Klischees mit wahrem Kern

26. August 2017. Für Deutschlandfunk Kultur analysiert Tobi Müller die Debatte über Sexismus im Studiengang Szenisches Schreiben der Universität der Künste Berlin, die durch einen Artikel von Darja Stocker im Blog des Merkur (hier unsere Zusammenfassung) ausgelöst wurde und mit Erwiderungen von Anne Rabe und Oliver Bukowski auf nachtkritik.de weiterging.

Müller konstatiert auf der einen Seite ein "Schreien und Brüllen", auf der anderen ein "ungeniertes Schwitzklima des 'Sei-doch-mal-nicht-so-kompliziert'"; dieses Debattenklima verweise "auf eine kulturelle Differenz, die in Deutschland seit der Wiedervereinigung zum Verdrängten gehört". "Der Osten, die DDR, kannte kein 1968", führt Müller aus. "Gleichzeitig hatte der antiautoritäre Teil der Studentenbewegung in Westdeutschland enormen Erfolg. Gerade in der Kindererziehung reichte der Arm von 68 bis in bildungsferne und nicht-linke Familien hinein. Es war in den Siebzigern plötzlich nicht mehr okay, ständig rumzuschreien zu Hause. An einem beliebigen See in Brandenburg werden Kinder noch heute rasch laut angegangen, während tätowierte Väter im Ruhrgebiet im Spaßbad zärtlicher mit der Brut umgehen."

Darja Stocker sei Schweizerin "und damit dem verweichlichten Westen zuzurechnen", Bukowski und Rabe "kommen beide aus dem harten Osten", so Müller: "Soweit die Klischees, die leider einen wahren Kern haben." Und schaut noch einmal zurück auf die alte Volksbühne, wo beide Perspektiven zusammengekommen seien: "Frank Castorf, Gott des ungläubigen Ostens, hat während 25 Jahren nie aufgehört, seine Frauen in Unterwäsche und hohen Hacken über die Bühne zu jagen. Das war Teil der deutsch-deutschen Psychohygiene." Die Volksbühne sei stolz gewesen auf ihre politische Unkorrektheit, "sie war alles, was der Westen nicht mehr sein durfte." Aber Christoph Marthaler und Schlingensief hätten ja an derselben Volksbühne ein völlig anderes Frauenbild gezeigt – "der Schweizer Marthaler stand in der 68er-Tradition, der Westler Schlingensief in jener von Joseph Beuys, dem antiautoritären Star der alten Bundesrepublik."

(sd)

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