Die poetische Dimension der Zeit

von Dorothea Marcus

Recklinghausen, 3. Mai 2007. Schon in der Schule haben wir gelernt, dass die Mathematik die Mutter der Kunst sei. Wie eine Schulstunde eröffnet Regisseur Simon McBurney auch die ehrwürdigen Ruhrfestspiele Recklinghausen:

In einem sterilen und grau glänzenden Klassenzimmer zeichnet Ruth (Saskia Reeves) in grüner Strickjacke wie besessen mathematische Sequenzen an die Tafel, die in Unendlichkeit münden. Beobachtet wird sie von Alex (Simon McBurney), den nur eine einzige Nummer interessiert: nämlich ihre. Und von uns: "Sie fragen sich wohl gerade, ob das wirklich die Vorstellung sein soll?", fragt er ins Publikum und zeigt, dass in Ruths Theaterbrille das Glas fehlt. Es ist ein Markenzeichen des seit 1983 bestehenden Théâtre de Complicité, dass es stets die Bedingungen seines berühmten Illusionstheaters offen legt, die gleichzeitig berückend einfach sind: wenige Schauspieler, statt Bühnenbild Videoeinspielungen und Lichteffekte – und hier hinter der sich wegdrehenden Schultafel ein paar Stühle, die Busse oder Flugzeuge andeuten. Es ist die Art, wie Zeit- und Erzählebenen ineinander übergehen und die Schauspieler umstandslos von einer Szene in eine andere gehen, die den Eindruck filmischer Komplexität erweckt.

Etwas Globalisierungskritik muss sein

In "A Disappearing Number oder: Der Mann, der die Unendlichkeit kannte", das in Recklinghausen uraufgeführt wurde, sind es zwei Geschichten, die sich auf der Bühne durch kriminologische Indizien nach und nach enthüllen: Alex verfällt der Mathematikdozentin Ruth, heiratet sie, sie wird schwanger und erleidet eine Fehlgeburt, dann reist sie nach Indien, um dem Mathematiker Ramanujan nachzuspüren, bricht im Zug zusammen, während eine glutrote Videosonne und ein indischer Abendhimmel an ihr vorbeirasen – und stirbt an Hirnblutungen.

Erzählt wird das in szenischen Rück- und Überblendungen aus der Sicht des trauernden Alex, der ein letztes Mal in den Hörsaal geht, um die mathematischen Muster seiner Frau zu bewundern und dabei von der Putzfrau eingeschlossen und von der T-Mobile-Mitarbeiterin eines Call Centers in Indien getröstet wird. Das Call-Center wird am Ende geschlossen, der Ökonomisierungsdruck macht auch vor bereits outgesourcten indischen Mitarbeitern nicht halt, soviel Globalisierungskritik muss sein.

Parallel dazu wird das Leben des echten Ramanujan vorgestellt, des "romantischsten Mathematikers" aller Zeiten, der, 1887 geboren als einfacher Buchhalter in Indien ohne akademische Ausbildung mathematische Geniestreiche entwickelte. Als der britische Mathematiker Godfrey Hardy den streng vegetarisch lebenden Brahmanen nach England holte, litt er an Einsamkeit und Kälte, arbeitete oft 30 Stunden am Stück, um, wieder zurück in der Heimat, mit nur 33 Jahren an Tuberkulose zu sterben. Alles hängt mit allem zusammen, stets verwandelt sich die Bühne vom Hörsaal in indische Straßenzüge in Hotelzimmer und zurück.

Unfassbare, tröstliche Unendlichkeit

Es ist wie immer atemberaubend, wie die Fragmente der Geschichten bei Simon McBurney nach und nach ein Ganzes bilden, Zeiten und Erinnerungsebenen verschmelzen, mit einfachen Mitteln – für das Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges braucht man nur viel beleuchteten Rauch und schreitende Krankenschwestern – atmosphärische Theaterbilder entstehen. Und gleichzeitig geht es um philosophische Weltfragen: Es gibt wohl niemanden, der so wie McBurney mit der abstrakten und poetischen Dimension der Zeit arbeitet, die sich in der Hörsaal-Nacht endlos ausdehnt, in einem Szenenwechsel 100 Jahre überspringt oder verwirrend gleichzeitig abläuft. Letztlich sind Alex’ Frau und Ramanujan nichts weiter als "disappearing numbers" und gleichzeitig eine Metapher dafür, wie sich alles in einer auch mathematisch unfassbaren, aber irgendwie tröstlichen Unendlichkeit wiederholt.

Allerdings wird auf der Bühne fast zu angestrengt alles unternommen, um Schönheit und Faszination der Mathematik zu beweisen, ohne auch nur ein einziges mathematisches Theorem nachvollziehbar zu erklären: lieber drehen sich Zahlen in Himmelsgewölben, fallen in Kaskaden fließend von den Wänden, werden Tafeln mit mathematischen Mustertapeten bedeckt. "Ein Mathematiker ist wie ein Dichter, er macht Muster aus Ideen", sagt Ruth einmal. Auf der Bühne aber sieht man Mathematisches nur als Dekoration.

Kunst gegen Kohle

Man könnte der wohl berühmtesten Theatergruppe Englands, die mit "A disappearing number" bald auf Siegeszug durch die Welt gehen wird, also vorwerfen, dass ihre Zutaten zum Spannungsaufbau wie aus einem Drehbuchseminar gestrickt sind und leicht konsumierbar auf ein globalisiertes Festivalpublikum zugeschnitten werden. Andererseits hätte die Produktion ohne die Ruhrfestspiele gar nicht entstehen können, wie Simon McBurney beim anschließend feudalen Gewerkschaftsempfang des wohl ältesten Theaterfestivals Deutschlands sagte, das nach einigen Krisen im letzten Jahr die erfolgreichste Ausgabe seiner Geschichte meldete. Da erhält das 60-jährige Motto "Kunst gegen Kohle" wieder eine ganz frische Bedeutung.

 

A Disappearing Number oder Der Mann der de Unendlichkeit kannte
von Simon McBurney
Inszenierung: Simon McBurney, Bühne: Michael Levine, Musik: Nitin Sawhney
Mit: Simon McBurney, Saskia Reeves, David Annen, Firdous Bamji, Paul Bhattacharjee, Hiren Chate, Divya Kasturi, Chetna Pandya, Shane Shambhu

www.ruhrfestspiele.de
www.complicite.org

 
Kritikenrundschau 

Anders als Dorothea Marcus es in unserer Kritik beurteilt, findet Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (5.5.2007), dass Simon McBurney "wirklich Mathematik auf die Bühne" bringe. Etwa in Form der Faszination, die sie bei den Figuren auslöst. Oder durch die Kombinatorik, die den Zuschauern abgefordert wird, wenn sie die Handlungsstränge im Geiste selbst zusammensetzen müssen. Wobei gilt: "Obwohl viel Technik eingesetzt wird, bleiben die Theatermittel stets durchschaubar". Bewundernd stellt er fest: "A disappearing number ist eine staunende, behutsame und oft humorvolle Annäherung an Srinivasa Ramanujans Denkweise."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.5.2007) fasst sich Andreas Rossmann zum Thema recht kurz und doch deutlich. Die Bühne von Michael Levine, ein grau-beiger Hörsaal, sei "langweilig", Saskia Reeves Spiel der Ruth indessen "anregend und charmant". Die  Durcheinanderwirbelung der Geschichten und ästhetischen Mittel gewänne "einen kaleidoskopartigen Reiz von irritierendem Schauwert". Auch McBurneys Darstellung des Alex hat ihn positiv "berührt". Alles in allem: "Mathematik, Madras und Magie bilden eine Reihe, ohne sich aufeinander zu reimen."

Kommentare

4. Juni 2007, J. Bauer wrote:
Mich hat bei der Aufführung bei den Wiener Festwochen vor allem fasziniert, wie hier Mittels Mathematik auch etwas über die Faszination des Theaters erzählt wird. Am Beginn wird die Überlegung angestellt, dass - wenn Zahlen miteinander verbunden sind und also keine Lücke zwischen ihnen klafft - auch Zeit und Raum, die mathematisch erklärt werden können, miteinander verbunden sind. Also ist die Vergangenheit über die Gegenwart mit der Zukunft verbunden. Und so sind auch verschiedene Räume miteinander in Verbindung und beeinflussen sich. Und genau das bringt McBurney auf die Bühne: das Ineinanderübergehen von Zeiten und Räumen.

 

Kommentare  
Thanks
erst muß ich mir "A disapearing number" während der Wiener Festwochen anschaun.Aber: www.nachtkritik.de ist eine Bereicherung für mich.Thanks.Heide.
Nochmal: A Disappearing Number
Mich hat bei der Aufführung bei den Wiener Festwochen vor allem fasziniert, wie hier Mittels Mathematik auch etwas über die Faszination des Theaters erzählt wird. Am Beginn wird die Überlegung angestellt, dass - wenn Zahlen miteinander verbunden sind und also keine Lücke zwischen ihnen klafft - auch Zeit und Raum, die mathematisch erklärt werden können, miteinander verbunden sind. Also ist die Vergangenheit über die Gegenwart mit der Zukunft verbunden. Und so sind auch verschiedene Räume miteinander in Verbindung und beeinflussen sich. Und genau das bringt McBurney auf die Bühne: das Ineinanderübergehen von Zeiten und Räumen.
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