Die Sehnsucht nach dem Tag, an dem das Birchermüsli fehlt

von Michael Wolf

17. Juli 2017. "Du musst dein Leben ändern", flüstert eine Stimme im Hinterkopf. Wir kennen sie von Silvester, runden Geburtstagen, persönlichen Krisen. Rilke setzte sie ans Ende eines Sonetts, Peter Sloterdijk widmete ihr ein vieldiskutiertes Buch. Erstmals hören viele sie an der Schwelle zum Erwachsenenleben: als panische Einsicht, dass die Möglichkeiten des eigenen Lebens weniger werden. An diesem Punkt steht "S." in "Sieben Nächte". Der Autor Simon Strauß, Sohn von Botho Strauß und Theaterredakteur der FAZ, ist wohl nicht ganz zufällig im selben Alter wie sein Erzähler.

Bald dreißig Jahre alt hat S. nichts erreicht, ja noch nicht mal etwas gewagt. Er fordert nicht wenig von sich selbst: einen Unterschied machen, nicht nur sich selbst verändern, sondern am besten die ganze Welt. Nun befürchtet er, dass die Zeit ihm davonläuft. "Ich habe Angst vor Eheverträgen und stickiger Konferenzluft. Angst vor Gleittagen und dem ersten vorgetäuschten Lächeln. Angst vor dem Ende des freien Lebens, vor Festanstellung, Rentenversicherung, Spa-Wochenenden im Mai."

Zurück zum aufrichtigen Hass

Bei Strauß gibt es das noch: das intakte Bürgertum, in dessen Schoß man fernab jeglicher Gefahren unglücklich werden kann. Böse gesagt, behandelt "Sieben Nächte" ein First-World-Problem: Sinnsuche eines Privilegierten, ein Mann auch noch. Aber warum nicht? Das Leben der Bäume findet ja auch seinen Platz in den Bestsellerlisten. Außerdem geht’s jetzt erst richtig los:

buch simon straussS. paktiert mit einer geheimnisvollen Gestalt. (Mephisto lässt grüßen.) Sieben Nächte lang soll der junge Mann Todsünden begehen. In den folgenden Kapiteln packt er gewissenhaft seine – enttäuschend unspektakulären – Aufgaben an: wagt einen Bungee-Sprung (Hochmut), setzt beim Pferdewetten 20 Euro (Habgier), isst ein teures Steak (Völlerei) etc. Die Todsünden-Motivik wirkt etwas bemüht. Vielleicht soll diese Dramaturgie die Selbstversuche in die Höhen gelehriger Erfahrungen hieven. Von dort oben kann S. umso bequemer auf die Niederungen der Gegenwart blicken.

Denn das ist der Erzähler auch: ein "angry young man". Er verachtet seine Generation dafür, ständig gefallen zu wollen, nichts zu riskieren, lieber zu lügen als aufrichtig zu hassen; und dafür, "dass wir nie gewusst haben werden, wie der Tag beginnt, wenn kein Birchermüsli auf dem Tisch steht". Er verurteilt den Konsens und beschwört den offenen Streit: "Überall identifizieren wir uns mit den Diskriminierten, fühlen uns aus Solidarität selbst diskriminiert und warten auf Wiedergutmachung durch ein Gesetz. Aber eine Gesellschaft, in der sich niemand mehr zum Ganzen bekennt, ist auf Dauer nicht überlebensfähig. Die liefert sich den Spaltungsversuchen der Ideologen und Ironiker aus."

Ohne Arien und Rausch im Datendickicht

Das ist dann schon provokant: Simon Strauß' Alter Ego ist nicht konservativ, es ist reaktionär. S. leidet nicht nur an sich selbst, sondern vor allem an den Verhältnissen seiner Zeit. Hier und jetzt werde man in Bibliotheken von Bildschirmen empfangen statt von Bücherregalen und friste sein Dasein "im düsteren Datendickicht", in dem "niemand mehr weiß, was Anfangen heißt". Der Kulturkritiker verurteilt die Gegenwart dafür, dass sie "nicht mehr" ist wie die Vergangenheit.

Mit dem Kopf voran rennt er gegen die Wände unserer Zeit, reißt ein Loch und blickt traurig auf untergegangene Epochen. "Woher kommt dieses dumpfe, wehleidige Gefühl, zu spät geboren zu sein, in Zeiten zu leben ohne Arien und Rausch?" Die Nachkriegsgeneration, die ein zerstörtes Land aufbauen konnten, die 68er mit ihrer schlauen Wut, ja selbst ein vor vierzig Jahren abgerissener Tanzpalast mit Tischtelefonen glänzen unerreichbar in der Ferne. Nur noch älter ist Strauß' Sprache. Hier "graut der Morgen", hier "kühlt man sich die Zunge", und Frauen heißen "Mädchen". Jeder Satz führt den Wunsch nach einer Welt vor ihrer Entzauberung mit sich: als Wörter noch Worte waren. "Man müsste nur die Angst überwinden, pathetisch zu klingen. Maximen könnten auf den Tisch geschleudert, Banner entrollt werden: Risk, risk anything!"

Der Prophet als Reaktionär

Darin besteht die Stärke und auch die Brisanz dieses schmalen Bändchens: Es hält sich strikt an die Maximen, die es aufstellt. Strauß schreibt ungelenk, impulsiv, er fordert Gefühl statt Kalkül. Sein Alter Ego zeichnet er als Spinner, weil er kein Blender sein will. Damit riskiert er nicht nur verrissen, sondern auch verlacht zu werden. Schon deswegen taugt "Sieben Nächte" als Plädoyer gegen die Angst, Großes zu wollen und aufrichtig dafür einzustehen.

Als Gleichaltriger stimme ich Strauß' Kritik in vielem zu. Beide sind wir geboren kurz bevor Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausrief. Es scheint, als hätte sich das Geistesleben nie von der Enttäuschung über seinen Irrtum erholt. Die vornehmste Aufgabe junger Intellektueller scheint seither die Beendigung der Geschichte mit anderen Mitteln zu sein, die Aufhebung jener Kräfte, die jede Handlung vorantreibt: Gegnerschaft von Ideen, streitbare Positionen, Großartigkeit jeder Art. An ihre Stelle treten feige Ironie und defensiver Relativismus: Frauen und Männer? Alles nur Konstruktion. Liebe oder Hass? Es ist kompliziert. CDU oder SPD? Scheißegal.

Postmoderne, so nennen wir unsere Epoche und bejahen sie als Schicksal. Wer hier groß denkt, ist ein Radikaler. Wer Visionen hat, sollte zur "Höhle des Löwen" gehen. Angemessen unbescheiden bietet sich Simon Strauß als Prophet an, in dem er dieses Ende der Geschichte nicht fortschreiben mag, sondern von einer neuen kündet. Enttäuschend aber, dass sich seine Sehnsucht letztlich als Nostalgie erweist. Folgen möchte ich ihm daher nicht. Wo er hinwill, liegt mir zu viel Staub.

 

Sieben Nächte
von Simon Strauß
Aufbau, Berlin 2017, gebunden 144 Seiten, in der Bundesrepublik 16,00 Euro.

 

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