100 Tage Männlichkeit

von Elena Philipp

Berlin, 23. August 2017. Vielleicht eine viertel Million. Vielleicht eine halbe. Wie viele Frauen während des Genozids in Ruanda 1994 vergewaltigt wurden, ist unbekannt. Sicher ist, dass sexuelle Gewalt von der Hutu-Miliz strategisch gegen die Frauen der Tutsi-Minderheit eingesetzt wurde. Um sie auszulöschen, körperlich oder sozial. Mit Überlebenden der Massenvergewaltigungen hat die selbst mit 12 Jahren aus Ruanda geflohene Sängerin, Autorin und Tänzerin Dorothée Munyaneza für ihr Stück "Unwanted" gesprochen – und sechs vom Band eingespielte Zeugenaussagen genügen ihr für ein umfassend erschütterndes Bild der Folgen sexueller Gewalt.

Empathisches Echo

"I hate him", sagt eine Mutter über ihren Sohn, das ungewollte Kind, das sie nach einer Serie von Vergewaltigungen zur Welt brachte. "For me he belonged to the militia man", übersetzt Dorothée Munyaneza ihren Bericht aus dem Kinyarwanda ins Englische. Wie ein Sündenbock lebe das Kind in ihrer Familie, erzählt die Frau: Selbst wenn es sich wohl verhalte, werde es geschlagen. Mit diesen sachlich vorgetragenen Schilderungen beginnt "Unwanted", und das Wesentliche ist bereits gesagt: Der Hass lebt weiter und wird übertragen auf die folgende Generation.

Unwanted 44 560 Bruce ClarkeSchwierige Bewältigungsarbeit: Dorothée Munyaneza © Bruce Clarke

Dokumentarisches Tonmaterial ist der Ausgangspunkt für "Unwanted". Aber auch in Tanz und Musik legt Munyaneza Zeugnis ab von dem, was die meisten Tutsi- und etliche Hutu-Frauen erlebten während des hunderttägigen Völkermordes in Ruanda. Wie schutzlos streckt sie ihre Handflächen aus, ihre Hände zittern, der Oberkörper biegt sich nach hinten, oder die Beine geben nach. Klagend klingt die Melodie, die Munyaneza nach dem Bericht der von Hass geplagten Mutter anstimmt – ein empathisches Echo, für das es mehr als Worte braucht. In einem halb fragenden, halb anklagenden Sprechgesang am bühnenmittigen Mikrophon zitiert sie einen halben Takt aus dem Popsong "Daddy Cool", um sich mit wütend gerecktem Zeigefinger selbst zu unterbrechen: "You ain't cool, motherfucker; because of you I was broken". Von der Live-Übersetzung des Berichts einer Frau, die neben unzähligen Mädchen, Frauen, Großmüttern zur öffentlichen Vergewaltigung aufgereiht wurde, wechselt Munyaneza in die Rolle der Erzählerin mit der Geschichte einer jungen Mutter, die die Schändungen nicht überlebt hat.

Täter wird Opfer

"Unwanted" verleiht den Opfern eine Stimme, den Frauen und Kindern. Bezeichnenderweise bleibt das einzige männliche Statement in Munyanezas Auswahl ohne Übersetzung. Allein aus dem Tonfall aber entspinnt sich eine Interpretation: Emotional mitgenommen klingt der Sprecher, steigert sich zum Hysterischen – bis ein abwiegelnder Schnalzlaut wirkt wie ein verteidigendes "Was hätte ich tun sollen?". Wer spricht hier? Ein von seinem Gewissen geplagter Milizionär? Oder einer der zahllosen Hutu-Zivilisten, die ihre Tutsi-Nachbarinnen vergewaltigten?

Während man dem Mann lauscht, liegt Dorothée Munyaneza im Bühnenhintergrund auf einem Wellblechhügel, unter warm-goldenem Licht, breitbeinig entspannt wie an einem Sonnentag. Immer deutlicher gestikuliert sie zu dem männlichen Monolog: mit einem abschätzigen Kopfwackeln schient sie eine Aussage zu kommentieren, dirigiert mit dem Zeigefinger den Sprechrhythmus mit, als hätte sie Ähnliches schon unzählige Male gehört. Zugleich murmelt sie halblaut mit, verkörpert den Sprecher – und lässt in ihrem lässigen Lümmeln ein männliches Überlegenheitsgefühl aufblitzen, das im Kontext dieses Stücks schaudern macht. Kurz darauf dreht sie sich zur Seite, die Arme schützend vor den Kopf gehoben: Aus dem mutmaßlichen Täter wird (s)ein Opfer.

Einfühlende Vereinnahmung?

Als Solo ist "Unwanted" präzise, prägnant, berührend. Doch Munyaneza performt nicht allein: Mit ihr steht Holland Andrews auf der Bühne, eine Sängerin, Klarinettistin und Vokalkünstlerin aus den USA. Wenn Andrews Opernartiges anstimmt und den Ton gurgelnd in der Kehle erstickt, wenn sie den Sound einer E-Gitarre schrill verzerrt oder sanfte Klarinettenklänge mit einem dräuenden Bass unterlegt, wirkt das manchmal plakativ. Ist es nicht eine Form einfühlender Vereinnahmung, wenn europäisch Klingendes auf die brutalen Schilderungen aus Afrika trifft – vor allem, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass es die deutschen und belgischen Kolonialmächte waren, die mit ihren herrschaftstaktischen rassistischen Ethnologien die extreme Feindschaft von Hutu und Tutsi überhaupt erst begründeten?

Unwanted 34 560 Bruce ClarkeMusikalische Begleiterin Holland Andrews © Bruce Clarke

Unstimmig wirkt dieser Beitrag also insgesamt. Aber Dringlichkeit bleibt als Eindruck von Munyanezas Performance: Nichts ist vergangen, vergessen, verheilt. Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dem ruandischen Genozid sind seine Auswirkungen gesellschaftsweit spürbar, das bekunden die von Munyaneza interviewten Menschen. An die weiblichen Schicksale muss in der breiten Öffentlichkeit dabei offenbar öfter erinnert werden: Denn was hat es zu bedeuten, dass das Publikum in der nicht ganz ausverkauften Deutschlandpremiere von "Unwanted" überwiegend aus (weißen) Frauen besteht?

Unwanted
von Dorothée Munyaneza, künstlerische Beratung: Faustin Linyekula
Choreographie: Dorothée Munyaneza, Bühnenbild: Vincent Gadras, Bildende Kunst: Bruce Clarke, Licht: Christian Dubet, Musik: Holland Andrews, Alain Mahé, Dorothée Munyaneza, Kostüm: Stéphanie Coudert.
Mit: Holland Andrews, Alain Mahé, Dorothée Munyaneza.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.tanzimaugust.de

 

Kritikenrundschau

"Die kurzen, ruhigen Berichte der Frauen, werden sparsam eingesetzt und gerade darum ist es umso unerträglicher, dass jeder Bericht eine neue Facette der Gewalt beinhaltet", schreibt Astrid Kaminski in der taz (25.8.2017) und sieht in Dorothée Munyanezas Produktion "das Prinzip der Rahmung, des Raumgebens" walten – zusammen mit der unerschrockenen Suche nach Ausdruck traumatischer Gewalterfahrung: "Zwei große Mörser, traditionelle Küchen­utensilien, in deren Kelche die Performer*innen mit aller Kraft die starken Malmhölzer hineinstoßen. Mehr lässt sich kaum aushalten", so Kaminski. "Dass 'Unwanted' der Ohnmacht dieses Mehr mit großer Würde gewidmet ist, könnte zumindest einen kleinen Trost bedeuten."

"Munyaneza übersetzt die traumatischen Erfahrungen in Wort, Ton und Tanz, ohne zu beschönigen, ohne zu beschwichtigen", schreibt Dorion Weickmann in der Süddeutschen Zeitung (1.9.2017). "Mit sanfter Stimme und zornbebender Bewegung skizziert sie ein stählernes Schicksalsgehäuse, aus dem es kein Entrinnen gibt." Tröstlich wirke allenfalls die Begegnung mit anderen Frauen, die dem geschundenen Körper ein Stück Würde zurückgeben. "Indem sie dessen Füße waschen, befreien sie auch die Seele von der Höllenasche des Martyriums, die sich wie Staub über Denken und Fühlen legt."

Kommentare  
Unwanted, Tanz im August: was sonst noch los war
Weitere Eindrücke vom "Tanz im August"-Festival:

Zur Eröffnung setzte sich "Kalakuta Republik" von Serge Aimé Coulibaly mit dem Scheitern politischen Widerstands gegen die Militärdiktatur in Nigeria auseinander. Der Abend ist energiegeladen, aber nicht selbsterklärend. Die tänzerischen Bewegungen wirken zu austauschbar. Wer die Hintergründe der Geschichte, auf die Coulibaly anspielt, nicht kennt, hat Schwierigkeiten, einen tieferen Sinn des hektischen Bühnentreibens zu erkennen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/08/11/kalakuta-republik-erzaehlt-vom-scheitern-politischen-widerstands-in-nigeria/

Ein Höhepunkt war das Gastspiel der Michael Clarl Company vom Barbican Centre mit einer Hommage an Patti Smith und David Bowie. Zu den treibenden Klängen von „Horses“ verknäueln und umschlingen sich die Mitglieder seines Ensembles in schwarzen Lederhosen. Im Hintergrund flimmert die Videoinstallation „Painting by Numbers“ von Charles Atlas (2010). Dieser zweite Akt des Abends, der mit „Land“ überschrieben ist, ist eine tolle Übersetzung des Patti Smith-Klassikers von 1977 in eine spannende Kombination aus Video und Tanztheater.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/08/17/michael-clark-company-barbican-hommage-an-patti-smith-und-david-bowie-bei-tanz-im-august/

"Kreatur", die neue Choreographie von Sasha Waltz & Guests, war zwei Monate nach der Premiere im Radialsystem V ins Haus der Festspiele eingeladen. „Kreatur“ ist als 90minütiger Streifzug durch das menschliche Leben angelegt, der mehr auf Assoziationen als auf einen roten Faden setzt. Im Gedächtnis bleiben vor allem zwei Szenen: im Kasernenhofton brüllt eine Tänzerin ihre Kollegin zusammen, drängt sie an die Bühnenrampe. Die restliche Gruppe bleibt als Mitläufer im Hintergrund, das Mobbingopfer ist isoliert.

In der zweiten Szene werden die halbnackten, schutzlosen 13 von Clémentine Deluy als in einem eindrucksvollem Kostüm als schwarzes, stachliges, undefinierbares Wesen bedrängt und gepiekst, so dass sie schmerzverzerrt noch enger zusammenrücken.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/08/22/kreatur-sasha-waltz-mit-stachel-kostuemen-und-sound-collagen-bei-tanz-im-august/

"Dark Field Analysis" im HAU 2 war eine der kleineren Produktionen des Festivals und hat das Blut als Leitmotiv. Nach stillem Beginn entwickelt es sich zu einem Angriff auf die Gehörgänge. "Dark Field Analysis" ist ästhetisch ambitioniert, aber inhaltlich dünn.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/08/24/dark-field-analysis-meditation-ueber-blut-in-dunkelheit-im-hau-2/

Rocío Molina wurde als Erneuerin des Flamenco angekündigt. Anfangs wälzt sie sich still und todessehnsüchtig minutenlang in ihrem weißen Kleid am Boden. Genauso plakativ zieht sie später mit einem in blutrote Farbe getränkten Kleid Muster über die Bühne. Der Abend endet mit verzerrt aufjaulenden E-Gitarren ihrer Musiker und Rocker-Posen der Hauptdarstellerin. Alles wird überdeutlich und allzu pathetisch ausgestellt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/08/26/rocio-molina-mit-flamenco-stil-mix-beim-tanz-im-august/
Mailles, Mannheim/Berlin: Variationen
Als Gegenpol zu "Unwanted" entwickelte Dorothée Munyaneza den kleinen, poetischen Abend "Mailles". Der Titel bedeutet Maschen, die sich zu einem Ganzen verweben. Munyaneza, die aus Ruanda stammt, stellt fünf schwarze Frauen vor, die ihr in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen künstlerischen Konstellationen begegnet sind.

Sie erzählen in Spoken Word Performances in ihren jeweiligen, auf Englisch untertitelten Muttersprachen ode bieten kleine tänzerische Soli. Diese einzelnen Fäden führt Munyaneza, die auch selbst auf der Bühne steht, immer wieder zu Gruppen-Szenen zusammen, in denen die Frauen gemeinsam tanzen, singen oder musizieren.

Der etwas mehr als einstündige Abend ist geprägt von heftigen Stimmungswechseln und häufigen Rhythmus-Variationen. Lebensfreude mit „We are alive“-Jubelschreien steht neben Miniaturen von Schmerz und Trauer. In der Choreographie wird jedoch nichts plakativ erklärt, sondern meist nur angedeutet.

"Mailles" läuft noch bis morgen Abend als Stream bei den Schillertagen Mannheim oder live an der Volksbühne am 14./15.8. bei Tanz im August.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/22/mailles-dorothee-munyaneza-tanz-kritik/
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