Schwarzes Rauschen

von Falk Schreiber

Hamburg, 17. August 2017. Die Welt ist ein schöner Ort. Am Rande des Blickfelds stehen ein paar Neubauten, ansonsten sieht man Felder, Wiesen, Wald. Und eine sengende Sonne, nach deren Versinken die elektronische Kommunikation anhebt, ein tastendes Gesprächsgerüst: "Wow." "Really?" "Thank you." "Fair enough."

Die US-Künstlerin Annie Dorsen hat für "The Great Outdoors" beim Internationalen Sommerfestival Hamburg auf Kampnagel ein Stück aus Onlinekommentaren destilliert. "Ein Bot sammelt sie (die Kommantare) und nutzt dann diejenigen der vergangenen 24 Stunden als Material für die jeweilige Performance am Abend", wird Dorsens Konzept im Programmheft beschrieben. "Nach einem System aus semantischen, syntaktischen und poetischen Regeln werden aus dieser Menge bestimmte Kommentare von einem Algorithmus ausgewählt und zu einem Monolog komponiert." Das heißt also, dass Regeln existieren, die zwar für das Publikum nicht durchschaubar sind, gleichwohl einen Text entstehen lassen, den Kaija Matiss rezitiert. Anscheinend spontan spielt ein Computer die Sätze und Satzfragmente ein, und die Performerin spricht sie ins Mikro.

TheGreatOutdoors AnnieDorsen SommerfestivalKampnagel 02 JulietaCervantes 560 uDas Internet: unendliche Weiten © Julieta Cervantes

Dazu steuert ein Algorithmus wohl auch die oben skizzierte Projektion der ländlichen Idylle, zunächst den Sonnenuntergang, dann das Entstehen eines zunehmend chaotisch anmutenden Sternenhimmels, schließlich, als die gesprochenen Kommentare ihre nichtssagende Freundlichkeit verloren haben und ans Eingemachte gehen: Trump, Charlottesville, Nordkorea. Da strebt die Kamera zur Seite, da kippt die Idylle weg, nimmt das nächtliche Feld den gesamten Kosmos ein, saugt den Betrachter auf und spuckt ihn im Orbit wieder aus. Was bedingt durch die Tatsache, dass man nicht etwa auf eine Leinwand schaut, sondern unter einer Kuppel in einer Art Zelt liegt, während die Landschaft von unten auf die Kuppeldecke projiziert wird, ein durchaus beunruhigendes Gefühl der Desorientierung zur Folge hat. Ein starker Effekt. Aber eben nicht viel mehr.

Kakofonie der Argumente

Der Grundgedanke von "The Great Outdoors" nämlich trägt nicht. Jeder, der sich ab und zu in sozialen Netzwerken (oder auch im Kommentarbereich von nachtkritik.de) aufhält, gewinnt früher oder später den Eindruck, dass sich hier Dramen von shakespeareschem Ausmaß abspielen würden. Was allerdings nicht für diesen Abend gilt: Das, was hier entsteht, ist kein Drama, es ist bloßes Rauschen, eine Kakofonie der Argumente, bei der ein ernsthafter Diskussionsbeitrag direkt neben belanglosen Freundlichkeiten steht, nackter Hass neben nicht mehr entschlüsselbarem Textmüll. Was ist echtes Leiden, was Selbstmitleid, was Inszenierung? Man weiß es nicht, während man durch einen unübersichtlichen Textfluss taumelt, der in Matiss' akzentuiertem, kunstvoll rhythmisierten Vortrag immer mehr lyrischen Charakter annimmt. Und dann beginnt man leider auch, sich hemmungslos zu langweilen.

TheGreatOutdoors AnnieDorsen SommerfestivalKampnagel 01 JulietaCervantes 560 uLost in space © Julieta Cervantes

Denn man hat ja kapiert, was Dorsen mit "The Great Outdoors" will: einen Ritt in die Dunkelheit, in einen Kosmos, der nicht durchdringbar ist, ein schwarzes Rauschen. Und man sieht auch, dass das funktioniert, als die Deckenprojektion sich langsam einem majestätischen Mond nähert und Matiss' Vortrag sich bis hin zum bloßen Zeichen minimalisiert hat, "25. amendment. Exclamation point. 25. amendment. Exclamation point", endlos geht das so weiter, und die Tatsache, dass der 25. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten die Nachfolge bei einem vorzeitigen Präsidentschaftsende regelt, dürfte im Trump-Kontext eine politische Forderung beinhalten, hier ist sie aber schließlich nur noch Interpunktion. Ausrufezeichen.

Der Abend mag nicht uninteressante Écriture automatique sein, er mag auch Anforderungen der Bildenden Kunst erfüllen (die Bühnenkuppel ist für sich genommen eine spannende Raumskulptur, die freilich voll besetzt schnell unangenehm stickig wird), Theater ist er aber wohl keines. Er ist auch kein Kommentar zum Internet oder zur Diskussionspraxis im Digitalen, er ist am Ende reines Geräusch, wertfrei, dunkel, rauschend. Und auf eine beunruhigende Weise schön, das auch. Die Welt ist ein schöner Ort.

 

The Great Outdoors
von Annie Dorsen
Konzept, Regie: Annie Dorsen, Design Sternenhimmel: Ryan Holsopple, Annie Dorsen, Sound Design: Sébastien Roux, Videoprogrammierung: Ryan Holsopple, Textprogrammierung: Miles Thompson, Marcel Schwittlick, Dramaturgie: Onome Ekeh, Technische Leitung: Ruth Waldeyer
Mit: Kaija Matiss
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.kampnagel.de
www.anniedorsen.com

 

Kritikenrundschau

Als "schwächste Festivalproduktion" des diesjährigen Internationalen Sommersfests auf Kampnagel empfand Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (19.8.2017) diese Inzenierung. "Die Britin Annie Dorsen hat für 'The Great Outdoors' eine aufblasbare Kapsel kreiert, die der ­Zuschauer durch eine Schleuse betritt. Vor schönen, wechselnden Sternenbildern, Blumenfeldern und Erdansichten lauscht er einem per Algorithmus ausgewähltem Kommentartext. Irgendwie hat man ja geahnt, dass da täglich eine ungeheure Banalität ins Netz gespült wird. In 'The Great Outdoors' erhält man die Bestätigung. Das macht das Hörerlebnis leider nicht aufregender oder tiefschürfender."

 

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