeiten des frisch gekürten Theater-Powerduos mindestens so zu knabbern hat wie München an Werken des Intendanten der dortigen Kammerspiele, Matthias Lilienthal.
(geka / eph)
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(Werte*r 23: Richtiger Einwand, und ich kann sagen: Ist in Mache! Allein, es sind der Hände zwei nur, der Artikel viele... Bitte später nochmal nachsehen! eph)
Liebe Kommetator*innen,
diese Presseschau wurde nach der Veröffentlichung dieses Kommentars aktualisiert. Der Vorwurf der Ämterhäufung scheint nicht berechtigt. Peter Haerle, Präsident der Findungskommission und Kulturdirektor der Stadt Zürich, hat in einer E-Mail an die Redaktion der FAZ, die nachtkritik.de vorliegt, um eine Richtigstellung gebeten. Stemann habe in der Medienkonferenz klar mitgeteilt, dass er die Professur an der ZHdK auf den Beginn der Intendanz abgebe.
Viele Grüße
miwo/Redaktion
Darauf folgt dann eine autoritäre und apodiktische Abwertung der Arbeit Stemanns, die in der raunenden Bemerkung gipfelt, dass nicht allein künstlerische Gründe, sondern vor allem auch das "Banner der Identitätspolitik" zur Berufung beigetragen hätten.
Ich finde das sehr unangenehm im Ton und in der Einschätzung. Wie schon in seiner extremen Kritik des Dresdner "Othello" zeigt Strauß sich als ein Erbe Stadelmaiers; nämlich in einer dem intelligenten Feuilleton unangemessenen Haltung, die ganz genau weiß, wo es lang zu gehen hat und alles mit Verächtlichkeit straft, das sich in eine andere Richtung begibt.
Man hätte ja ohne weiteres und aus der eigenen Warte Risiken ebenso wie Chancen der neuen Intendanz beschreiben können. Das wäre imho angemessen und guter journalistischer Stil. Stattdessen weiß man schon jetzt, wo und wie und warum es ab 2019 schief gehen wird.
So sad.
Covfeve.
Es ist wirklich zu befürchten, daß auf diese Art und Weise der Geldhahn langfristig zugedreht wird.
Ist sich Kulturreferent Küppers in München bewusst, daß er der "Totengräber" eines der berühmtesten Sprechtheater ist.
Stemann und Blomberg weg aus München ist wunderbar nur: wer wird folgen ?
Kro
Das sind keine wirklich guten Argumente, die ihr da anbringt. Schon Brecht beschrieb in "Neue Technik der Schauspielkunst", dass sich Theaterschaffende nicht in einen Abhängigkeit gegenüber dem Publikum begeben sollen und er beklagte die "Lieferantenstellung" die man gegenüber dem Publikum einnehme bei den meisten Theater. Neue Zeiten erfordern neue Techniken, und wir leben - wer würde das bezweifeln - in "neuen Zeiten" - es ist absolut nachvollziehbar, dass man jenes Publikum ins Auge fasst, das nachrücken wird, d.h. die jungen Menschen und die Neuzugezogenen. Dass da viele der (leider nicht mehr neugierigen) älteren ZuschauerInnen ausbleiben, ist nicht zu vermeiden - und spricht nicht gegen die Macher dieser Theater. Im Gegenteil. Wenn man die "Kammerspiele" kritisieren will, dann muss man andere Argumente anbringen. Aber die Argumente, die ihr da anbringt, kommen aus der Mottenkiste des Ressentiments und fallen auf euch zurück.
Ziel von Theater oder Kunst im Allgemeinen kann hier doch nicht das richten nach einer (ich würde sagen: imaginierten) Jugend sein, weil da angeblich die Zukunft liegt? Das ist mir ein etwas zu unvorsichtiger Umgang mit dem was Zukunft sein kann und Kunst sein muss.
auch an den 17jährigen: "Neinnein, es stimmt zwar, aber es stimmt auch nicht, glaub das – aber glaub es auch nicht – Jede Geschichte hat einen Anfang und eine Mitte und ein Ende. Der Anfang der Geschichte ist ihr Beginn, der Beginn des Erzählens. Und die Mitte ist das, worum sie kreist, gleich, ob die Mitte der Geschichte überhaupt Erwähnung findet oder ob sie durch die ganze Erzählung hindurch beschwiegen wird. Und das Ende der Geschichte ist einfach das Ende des Erzählens, ihr Ausatmen. Das kann in einem Decrescendo erfolgen oder in einem schwächer werdenden, stoßartigen Nachsetzen, Wort für Wort, bis die Luft der Erzählung wegbleibt. Es kann ein wütend erschöpftes Schlusswort sein, oder ein Hauch, der das Anschwellen eines neuen Atemholens, für das dieser Jetzt-Moment der Aufmerksamkeit nicht mehr ausreichen wird, erahnen lässt. Das Geschichtenerzählen ist ein Meer. Es fängt überall in jedem Moment an und hört gleichzeitig in jedem Moment überall auf. Und wenn du das Gefühl hast, jetzt eine Geschichte gehört und begriffen zu haben, ist das der Moment von Meer, der dir gehört, dir ganz allein - "
#20 Jedem Theater ist zu gönnen, wenn es gut besucht ist. Trotzdem müssen wir uns sehr stark darin üben, dem potentiell wütenden 17jährigen (wie auch dem dem potentiell wütenden Bauer mit der Mitgabel) erklären zu können, warum das experimentelle Stück über - sagen wir mal - "Robotik und Superintelligenz" wichtiger ist für die Entwicklung der darstellenden Künste und die Entwicklung der Zuschaukunst als der nette Schwank von XY, der potentiell gut besucht wäre ( wie dutzendmal bewiesen). Und das gälte eben erst recht, wenn dieses Projekt und Robotik und Superintelligenz leider NICHT gut besucht wäre. Natürlich übertreibe ich jetzt absichtlich mit dieser Zuspitzung. Aber unsere Stadttheater sind vieles, aber ganz sicher keine Aufwärm-Stationen dramatischer Konzepte, die sich als publikumstauglich erwiesen haben. Diese Theater müssen dauernd ausprobieren, scheitern dürfen, und müssen Neues wagen. Zudem: dass man auch mit neuen Formen viel ZuschauerInnen erzeugt, beweisen ja viele dieser an diesen Häusnern arbeitenden KünstlerInnen Tag für Tag. Was mich aber sehr irritiert an der Argumentation von ihnen und Kollege #18, ist also nicht die sicher aufrechte Liebe zum "Storytelling" und "guten Situationen" sondern diese Gedankenbilder zorniger SteuerzahlerInnen, die ein nicht so quotenreiches Stadttheater in Frage stellen könnten und denen man nicht mehr erklären könnte, warum so ein experimentelles Theater keine "Quote" macht und trotzdem nötig ist. Doch, das müssen wir können. Wenn wir das nicht mehr könnten, ja erst dann hätten wir diese Zuschüsse vielleicht nicht mehr verdient.
Die Skepsis gegenüber aller Narration ist verständlich: Geschichten sind immer auch Konstruktionen, und in der Welt von heute sind die Gefahren der Vereinfachung und der ideologischen Manipulation gewaltig. Verständlich, aber nicht akzeptabel. Die Skepsis entstammt dem postmodernen Denken, das in seinen ursprünglich linken Intentionen Machtstrukturen dekonstruieren und das Subjekt von eingeengten, semantisch benennbaren Determinationen befreien wollte. Es brachte eine unbezweifelbare Erweiterung des Kunstbegriffes und damit der Wahlmöglichkeiten des Künstlers; aber das hatte in einer ersten Etappe die Moderne auch schon getan. Dafür ist er, der Künstler, nun eingesperrt in die Käfige der performativen Selbstreferenz, die an die Stelle mimetischer Referenzen getreten ist. Die Postmoderne kennt keinen Fortschrittsbegriff mehr, keine zielgerichtete Utopie oder Programmatik, keinerlei "Geschichtsgläubigkeit" will sie zulassen.
Stegemann schrieb über postdramatisches Theater: "Der Text wird zu einem Bestandteil unter anderen, seine Dramaturgie strukturiert weder die Theaterereignisse, noch wird darin eine Geschichte erzählt." Meine Überzeugung ist: Es sollten Geschichten erzählt werden! Mag man sie von hinten nach vorn erzählen wie Volker Braun in seinem "Guevara", man mag sie meinetwegen fragmentieren, man mag mehrere Geschichten verfremdend aneinanderkoppeln wie Brecht im "Kreidekreis", man mag sie beim Erzählen kommentieren oder sie durch epische Gegentexte, die wieder Geschichten sind, unterbrechen (wie es Heiner Müller in "Zement" oder im "Auftrag" tut) oder man mag sie durch Präsentation von Dokumenten erzählen; oder sei es nur, daß die Anwesenheit der Geschichten in Texten wie zum Beispiel "Herakles 2 oder Die Hydra" (in Müllers "Zement") immerhin spür- und erlebbar wie auch strukturell nachweisbar bleibt, indem auf sie gedeutet wird als ein durchscheinendes Ganzes. Jedenfalls: So lange es ein Bewußtsein vom Gestern und ein Arbeiten am vorgestellten Morgen gibt – nicht zu verwechseln mit der Chimäre eines "Ziels der Geschichte" ! – müssen Geschichten erzählt, und das heißt auf dem Theater: gespielt werden. Geschichte, Historie manifestiert sich in von Menschen erlebten und bewirkten Geschichten. Denn jede erzählte Geschichte, aus Vergangenem in Gegenwärtiges führend , enthält auch die Möglichkeit des Anderen - des anderen Verlaufs - und wird so zu einem möglichen Ort von Utopie. Geschichtsbewußtsein und Geschichten erzählen sind untrennbar. Und: Die großen Mythen der Menschheit sind erzählte Geschichten und nur als solche existent. "Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.“ (Hans Blumenberg).
Das zeigt jede Publikumsdiskussion und auch auch die Besucherzahlen gerade konventionellerer Aufführungen.
(Schaubühne Berlin z.b)
Das junge Publikum( die Ausnahme bestätigt natürlich die Regel)
will mehrheitlich Narative, will Geschichten, Identifikation, Emotion.
Ob sie damit den rechten Geschmack beweisen sei dahingestellt, nur sollte die Behauptung, die Inovation, das Neue im Theater, würde von der Jugend gefordert und gewollt, nicht dauernd wiederholt werden.
Die innovativsten, wildesten Regisseure sind doch wie Castorf und Fritsch kurz vor der Rente, oder im Falle von Stemann und Blomberg (ebenso wie Herr Schwarz) zumindest im mittleren Alter.
Oder ist 50 das neue 25?
Manchmal will 'die Jugend' eben genau das Gegenteil von den Eltern, auch wenn selbige sich sehr jung fühlen.
Weil die beinahe gleichaltrigen jungen Menschen von dieser Arbeit nämlich auch keine bessere Berufsperspektive, keine liebevollere Beziehung und keine gerechtere Verteilung der ökonomischen Ressourcen in dem Staat dessen Bürger auch sie sind, bekommen.
Ich weiß nicht, wer Ihnen beim Proben den Tee oder Kaffee kocht, aber wenns keiner tut, könnte es daran liegen, das Castorf, Ostermeier und andere wissen, dass bei allem was sie tun ihr Theater keine Verhältnisse revolutioniert und auch aus Zuschauern keine Revolutionäre macht. Und dieses durchaus belasten könnende Wissen aushalten. (Vielleicht ist das ja Blasen- und Nierentee den die serviert bekommen, weil ihnen diese ihre Wahrheit so an die Nieren geht und ihnen nähere Menschen das ahnen oder wissen?)
Sie scheinen das hingegen noch nicht zu wissen.
Herzlichen Glückwunsch.
Ich staune über ihre Gewissheit auf der 'richtigen Seite' der 'Erneuerung' zu stehen und zu wissen, dass die'Jungen Menschen' welche die Welt verändern wollen, das nun genau in Ihrem Sinne tun werden.
Vielleicht haben die beim Teekochen ja auch eine unbändige Lust nach Kerlen und Weibern und guten Texten gekriegt!
Vielleicht haben die genausowenig Lust sich den Ideen und Vorstellungen der Generation um die 50 zu beugen, wie Sie es seinerzeit hatten und wollen ums verrecken wieder Narative.
Wer weiss.
Ich bin mir bei gegenwärtigen Weltituation, welche sich von den Postmodernen Neunzigern und Nullerjahre doch gewaltig unterscheidet, ganz und gar unsicher wohin die Reise geht und auch wohin sie gehen SOLL!!!
Für ZÜRICH würde ich mir jedenfalls eine klarere und mutigere Beschäftigung mit der Schweiz und vor allem mit den Schweizern wünschen.
Dann kommen dieselbigen auch schauen.