The Winner Takes It All!

von Stefan Schmidt

Hamburg, 8. September 2017. "Where are those happy days? They seem so hard to find." Dieses SOS hat ABBA schon Mitte der 1970er Jahre in die Welt lamentiert. Dabei verliefen damals die ideologischen Linien doch noch wesentlich klarer, und die Politik hatte der Bühne das schöne Spiel von Schein und Sein, von perfekter Pose und sehnsuchtsvoller Illusion noch nicht vollständig streitig gemacht. In diese goldenen Popzeiten flüchtet sich Regisseur Stefan Pucher mit seiner Inszenierung von Molières Betrügergeschichte "Tartuffe" am Hamburger Thalia Theater, das damit in die neue Spielzeit startet.

Inszenierung von Inszenierungen

Optisch macht das erstmal relativ viel her: knallbunte Kostüme (von Annabelle Witt) mit glitzernden runden Applikationen, ausladenden Rüschen, kurzen Röcke, Highheels. Menschen in wallenden Perücken vollführen große Gesten vor dem Hintergrund eines kupfergolden schimmernden Vorhangs, der ein rundes, drehbares Podest umgibt, das sichtbar wird, nachdem sich der rote Bühnenvorhang gehoben hat und die Projektion eines weiteren Vorhangs auf einer Videoleinwand nach hinten verschwunden ist.

tartuffe 560 ArmonSmailovic hKupfergoldenes Schimmern für die durchtheatralisierte Gesellschaft: der Vorhang auf der Bühne von Barbara Ehnes  © Armin Smailovic

Ja, wir haben es mit der Inszenierung von Inszenierungen von Inszenierungen zu tun. Diese Bühne spiegelt eine durch und durch theatrale Gesellschaft, in der sowieso so gut wie nichts und niemand mehr so wirklich echt ist, und das Regieteam macht daraus auf der Grundlage einer jahrhundertelang durchgenudelten Komödie eine große Show. Allerdings stellt sich – der Inszenierung folgend – mit ABBA dann doch recht bald die Frage: "What's the name of the game? Does it mean anything to you?"

Das jüngste Gerücht

Stellenweise ergeben die musikalischen Anleihen der Inszenierung beim Schwedenpop durchaus Sinn: Wenn etwa die junge Mariane auf Valère trifft, um ihm mitzuteilen, dass sie ihn nun möglicherweise doch nicht heiraten wird, weil ihr Vater Orgon den vermeintlich frommen Tartuffe für sie auserkoren hat. Da singt sich das Bühnenpersonal leidlich emotionsbefreit durch Synthieversionen von "SOS" über "Honey, Honey" bis zu "Mamma Mia" - und es wird klar: Diese Liebe, die es hier angeblich zu verteidigen gilt, ist eigentlich nur eine Ansammlung schmalziger Klischees. Was sollte die bonbonartig adrette, latent haltungslose Blondine der mit sanfter Ironie überzeugend aufspielenden Birte Schnöink denn auch an diesen bubihaften Waschlappen von Valère binden, der in kurzen blauen Hosen und mit hochgezogenen weißen Socken zum Date mit seiner Angebeteten auftaucht? Bekim Latifi gibt diese Witzfigur von einem Mann, und er empfiehlt sich dabei als Neuzugang im festen Ensemble des Thalia Theaters (frisch von der Schauspielschule entführt) mit lässigem Augenzwinkern für größere Rollen.

Überhaupt ist es ein Abend der starken, spannenden Darsteller, die aber immer wieder an Grenzen stoßen, weil sie allzu offensichtlich hohle Typen in einer allzu offensichtlich hohlen Welt geben müssen. Der heuchlerische Schmarotzer Tartuffe, das wird schnell deutlich, kann sich nur deshalb mit Lügen und alternativen Fakten (ja, genau!) die Gunst der Familienoberhäupter erschleichen, weil es bei den meisten anderen mit der Wahrhaftigkeit auch nicht so wirklich weit her ist und weil fast jeder stattdessen mit sich selbst und seiner öffentlichen Wirkung beschäftigt ist. "Haben wir denn nicht gelernt, das jüngste Gerücht (!) zu fürchten“, fragt Orgons Frau Elmire einmal scheinheilig Tartuffe. Diese Angst ist wohl berechtigt, denn Lisa Hagmeister spielt die Dame von Anfang an als lüsterne Schlampe, die sich gerne mal lasziv auf einem Sessel räkelt und den Avancen des Eindringlings möglicherweise weniger abgeneigt ist, als sie zugibt.

Tartuffe 03 Thalia 560 Armin Smailovic hOverdressed: Tartuffe alias Jörg Pohl  © Armin Smailovic

Plakative Bilder

So entstehen zwischen ihr und dem Tartuffe des Jörg Pohl lustvoll zugespitzte Szenen, in denen sich etwa sein behauptetes rhetorisches Geschick in der zigfach wiederholten Lobpreisung Elmires als "schön" erschöpft (und sich damit als schmeichelhaftes Geschwätz entlarvt), während sie blöde geblendet kontert: "Ach so." Der verlogene Betrüger sucht seinen Vorteil, indem er die Sehnsüchte der Menschen in seiner Umgebung bedient. Mit diesem Ansatz ist der großartige Jörg Pohl als Schauspieler genauso unterfordert, wie er als gesellschaftlich politische Analyse im 21. Jahrhundert zu kurz greift.

In ihrem Bemühen um pointierte Positionierungen und plakative Bilder gerät die Inszenierung insgesamt stellenweise allzu wohlfeil: Wenn etwa der pseudofromme Tartuffe zum ersten Mal leibhaftig die Bühne betritt, trägt er eine ausladende Bischofsmontur (derer er sich dann auch schnell wieder entledigt). Eine Anmaßung, die sich der Theatermann Molière zu seiner Zeit wohl kaum gewagt hätte, die aber im Hamburg des Jahres 2017 über den Showeffekt hinaus keine Wirkung mehr zu erzielen vermag. Ebenso überflüssig ist etwa der Musikclip, in dem der betrogene Orgon gegen Ende des Abends "Money, money, money" singt. Ja, natürlich, er hat sein Hab und Gut dümmlicherweise Tartuffe überschrieben, aber für den Einsatz von ABBA-Songs auf der Bühne haben Musicalmacher schon überzeugendere Motivationsvolten geschlagen.

Schaler Traum aus anderer Zeit

The "Das so genannte Böse bin ich,“ sagt Jörg Pohl an diesem Abend einmal so grandios aasig selbstgefällig, wie er es widerlich alltäglich kann. Als Shakespeares Richard III. hat er genau diese Selbstverständlichkeit des egozentrisch Zerstörerischen in gruseliger Perfektion auf die Bühne des Thalia Theaters gebracht. Dem Tartuffe geht dagegen diese unbedingte Schlagkraft ab, und das hat damit zu tun, dass Stefan Puchers Inszenierung daherkommt wie ein ferner, schaler Traum aus einer anderen Zeit, in der Schauspielkunst und Musik dazu dienen sollten, über die Unzulänglichkeiten der Wirklichkeit hinwegzutrösten: "I have a dream, a fantasy, to help me through reality."

Es ist die Schauspielerin Karin Neuhäuser, die diesen eskapistisch biederen ABBA-Song direkt zu Beginn der Inszenierung singt und damit den Ton für den Rest der Produktion vorgibt. Und es ist dieselbe Darstellerin, die am Ende des Abends "The winner takes it all" anstimmt und damit dem fragwürdigen Happy End der Handlung einen bitteren Unterton beimischt. Kaum zu glauben, dass sie im Hamburg des 21. Jahrhunderts ernsthaft noch Molières Hofknicks vor dem französischen Königshof des 17. Jahrhunderts nachspielen: Nachdem Orgon und seine Familie durch die eigene Verblendung schon alles an Tartuffe verloren haben, kommt unvermittelt ein Staatsdiener daher und macht den ganzen Schwindel wieder rückgängig. Deus ex machina der alten Schule. Weltflucht perfekt. Mamma mia! SOS!

 

Tartuffe
von Molière
Übersetzung von Luc Bondy und Peter Stephan Jungk
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video: Meika Dresenkamp, Dramaturgie: Julia Lochte
Mit: Lisa Hagemeister, Bekim Latifi, Matthias Leja, Oliver Mallison, Karin Neuhäuser, Jörg Pohl, Birte Schnöink, Steffen Siegmund, Victoria Trauttmansdorff
Dauer: 1 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Würde Tartuffe heute leben, er hieße Donald Trump", holt Till Briegleb in seiner Kritik (Süddeutsche Zeitung, 12.9.2017) aus. In Molières Skandal-Komödie von 1664 finden sich Parallelen zwischen Wirklichkeit und Fiktion narzisstischer Politik. "Nur nicht in der Version von Stefan Pucher, die dieser zur Saisoneröffnung des Hamburger Thalia Theaters groß aufgetischt hat (von inszeniert kann man in diesem Fall leider nicht sprechen)." Pucher finde in dem Stoff vielmehr Abba. "In einer komplett statischen Addition greller Zirkuseffekte in Kostüm und Bühne und ohne jeden dramaturgischen Bogen und Sinn fürs Feine dient das Wiedererkennen der fröhlichen Hits der Behauptung dieser Aufführung, eine Komödie zu sein." Fazit: Das viel gelobte Ensemble des Thalia Theaters spiele so weit unter seinem Niveau, "dass man versucht ist zu glauben, die Energie- und Kreativreserven des Hauses hätten sich in der nun achtjährigen Intendanten-Etappe von Joachim Lux langsam wirklich erschöpft".

"Grellbunt und poppig machte der Regisseur aus der französischen Komödie um den Heuchler und Betrüger Tartuffe ein ABBA-Jukebox-Musical." Das scheitere schon daran, dass kaum einer im Thalia-Ensemble singen könne. "Diesmal klang es besonders schrecklich", stöhnt Stefan Grund von der Welt (11.9.2017). "Pucher gelingt weder die Klamotte à la Fritsch noch sein Musical-Plan. Eine neue Fassung auf Basis des Molier’schen Wortwitzes auf die Spitze zu treiben versucht er gar nicht erst und bleibt damit im misslungenen Musical stecken."

"Warum die ABBAisierung? Weil die Songs von Sehnsucht und Träumen von einer besseren Zukunft erzählen?“, fragt sich Heide Soltau vom NDR (9.9.2017) Stefan Pucher setze ganz auf die Sprache Molières und lasse die Schauspieler mit Mikroports spielen. "Eine gute Entscheidung, denn Molières Text lebt von seinem Sprachwitz und den kleinen Gemeinheiten." Dennoch präsentiere Pucher einen seltsam unentschiedenen Tartuffe: "Temporeich und von der Optik her ansprechend, aber inhaltlich wenig überzeugend."

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