Ende mit Schrecken

von Wolfgang Behrens

27. Juni 2017. Und es wird sein Heulen und Zähneklappern, und die Volksbühne wird nicht mehr sein, das Berliner Ensemble wird nicht mehr sein, und ihr werdet abseits sitzen vom Tische der Kunst und hinausgeworfen sein in die äußerste Finsternis. Und ihr werdet euch mit Wildfremden in den Armen liegen, tanzen und feiern bis tief in die Nacht und Lebewohl sagen. Ich aber werde nicht dabei sein. Ich werde zu Hause sitzen und Castorf und Dercon, Peymann und Reese gute Männer sein lassen, denn ich weiß, wie es ist, von einem Theater Abschied zu nehmen. Es ist schrecklich.

kolumne 2p behrensDabei war es beim ersten Mal gar nicht so schlimm, damals 1990, als ich noch ein Zuschauer war und die Intendanz von Günther Rühle in Frankfurt endete. Denn am gleichen Tag wurde Deutschland Fußballweltmeister, weswegen ich mir den Rühle-Abschied gleich einmal geschenkt habe.

Drei Jahre später bin ich dann doch hingegangen und saß am 2. Oktober 1993 in der letzten Vorstellung des Berliner Schillertheaters, das der Senat sich zu schließen nicht entblödet hatte. Auch damals gab's vorher einen richtigen Theaterkampf, es gab zum Beispiel eine Lange Nacht des Schillertheaters, in der Claus Peymann eine Resolution verlas, die besagte, dass sämtliche Gastspiele in Berlin – Theatertreffen inklusive – von sämtlichen Theatern im deutschsprachigen Raum abgesagt würden, bis der Senatsbeschluss zurückgenommen werde. (Der Boykott hielt ein abgesagtes Pina-Bausch-Gastspiel lang. Das Schillertheater aber wurde nie wiedereröffnet.)

Die dümmste Aufführung

Und nun also jener 2. Oktober: Hochstimmung im Parkett, ein zwar trauriges, aber historisches Ereignis. Und man war dabei! Das Schillertheater demonstrierte seine künstlerische Potenz, indem es nicht etwa mit einer Derniere, sondern mit einer Premiere schloss – man gab "Weißalles und Dickedumm" von Coline Serreau in der Regie von Benno Besson mit Katharina Thalbach, Michael Maertens, Walter Schmidinger und und und. Und dann war da ein Heulen und Zähneklappern, denn es war die wohl dümmste Aufführung, die das Schillertheater je gesehen hat (pardon, Meister Besson!). Trotzdem jubelten die Zuschauer*innen am Ende, als hätten Fritz Kortner und Bernhard Minetti gerade gemeinsam mit Samuel Beckett "Warten auf Godot" gejammt.

Alles Weitere habe ich vergessen. Ich habe wohl betroffen auf den Boden gestarrt. Nach der Premiere muss es auch noch eine rauschende Fete gegeben haben, und ein Freund erzählte kürzlich, Schmidinger habe noch prachtvolle Tiraden vernehmen lassen – alles weg! Es bleibt nur die Erinnerung an einen völlig vergeigten Abschied.

So etwas möchte ich nicht noch einmal erleben. Weswegen ich diesmal die letzten Tage schwänzen werde und mich an einige "Zum letzten Mal"-Vorstellungen gehalten habe. Peymann ist ja ein Meister des "Zum letzten Mal": Schon in Wien wurden die Programm-Leporellos gerne von der Bemerkung "zum letzten Mal" geziert, worauf kurze Zeit später dieselbe Inszenierung "zum allerletzten Mal" und schließlich "zum unwiderruflich allerletzten Mal" lief. Und so weiter ad infinitum. Die Volksbühne wiederum vollbrachte das Kunststück, die allerletzte Vorstellung etwa der (S)panischen Fliege von Herbert Fritsch in Siegen zu veranstalten, und damit's nicht gar zu sentimental wird, ist ein Teil des Ensembles am 1. Juli – am letzten Tag der Castorf'schen Volksbühne – mit Marthaler auf Reisen in Montpellier. Und Castorf selbst fährt ja auch noch nach Avignon und will vielleicht sogar das Wahrzeichen der Volksbühne, das "Räuberrad", dorthin mitnehmen.

Faust in die Höhe

Wie dem auch sei: Heulen und Zähneklappern war auch bei den vielen Dernieren. Ich hingegen habe den Parcours erhobenen Hauptes absolviert, habe noch einmal lange das "OST" auf dem Bühnenturm der Volksbühne angestarrt, habe noch einmal Claus Peymann beim Signieren seiner Bücher über die Schulter geschaut, habe noch einmal den himmlischen Marthaler-Schauspieler*innen bei ihrem weltvergessenen Gesang gelauscht. Und habe mannhaft nicht geheult.

Oder nur ein ganz klein bisschen. Aber das war nicht ich. Das war Milan Peschel (ein Schauspieler übrigens, den ich einmal übel geschmäht habe – er möge mir verzeihen). Beim definitiv und unwiderruflich letzten Applaus für René Polleschs Dark Star in der Volksbühne machte Peschel um zwei Uhr in der Nacht im nicht enden könnenden Schlussjubel plötzlich breit grinsend, mit leuchtend hervortretenden Augen, einen Halbmetersatz in die Luft und ließ eine Faust in die Höhe schnellen. Er sah einfach nur glücklich aus. Da verlor ich dann doch kurz die Kontrolle über meine Gesichtszüge, und Milan Peschel vergoss ein paar Tränen in mir, der ich gelassen, kalt und heiter war. Auf dem Heimweg murmelte ich die Worte: "Peschel ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns."

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.

 

Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens über gewichtige Publikationen des Genres "Intendanzrückblick".

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