Presseschau vom 20. Juli 2017 – Kritisches Interview mit Zürichs Kulturdirektor Peter Haerle zur Zürcher Theaterlandschaft in der Neuen Zürcher Zeitung

Nicht mehr Top-Liga?

Nicht mehr Top-Liga?

20. Juli 2017. In der Neuen Zürcher Zeitung (14.7.2017) führt Theaterkritikerin Daniele Muscionico ein langes und kritisches Interview mit dem Zürcher Kulturdirektor Peter Haerle. Ausgangspunkt ist die Veröffentlichung einer Studie über die "Tanz- und Theaterlandschaft Zürich", die die Stadt bei der Unternehmensberatung Integrated Consulting Group ICG (Graz/Wien) in Auftrag gegeben hatte.

Im Interview geht es um die Neubesetzung des Schauspielhauses mit Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, die im "soziographisch" Zürich verwandten München an den Kammerspielen unter Neu-Intendant Matthias Lilienthal "den treusten Teil des Publikums verärgert" hätten, so Muscionico. Haerle, der Vorsitzender der Zürcher Findungskommission war, kontert: Die beiden "haben explizit gesagt, dass sie in Zürich nicht das Gleiche wie in München machen wollen".

Das "Beschwören von Öffnung, Inklusion und Teilhabe" bei Lilienthal und Stemann/Blomberg hält Muscionico für "Marketing-Rhetorik". Haerle erhofft sich das Schauspielhaus unter Stemann/Blomberg als "Treffpunkt" für "Menschen, die sich für einen künstlerisch-intellektuellen Austausch interessieren". Auf die Frage, ob das Schauspielhaus unter Barbara Frey kein solcher Treffpunkt sei, schweigt Haerle zunächst und bescheinigt dem Haus dann "Topqualität".

Anspruchsvolle Kulturstadt, hartes Pflaster

Der Ansicht der Interviewerin, dass das Schauspielhaus elitär sei und womöglich entsprechend auch von den Eliten stärker finanziert werden sollte, tritt Haerle entgegen: "Auch wenn sich gewisse Kulturorte nur an gewisse Gruppen richten, haben sie am Schluss eine gemeinschaftliche Funktion. Alles andere ist eine extrem individualistische Sicht." Im weiteren Verlauf streiten die Gesprächspartner über die Frage, ob die Förderung der freien Tanz- und Theaterszene mit fünf Prozent des Gesamtbudgets zu gering ausfalle, wenn doch diese Szene der wesentliche Motor von Innovation sei (was Haerle als "Floskel" zurückweist). Für eine Schließung des Theaters am Neumarkt sieht Haerle keinen "Anlass".

Wieso Intendanten des Schauspielhauses regelmäßig Zürich im Streit verließen, will Muscionico noch wissen. Haerle erinnert an eine Aussage des früheren Intendanten Matthias Hartmann: "Zürich sei eines der härtesten Pflaster. Zürich ist eine anspruchsvolle Kulturstadt." Gleichwohl spiele ihr Schauspielhaus nicht mehr in der "Top-Liga" wie noch unter Christoph Marthaler, wendet Muscionico ein. Haerle lässt Bedauern über die Demission Marthalers erkennen: "Die künstlerische Ära Marthaler war extrem befruchtend und spannend. In Zürich hat es leider nicht funktioniert."

Anmerkung: In der Eröffnungsfrage des NZZ-Interviews spricht die Interviewerin mit Bezug auf den Bericht der Unternehmensberatung von einem Durchschnittsalter der Schauspielhaus-Besucher von über 60 Jahren. Diese Angabe ist laut Aussage der Presseabteilung des Schauspielhauses falsch. "Von einem überalterten Ü60 Publikum kann nicht die Rede sein, die grösste Zuschauergruppe sind die 45- bis 54-jährigen", heißt es in einer Email an nachtkritik.de.

(Neue Zürcher Zeitung / chr)

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