Lautes Vorlesen in Gruppensituationen

von Thomas Rothschild

7. September 2017. Die Aufführungsanalyse ist, möchte man meinen, Domäne des Theaterkritikers. Neben der Stückanalyse – zumal bei Uraufführungen oder bei vergessenen und wiederentdeckten Werken – und der Bewertung macht sie den Kern einer Theaterkritik aus. Über die wünschenswerte Gewichtung dieser drei Bestandteile sind Kritiker und Redakteure unterschiedlicher Auffassung, wie der regelmäßige Leser von nachtkritik.de ohne große Mühe beobachten kann.

buch auffuehrungsanalyseDer vorliegende in einer für Studenten konzipierten Reihe erschienene und von zwei Universitätslehrern geschriebene Band aber wendet sich an Theaterwissenschaftler. Er ist, wie bei vielen Büchern dieses Typs, das Ergebnis von Erfahrungen in Seminaren und spekuliert wohl – der Untertitel "Eine Einführung" deutet darauf hin – auf die Verwendung in Grundkursen, eine Rechnung, die für den Absatz und den Verlag, wenn sie aufgeht, sicher vorteilhafter ist als eine Ausrichtung auf den schwer fassbaren "interessierten Laien".

Wenig Platz für Regie und Interpretation

Dass die Verfasser offenkundig Erstsemester-Studenten im Visier haben, wird deutlich durch die Voraussetzungslosigkeit ihrer Argumentation und den bisweilen aufdringlichen pädagogischen Tonfall. Es ist, als müssten sie überhaupt erst die Neugier für das Theater wecken, von dem sie gleich im ersten Absatz vermuten, dass es selbst bei Studenten der Theaterwissenschaft "in der Beliebtheitsskala ihrer Freizeitunternehmungen keinen der oberen Ränge" einnehme.

Die Systematik der Einführung ist etwas verwirrend. Während drei Kapitel nach einem knappen Überblick über die Geschichte der Aufführungsanalyse im 20. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt von Disziplinen bzw. Herangehensweisen – Semiotik, Phänomenologie, Erinnerungsarbeit – geordnet sind, beschäftigen sich drei weitere Kapitel mit Elementen der Aufführung: dem Raum, der Figur und dem Text. Regie und Interpretation füllen lediglich einen "Exkurs" von eineinhalb Druckseiten.

Wissenschaftliche Positionen, konkrete Handlungsanweisungen

Nachdem bereits in diesen Kapiteln Beispiele kursorisch analysiert wurden, folgen in einem eigenen Kapitel drei umfangreichere Analysen: der Performance "While We Were Holding It Together" von Ivana Müller, der "Medea" von Michael Thalheimer am Schauspiel Frankfurt und des partizipativen Projekts "Earthport". Erst danach und mit Verweisen auf die analysierten Aufführungen wird auf die Kategorie der Zeit eingegangen. Hinweise auf die Bedeutung von Requisiten – bei einer Aufführungsanalyse nicht ganz unwesentlich – findet man dagegen im Kapitel über den Raum, Ausführungen zum Kostüm im Kapitel über die Figur.

Liegt es daran, dass die zwei Autoren nicht eng genug zusammengearbeitet haben oder dass die einzelnen Kapitel aus Lehrveranstaltungen unterschiedlichen Formats stammen? Die Uneinheitlichkeit der Gesamtstruktur jedenfalls kennzeichnet auch das Verhältnis der Kapitel zueinander. Während in den Teilen über Semiotik und Phänomenologie vorwiegend prominente Wissenschaftler – Umberto Eco, Erika Fischer-Lichte, Gay McAuley, Edmund Husserl – referiert werden, hat das Kapitel über "Aufführungsanalyse als Erinnerungsarbeit" eher Anweisungscharakter. Das klingt dann so: "Das Lesen kann sich als stille Lektüre des eigenen Protokolls oder dessen anderer vollziehen. Es kann aber auch als lautes Vorlesen in Gruppensituationen vonstattengehen." (Eine stilistische Bewertung solcher Vorschläge verkneifen wir uns.)

Der Wissenschaftler als Kritiker?

Hilf- und aufschlussreicher als die Verallgemeinerungen sind in diesem Buch tatsächlich die eingeschobenen Beispielanalysen, etwa einer Inszenierung von "Maß für Maß" durch Florian Fiedler in Hannover, einer Inszenierung von "Ödipus der Tyrann" durch Romeo Castellucci in Berlin oder von "BRACE UP!" der New Yorker Wooster Group. Dann wieder verliert sich die Darstellung im Einzelfall – etwa wenn die Problematik der gegengeschlechtlichen Besetzung am sehr spezifischen Exempel von Frank Castorfs Inszenierung von "Des Teufels General" mit Corinna Harfouch und Sophie Rois abgehandelt wird.

Gegen Ende des Unterkapitels über den "Text als Referenz der Aufführung" steht ein Abschnitt, der den Verdacht erweckt, dass die Autoren doch, jedenfalls vorübergehend, den Theaterwissenschaftler als Tageskritiker begreifen. "Gerade deshalb ist es wichtig unbestimmte Erwartungen in der Aufführungsanalyse aufzugreifen und zu untersuchen, weil sie dem analysierenden Zuschauer oder der Zuschauerin vor Augen führen, wodurch seine oder ihre Wahrnehmung bedingt ist und zugleich Hinweise darauf geben, wie eine konkrete Inszenierung mit stereotypen Vorstellungen und kulturellen Vorurteilen operiert. Die Auseinandersetzung mit der Differenzerfahrung weist so auf das Spezifische der jeweiligen Inszenierung hin, hilft es zu entdecken und in seiner Eigenart zu beschreiben und schließlich auch zu bewerten." "Auch wenn Theaterkritiken im Feuilleton und Aufführungsanalysen in der Theaterwissenschaft prinzipiell unterschiedliche Textsorten bedienen" – so die Autoren im kurzen Abschlusskapitel: Wo, wenn nicht in der Theaterkritik, träfe der professionelle Analytiker einer Aufführung auf den Zuschauer oder die Zuschauerin, wo, wenn nicht eben da, wäre das Spezifische einer Inszenierung zu bewerten?

Aufführungsanalyse. Eine Einführung
von Christel Weiler/Jens Roselt
A. Francke (utb 3523), Tübingen 2017
387 Seiten, 26,99 Euro

 

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