Alles ist künstlich, alles ist wahr

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 25. Juli 2017. Ausgestopfte Tiere, mit Farbe übergossen. Und großformatige Fotografien, Ivo Dimchev nackt. Und Pappmaché-Figuren, Gemälde, Videos. Es ist vier Uhr nachmittags. Ich flaniere zwischen den Exponaten der Ausstellung "Avoiding deLIFEath". Im März am Brüsseler Kaaitheater erstmals gezeigt, gastiert das Long Durational Event des Performance-Künstlers Dimchev derzeit bei ImPulsTanz in den mumok Hofstallungen im Museumsquartier Wien. Ist eine hohe, finstre Halle. Neben den Objekten, schäbig auf A4 gedruckt, wurden Zitate arrangiert: "I care only about myself. It's political enough" und "The love I can't retain, I'll beautifully murder". Vom anderen Ende des Raumes, dort auf Kunstrasen stehend, lädt Dimchev großzügig zum ersten Programmpunkt ein: Ein Workshop zur Fragmentierung von Körper und Stimme. Noch nimmt niemand teil. Erstmal lieber sitzen.

Und genüsslich den Titel des Abends zerdenken. Kunst als Vermeidung vom Leben und vom Tod? Plausibel. Die Vermeidung als Bejahung? Unbedingt. Auch in seinen Bühnenstücken feiert Dimchev Feste am Rande des narzisstischen Nervenzusammenbruches. Wiederkehrende Motive sind das Begehren, die Vergänglichkeit und die Künstlichkeit. Dazu Dimchev: "Oh, I love fake grass!" Und weiter geht’s im zweiten Teil mit Spontan-Poesie. Bei "Avoiding deLIFEath" sollen acht künstlerische Tätigkeiten nacheinander zu jeweils einer halben Stunde ausgeübt werden. An insgesamt drei Abenden folgen zwei solche Zyklen aufeinander. Das Publikum mag kommen und gehen, die Ausstellung ist auch außerhalb der Performance-Zeiten zu besichtigen und wächst im Verlauf der Woche durch neu entstehende Bilder.

AvoidingdeLIFEath2 560 Ivo Dimchev uEigene Gesangstechnik © Ivo Dimchev

Auf "writing poetry" folgt "composing a new song". Dimchev, der mal Operngesang studiert hat, präsentiert am 13. Juli das Album "Sculptures" im Volkstheater Wien. Am Keyboard sitzend und singend, wird’s schaurig und schön. Klingt wie die Verletzlichkeit in Person, als Personalunion von Gollum und Dada. Dimchev, der auch mal Schauspiel studiert hat, verzieht die Mundwinkel in ein angewidertes Lächeln, die blonde Kurzhaarperücke rutscht ihm tief über ein Ohr hinunter. Schweißverschmierte rote Lippen, alles an diesem Körper ist künstlich, alles an diesem Körper ist wahr. In ein obszön vielfarbiges Tutu gekleidet, wackelt und wetzt, schnauft und schuftet er unaufhörlich. Zum vierten Programmpunkt entstehen drei "porn paintings". Es ist sechs Uhr abends. Ich kenne keine andere dermaßen ambivalente Bühnenerscheinung.

Zufällig und zärtlich

Glorios und jämmerlich, auf Stöckelschuhen und mit Gürteln, Ketten, Perücken am Kopf zelebriert Dimchev die nächsten beiden musikalischen Programmpunkte. Die Nebelmaschine funktioniert nicht. Stickig ist es trotzdem. Dimchevs Hund Jojo streunt zwischen den am Boden sitz-liegenden Zusehenden. Eine Abfolge von Disparatem, der Performer baut Stimmungen auf und lässt sie durch vertraulich, freundliche Kommentare ans Publikum wieder in sich zusammen fallen. "I'm crossfading. Life is a crossfade." In ein goldenes Cape gehüllt, krächzt und kreischt, singt und säuselt Dimchev Melodien ins Mikrophon. Alles beifällig, zufällig, vor allem zärtlich und trotzdem gewollt.

AvoidingdeLIFEath1 560 Ivo Dimchev uZeit zu feiern © Ivo Dimchev

Gegen acht wird’s interaktiv. Das Publikum, mittlerweile eine geduldige Ausdauer-Gemeinschaft, entscheidet welche Nummer von "Sculptures" für "shooting a music video" herangezogen werden soll. Kurz darauf läuft Dimchev, diesmal im silbernen Cape, mit einem grün überzogenen Geweih vor einer Kamera in den Raum davon. Wieder und wieder, der Song "Kill", dann läuft auch die erste Zuschauerin, greift sich ein anderes Exponat, bald laufen viele. Die Stimmung gelöst, Gelächter, wir feiern das gemeinsam.

Der strenge Zeitplan ist längst überzogen. Bevor der nächste Zyklus beginnt, gibt Dimchev noch ein "physically challenging interview". Hängt kopfüber vom Klavierhocker und gibt sich privat. Seine Schwester schulde ihm Geld, er genieße die Spontanität bei "Avoiding deLIFEath" und morgen ist ein freier Tag. In Anbetracht dieses Performers nicht mehr verstehen zu können, was privater Narzissmus und was subtile Kunstform ist, das macht Ivo Dimchevs langwieriges Long Durational Event zu einem Faszinosum.

 

Avoiding deLIFEath
von Ivo Dimchev
Choreografie, Performance, Ausstellung: Ivo Dimchev.
Gäste: Didi Kern, Philipp Quehenberger, Boris Kopeinig, Assistenz: Atanas Bachorski, Michael Penev.
Dauer: 3x2x4 Stunden + Ausstellung

www.impulstanz.com

 

Kritikenrundschau

"Dimchev, der sich ständig verwandelt, mal kahl, mal mit Perücke, mal mit Hosen, mal mit Tütü auftritt", zehre "von vielen Vorbildern, von Popmusik, Rap, Pop Art, Ballett, Free Dance, Aktionismus", schreibt Barbara Petsch in der Presse (27.7.2017). Seine Show sei "multimedial, aber auch real, handwerklich." Wenn man sich darauf einlasse, erfahre "man etwas über das Wandeln der Gestalt und des Individuums. Dimchev demonstriert für das Originelle, Gewagte, den ureigenen Ausdruck. Das ist irritierend, erhellend, letztlich animierend."

 

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