Wohlständlerinnen-Lamento

von Anne Peter

Berlin, 1. Juni 2008. Rockend auf Hochhausdächern. So hat man dieses Trio in Erinnerung: Katja Riemann entschlossen am Schlagzeug, Jasmin Tabatabai mit wild fliegenden Haaren und Nicolette Krebitz, der lässig die Gitarre um den Hals hängt. Drei Vogelfreie auf ihrem letzten Konzert.

 

 

Die "bandits" im Kino, das ist 11 Jahre her – genauso lang, wie Anton Tschechows drei Schwestern schon nicht mehr in Moskau wohnen. Für ihr Comeback sind die ehemaligen Bandmitglieder, im Hauptberuf Film-Schauspielerinnen, die teilweise weiterhin Musik und bisweilen auch Theater machen, da eingezogen, wo man sonst die Boulevard-Sparte pflegt: ins Theater am Kurfürstendamm. Dort nehmen sie sich nun unter der Regie von Amina Gusner, die Riemann unter anderem schon als "Hedda Gabler" und "Anna Karenina" auf die Bühne schickte, eben die "Drei Schwestern" vor.

On the road again?

Ist es unfair, die drei an jenem MTV-styligen Roadmovie um vier aus dem Knast türmende Powerfrauen zu messen? Vielleicht. Andererseits befeuert das Theaterplakat, das die drei irgendwo auf dem Land in cooler Pose auf einer Motorhaube zeigt, die diesbezüglichen Erwartungen. Schrift und Shirt-Farben ähnlich wie beim "bandits"-Poster. Drei Schwestern on the road? Das wäre ja mal was. Und werden sie wieder singen?

Kaum. Einmal summt man zu dritt ein bisschen zur Gitarre, ein andermal wird kurz geheadbangt. Ein Auto kommt in der Inszenierung auch nicht vor, weil die Geschwister bekanntermaßen ja niemals aufbrechen nach Moskau oder sonst wohin. Stattdessen sieht man die Prosorow-Töchter in der von Gusner und Dramaturgin Anne-Sylvie König erstellten Fassung, sehr "frei nach" Tschechow, ins vorgeblich ganz und gar heutige Mittelstands-Milieu gekarrt.

Dabei wollte man der russischen Schwermut von vor gut hundert Jahren möglichst umfassend davondüsen. Bevor man im kühlen Couchambiente mit zentralem Glashaus (in dem man die Stirn schön sehnsüchtig ans Plexiglas drücken kann) zum Stehen kommt, wurde bei der zupackenden Auf-in-die-Gegenwart-Fahrt neben Tschechows feinnerviger Figurenpsychologie und philosophischen Schwadronier-Passagen alles entsorgt, was auch nur irgendwie anachronistisch daherkommen könnte: kein Militär mehr, kein besoffener Arzt, kein frotzelnder Soljony, keine alten Dienstboten.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Mascha ist erklärtermaßen gern dekadent und liest keine Bücher, Olga ist Dozentin an der Provinz-Uni und Irina jobbt erstmal im Call-Center. Oberst Werschinin, dem die verheiratete Mascha verfällt, ist Jurist (klischeemäßig smart: Jörg Pintsch); ihr Mann Kulygin nicht Lehrer, sondern Psychologe (selbst nervenbündelig: Frank Voigtmann) und Tusenbach kein Baron, sondern ein sogenannter Künstler (Heiko Senst), der sich, um der geliebten Irina näher zu sein, eine Dokumentation über die drei Schwestern zu schreiben anschickt und den anderen gern das Diktiergerät unter die Nase hält.

Nicht nur wird der Melancholie-Klassiker mit Höchstgeschwindigkeit an die vermutete Lebenswelt des Publikums herangezoomt. Auch die drei Schwestern sind so umgemodelt, dass sie ihren Darstellerinnen wie angegossen passen. Ihr Zuschnitt lässt sich dabei schon recht gut an den Kostümen (Inken Gusner) ablesen: schulterfreier, aber vorne züchtig zugeknöpfter Hosenanzug für Riemann, Krebitz als Jungvögelchen im flatternden Blumenmusterhemdchen und Tabatabai als verruchte Lady in Pink. Und alle drei tun dabei, was sie am besten können: Riemann streng bis hysterisch, Krebitz naiv, Tabatabai rauwütig. Auch darin ein bisschen "bandits"-Revival.

Fade Falten-Frustration

Aber ach, was ist aus den Ausbruchs-Rebellinnen geworden? Und was aus den drei Schwestern? Die sind heruntergefahren aufs Wohlständlerinnen-Lamento. Warum, fragt man sich, schaffen diese drei heutigen Damen den Absprung in die Hauptstadt nicht? Warum ist diese Irina auf den erstbesten Tusenbach angewiesen? Welches Problem haben diese drei Frauen eigentlich, außer Falten-Frustration und einer Midlife-Crisis der Rundumversorgten? Das mag als Lesart zwar irgendwie aufgehen, macht die Figuren aber ziemlich langweilig und so eindeutig eindimensional, dass der Identifikationsgrad gerade durch die Extremheranrückung auf ein Minimum zusammenschrumpft, obwohl die Spielweise doch auf Einfühlung abzielt.

Jedes Geheimnis, alles Angedeutete wird im Spiel ausgeplaudert, jede Nuance oder Ambivalenz mit Überdeutlichkeit abgeklebt. Mascha und Werschinin müssen nicht erst ums Zueinander-Können ringen, sondern dürfen sich flugs erotisch räkeln. Olgas leise Leidenschaft für Kulygin poltert im unbeholfenen Sofa-Duett heraus. Und für alles hat Psychologe Kulygin auch noch eine in Psycho-Formeln gepackte Erklärung bereit.

Über all das klar Erkennbare darf außerdem ruhig noch gelacht werden. Dafür sorgen ausgiebig platzierte Pointen – unbedingtes Komödie- und Bloß-nicht-langweilig-sein-Wollen. Da könnte man glatt ein wenig melancholisch werden. Die guten alten Zeiten. Nach Moskau. Aufs Hochhausdach.

Drei Schwestern
frei nach Anton Tschechow von Amina Gusner und Anne-Sylvie König
Regie: Amina Gusner, Bühne: Uta Kala/José Eduardo Luna Zankoff, Kostüme: Inken Gusner.
Mit: Nicolette Krebitz, Jörg Pintsch, Katja Riemann, Heiko Senst, Jasmin Tabatabai, Frank Voigtmann.

www.komoedie-berlin.de

 

 

Kritikenrundschau

"Gefühlte fünfzig Kamerateams" hätten sich bei der Premiere im Foyer gedrängelt, schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (3.6.2008). Aber Amina Gusner und ihre Dramaturgin Anne-Sylvie König hätten die Inszenierung besser "Die drei von der Zankstelle" nennen sollen. Denn auf einer Bühne, die aussehe "wie ein Edelpuff" würde eine Heutigkeit vorgeführt, die so "vorgestrig" sei wie lange nicht. Nicolette Krebitz als Irina bekäme "pünktlich zum dreißigsten Geburtstag Ego-Migräne", Katja Riemanns Olga "klagt vor allem: 'Ich bin alt.'" Und Jasmin Tabatabai als Mascha "neigt zu irritierenden cholerischen Ausbrüchen und bekennt zwischendrin, Charlotte Roches 'Feuchtgebiete' nicht gelesen zu haben." Für "ein paar Kalauer" werde Tschechow hier verkauft.


"Albern, bieder, schlecht gespielt", heißt es in der Berliner Zeitung (3.6.2008) schon in der Überschrift. Aus "Tschechows Meister-Stück", schreibt Dirk Pilz, sei "eine himmelschreiend plumpe Banalität geworden, die nichts weiter will und kann, als unverhohlen mit der Speckseite nach dem Publikum zu werfen". Wobei er der Regisseurin nicht vorwirft, das Stück in das heutige Berlin-Charlottenburg verlagert zu haben. Das sei ja ein üblicher Vorgang im Regietheater. Das Problem aber sei, dass die Figuren dabei alle "vereindeutigt" worden seien. "Man sieht lauter Gemeinplatzbewacher in einer Seelenaustreibungsinszenierung, die weder gehobener Boulevard noch tiefer gelegtes Regietheater, sondern schlicht eine verunglückte Starversammlungsveranstaltung ist."


Auch Peter Hans Göpfert in der Berliner Morgenpost (3.6.2008) schließt sich an: "Der Abend ist kurz und dennoch zu lang. Er erreicht nie das Stadium einer so ernst wie komisch zu nehmenden Parodie. Die Versuche der 'Aktualisierung' bleiben trivial an der Oberfläche. Vor allem aber gelingt es Gusner diesmal nicht, dem ausgedünnten Schauspiel eine eigene Form (und Spiel-Form) zu geben. Der Inszenierung fehlen Witz, Kunstverstand und Eleganz. Schade für Tschechow."

 

Vor der Aufgabe, Tschechow im Boulevardtheater zu "rocken" beziehungsweise "seinen alten Mädels den Marsch" zu blasen, könnten selbst große Darstellerinnen erbleichen", schreibte Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.6.2008). Wohl daher hätten alle "den Weg des geringsten Widerstandes" gewählt. Nicht nur sei die Textfassung ziemlich "platt", sondern: "Alle sprechen wie aus einer Vorabendserie, sehen aus, als kämen sie von dort und bleiben in jeder Hinsicht auf deren schrumpfformatigem Niveau." – "'Begabt ist kein Beruf', sagt Heiko Senst als Tusenbach einmal, und anzufügen wäre nur noch: unbegabt aber auch nicht."