Presseschau vom 3. August 2017 – Die SZ spricht mit Kirill Serebrennikow über Russlands Kulturpolitik und die Absage seiner Bolschoi-Premiere

Das ist doch reiner Gogol!

Das ist doch reiner Gogol!

3. August 2017. "Ist das Russlands Zukunft? Diese Willkür? Die Herrschaft religiös-orthodoxer Eiferer?", fragt Sonja Zekri von der Süddeutschen Zeitung (2.8.2017) den russischen Regisseur Kirill Serebrennikow. Schon möglich, antwortet der: "Russlands Schicksal entscheidet sich jetzt, in diesem Moment." Die Reaktionären gewännen womöglich die Oberhand. Angriffe auf die Kunst gingen von Leuten aus, die innerhalb des Apparates säßen, so Serebrennikow. "Das sind keine fernen Verrückten, sondern Abgeordnete, Senatoren, Minister. Sie versuchen, den Fundamentalismus zu einer offiziellen Ideologie zu machen."

Anfang Juli hatte das Moskauer Bolschoi-Theater vier Tage vor der Premiere Kirill Serebrennikows Ballett über den Tänzer Rudolf Nurejew abgesagt. Warum, ist Serebrennikow bis heute nicht klar: Bolschoi-Generaldirektor Wladimir Urin jedenfalls, der die Premiere nach der Generalprobe annulliert hatte – Serebrennikow zufolge "ein erfahrener und anständiger Mensch" – kannte das Libretto: "Das Bolschoi hat sich das Projekt doch ausgedacht", so Serebrennikow. "Wladimir Urin hat es mir selbst vorgeschlagen."

Politischer Druck und Die Intervention der Vermögenden

"Hat der konservative Kulturminister Wladimir Medinski Druck ausgeübt, wie viele vermuten?2, fragt Sonja Zekri und Kirill Serebrennikow entgegnet: "Sehen Sie, da fangen die Spekulationen an. Vielleicht Medinski, vielleicht jemand anders." Auch die Homosexualität des Titelhelden Nurejew könne eigentlich nicht der Grund für die kurzfristige Absage sein, so der russische Regisseur: "Man kann keine Nurejew-Biografie aufschlagen, in der nicht offen über seine Homosexualität gesprochen wird. Wir haben nichts enthüllt." Vielleicht liege es daran, so Zekri, dass "ein völlig freier Mensch" wie Nurejew in Russland "eine größere Provokation als ein Schwuler" darstelle.

Im Dezember soll die Premiere von "Nurejew" nun doch stattfinden. Diese plötzliche Wende erklärt Serebrennikow mit einem möglichen Einspruch des Bolschoi-Kuratoriums: "Darin sitzen reiche Geschäftsleute, die das Theater finanziell unterstützen." Ärgerlich sei, dass die Zuschauer sein Stück nun "anders anschauen" würden: "Sie werden kommen, um dieses verbotene, skandalöse Stück zu sehen", so Serebrennikow.

Persönlich gefährdet, vom Einspruch gerettet

Unterdessen befinden sich Mitarbeiter*innen des von Serebrennikow geleiteten Gogol-Zentrums weiterhin in Haft. Auf die Frage, wie gefährdet er persönlich sei, antwortet der Regisseur: "Bis jetzt bin ich nur Zeuge, aber mir wurde der Pass abgenommen, ich kann nicht ausreisen. Im September soll ich in Stuttgart Engelbert Humperdincks Märchenoper 'Hänsel und Gretel' inszenieren. Ich hoffe, dass ich meinen Vertrag erfüllen kann." Geholfen habe ihm, "dass Theater und Künstler in Deutschland, Frankreich, ganz Europa sogar in Amerika für mich eingetreten sind... Solche Stimmen werden in Russland sehr wahrgenommen".

(SZ / eph)

Das SZ-Interview von Sonja Zekri mit Kirill Serebrennikow findet sich hier, es ist allerdings nicht frei zugänglich.

 

Mehr über die Causa Serebrennikow auf nachtkritik.de:

Über die Durchsuchung von Serebrennikows Moskauer Wohnung hat nachtkritik.de im März 2017 berichtet. Die FAZ informierte im Juni 2017 über die Verhaftungen aufgrund des Verdachts von Veruntreuung. Gemeldet hat nachtkritik.de Anfang Juli 2017 auch die Bolschoi-Absage.

Schon 2014 wies Deutschlandfunk in einem Bericht über den neuen Wind in der russischen Kulturpolitik auf die Schikanen gegenüber Kirill Serebrennikow und dem Moskauer Gogol-Zentrum hin. 

Eine nachtkritik gibt es zu Kirill Serebrennikows Inszenierung von Gogols "Tote Seelen", die 2015 bei den Wiener Festwochen gastierte.  Seine Bühnenadaption des Lars von Trier-Films „Idioten" findet Erwähnung in unserem Festivalbericht über F.I.N.D. 2014 an der Berliner Schaubühne. 

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