Die höllische Tragödie

von Elisabeth Maier

Avignon, 15. Juli 2017. Gespenster erfüllen das mondäne Sommerhaus mit Leben. Der Regisseur Simon Stone feierte gestern mit "Ibsen Huis" beim Festival d'Avignon eine umjubelte Premiere. Im Innenhof des altehrwürdigen Gymnasiums Saint Joseph verbrennt Stone mit dem Ensemble der Toneelgroep Amsterdam die Lebenslügen seiner – von Henrik Ibsens dramatischem Universum inspirierten – Figuren. Im rauen Nachtwind der Provence hetzen die Akteure vom Paradies übers Fegefeuer in ein Inferno – so betitelt Stone die drei Akte und zitiert damit Dantes "Göttliche Komödie", allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Und das französische Publikum ließ sich anstecken vom Hype um Publikumsliebling Stone, der sich nach seiner ersten Avignon-Premiere in stürmischer Sommernacht ganz unkompliziert auf dem Schulhof mit Zuschauern austauschte.

In seinem Ibsen-Haus steht die Existenz einer Familie auf dem Spiel. Anders als in früheren Produktionen überschreibt Stone diesmal keinen geschlossenen dramatischen Text. In seinen Drei Schwestern nach Tschechow, die im Dezember 2016 am Theater Basel Premiere hatten und in Berlin das diesjährige Theatertreffen eröffneten, bewegen sich Plot und Figurenkonzeption noch vergleichsweise eng an der Vorlage entlang. Die Sprache aber war neu und jung, griff heutige Zeiterfahrung und politische Diskurse auf. Manchmal redeten die Akteure so flapsig wie in einer TV-Soap. Große Konflikte, verblüffend neu gedacht.

Ibsen-Medley

Ähnlich kommt "Ibsen Huis" daher. Nur ist da die Dramaturgie offen. Stone konzentriert sich mit Ibsen-Erfahrung (Wildente, John Gabriel Borkman, Peer Gynt) auf Existenzkämpfe und Familienstreitigkeiten. Es geht um einen Hausbau, den Übervater Cees wie ein Besessener vorantreibt. Hans Kesting zimmert klug an der inneren Größe seines "Baumeister Solness". Am Ende bleibt hinter der machtgierigen Fassade ein sabbernder alter Mann übrig, der Mädchen in der Familie brutal vergewaltigt hat. Das bekam seine Nichte Caroline zu spüren, bei Janni Goslinga im Erwachsenenalter eine Tablettensüchtige, die am Ende in der Flüchtlingshilfe ihre Erfüllung findet.

IBSEN HUIS3 560 Jan Versweyveld uMit Ibsen im Wohlstandsgefängnis © Jan Versweyveld

Martin Heijmans und David Roos zeigen den Kampf des homosexuellen Sohns Sebastian um die Befreiung von der Übermutter. In den Wohnzimmerschlachten des Ehepaars Jacob und Lena zeichnet sich etwas von der Befreiung Noras aus ihrem Puppenheim ab. Bart Slegers und Maria Kraakman zeigen ihr Ehegefängnis beklemmend emotional. Stark erzählen die Schauspieler ihre Geschichten, inspiriert von Ibsens Motiven. Wut und Verzweiflung schreien sie aus sich heraus. Den politischen Kontext des 21. Jahrhunderts denkt Stone mit, liest die Dramen des Wegbereiters der Moderne vor gegenwärtigem Hintergrund. 

Szenario der Vernichtung

Die filmische, spannungsgeladene Dramaturgie will Ibsens dramatischen Fundus nicht dekonstruieren – auch wenn Zeitsprünge, die die rasante Textfassung prägen, den Blick immer wieder weglenken von konkreten Bezügen. Mit den Spielern entwickelt Stone in Lizzie Clachans stilvollem Glashaus große Porträts, die zutiefst berühren. An D'Huys' Kostüme helfen, indem sie chronologisch modische Konventionen spiegeln: Nach dem Hippie-Style der 60er Jahre wird moderne Spießigkeit zelebriert.

IBSEN HUIS2 560 Jan Versweyveld uEinsame Menschen in einem Haus, das bald verbrennen wird © Jan Versweyveld

Stone geht es um das Inferno im Innern der Menschen, die im korrupten System ihrer Familie gefangen sind. Das Kunstwerk stilvoller Sommerhaus-Architektur, mit dem Cees einst sein übersteigertes Selbstbewusstsein nährte, demontieren die Bühnenarbeiter am Ende des ersten Teils. Dann bleibt unter dem südfranzösischen Nachthimmel nur das Gerüst von dem übrig, was einmal scheinbar ein harmonisches Familienheim war.

Und Stefan Gregorys elektronische Musik untermalt das Szenario der Vernichtung, bis alles in Flammen aufgeht. Das Feuer löscht Teile der Familie ebenso aus wie quälende Erinnerungen an verpfuschte Leben. Mit diesem packenden Schlussbild kommt Stone dem Ringen der Ibsenschen Charaktere um eine würdige Existenz schmerzlich nah.

Ibsen Huis
nach Henrik Ibsen
Text und Regie: Simon Stone, Dramaturgie und Übersetzung: Peter van Kraaij, Szenografie: Lizzie Clachan, Musik: Stefan Gregory, Kostüme: An D'Huys, Licht: James Farncombe.
Mit: Celia Nufaar, Hans Kesting, Bart Klever, Maria Kraakman, Janni Goslinga, Claire Bender, Maarten Heijmans, Aus Greidanus jr., Eva Heijnen, Bart Slegers, David Roos.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

https://tga.nl
www.festival-avignon.com

 

Kritikenrundschau

"Simon Stone et ses fabuleux interprètes du Toneelgroep d'Amsterdam, ont lu les pièces utilisées et retenues certains faits, certains caractères", schreibt Armelle Heliot im Figaro (16.7.2017). Das Resultat sei eine sehr gut gespielte Fernsehserie über die Familienhölle: "Cela ressemble beaucoup à certaines séries, très bien jouées, que l'on peut voir à la télévision." Eine zarte, leichte Inszenierung, deren lange Spanne schnell vergehe.

Star des Abends und Metapher für die Schauspielkunst sei das gläserne Haus, schreibt Fabienne Darge in Le Monde (18.07.2017).  Die Gattung der Tragödie samt ihren Göttern und Helden habe mit Ibsen Einzug gehalten in die Salons und Schlafzimmer der Bourgeoisie, so Darge. Simon Stone verorte sie in den Fertighäusern unserer Moderne mit ihren unerbittlich offenen Räumen. Damit handle sich Stone aber auch ein Problem ein: Diese Räume seien beiläufig und oberflächlich – wie die im kollektiven Prozess entstandenen Dialoge, findet Darge. Glücklicherweise werde "Ibsen Huis" von der Toneelgroep gespielt, einer der besten Truppen Europas, lobt Fabienne Darge insbesondere Janni Goslinga als lebenswütige Caroline und Hans Kesting als "ganz normales Monster" Cees Kerkman.

"Leider verrutschen Stone die Ibsen-Figuren zu effektbewusst arrangierten Klischeelieferanten", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.4.2018) über das Gastspiel der Produktion beim Berliner F.I.N.D.-Festival. Weil sich Stone, anders als Ibsen, "kaum für innerfamiliäre ökonomische Abhängigkeiten und bürgerliche Statuskämpfe interessiert, muss als zuverlässiger Schocklieferant sexueller Missbrauch im scheinbar sozialdemokratisch befriedeten Ambiente einer niederländischen Architektenfamilie herhalten." Auf den Kritiker macht die Produktion "den Eindruck von handwerklich gekonntem, aber inhaltlich eher leer laufenden Stil-Recycling."

 

Kommentare  
Ibsen Huis, Gastspiel Berlin: alles Leben verabschiedet
Die Verleugnungs- (Täter) und Verdrängungsmechanismen (Mitwisser), die wir in jeder Generation und immer wieder aufs Neue und Immergleiche mitverfolgen müssen, führen zu einer Stagnation, zu einer Gespenstwerdung der in ihrer individuellen und stets ebenso kollektiven wie universellen Schuld gefangenen Figuren, auf die alles an diesem Abend abgestellt ist. Jedes inszenatorische Mittel, jedes Zeichen deutet auf den Wiederholungszwang , verursacht durch die Unfähigkeit, Geschehenes aufzuarbeiten und sich der Vergangenheit zustellen. Das ist Ibsen, gesteigert ins Manisch-Obsessive.

Da ist auch der Wiederaufbau zum Scheitern verurteilt, hilft vielleicht nur ein radikaler Vernichtungsakt, der am Ende in zweifacher Ausführung zu beobachten ist. Und nochmals das Grundproblem dieses langen Abends illustriert: Er ist wie stets bei Simon Stone so sorgfältig konstruiert, dass sich schnell alles Leben verabschiedet, Geschichten und Charaktere in Formelhaftigkeit erstarren und nur noch ihrer narrativen Funktion dienen – dass Stone seine Familienbanden-Abgründe mit einer Katastrophendichte ausstattet, die selbst manchem Seifenopernautor die Schamesröte ins Gesicht triebe, ist da auch wenig hilfreich. Da verabschieden sich Borkman und Nora und all die anderen schnell, geraten die Figuren zu austauschbaren Pappkameraden, die unangenehm mit der eigentlich auf psychologischen Realismus ausgelegten Spielweise kollidieren. Hier berührt wenig, am ehesten noch, die finale Auseinandersetzung con Cees’ Tochter Lena mit ihrem Ex-Mann Jacob ob ihres Wissens über den Missbrauch der Tochter durch ihren Vater, der diese in den Selbstmord trieb. Da ist für einen Moment eine Unmittelbarkeit rohesten Schmerzes zu spüren, die Stone ansonsten hinter seinen Glaswänden abschirmt. Alles ist Zweck und Effekt, ausgerichtet auf die immer neue Bestätigung der stockpessimistischen Sicht auf Welt und Menschheit, virtuose Konstruktion und technische Perfektion. Der Mensch bleibt dabei auf der Strecke. Henrik Ibsen sowieso.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/04/22/steinewerfer-im-glashaus/
Ibsen Huis, Gastspiel Berlin: jeder Figur ihr eigenes Haus
Ich vermute ja, dass sich Ibsen was dabei gedacht hat, sich seinen erfundenen Charakteren so ausgiebig zu widmen, dass er ihnen ganze abgeschlossene Stücke gewidmet und jedesmal ein in jedem Sinne eigenes Haus gegönnt hat. Sogar Jelinek hat uns Noras (männlichen wie weiblichen) noch eine Nora gegönnt, um die was geschehen konnte, nachdem ihr Mann von ihr verlassen wurde...
Ibsen Huis, Gastspiel Berlin: Zwangs-WG
Ja, diese Zwangs-WG im Ferienhaus wirkt doch sehr ausgedacht. Und Fernseh-Realismus verträgt sich auch eher schlecht mit "Ich habe jetzt nen Hut und ne Brille aufgezogen und bin dann mal ne andere Figur."
Ibsen Huis, Gastspiel Berlin: Familiensaga
Simon Stone lässt in seiner Ibsen-Übermalung nur noch vage Anklänge an das Werk des norwegischen Dramatikers übrig. Am ehesten sind noch Spuren von „Baumeister Solness“ und „Gespenster“ zu erkennen, dazu hier eine Prise „Nora“ oder dort eine kleine Inspiration aus dem „Volksfeind“.

Ansonsten packt er in die 3,5 Stunden „Ibsen Huis“ noch vieles andere wie die AIDS-Krise der 80er Jahre, die Flüchtlingsströme 2015/16 und den Brexit. Dies sind nur einige Nebenstränge der Familiensaga, die sich um den mehrfachen Missbrauch rankt, den Patriarch Cees Kerkman (Hans Kesting) an seiner Nichte und an seiner Enkelin beging.

Bis zum eindringlichen Inferno, bei dem das Haus in Flammen aufgeht und sich die letzten Überlebenden wünschen, dass andere Familien ein besseres Leben und mehr Glück als sie haben werden, schleppen sich die nach Dantes „Göttlicher Komödie“ benannten ersten beiden Teile „Paradies“ und „Fegefeuer“ bei diesem Gastspiel zum Abschluss des FIND-Festivals der Schaubühne zu langatmig dahin.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/04/22/ibsen-huis-simon-stone-laesst-familiensaga-in-inferno-enden/
Kommentar schreiben