Im mitleidlosen Räderwerk

von Claude Bühler

Basel, 15. September 2017. Wer sich gerne von Theater im Spektakelformat, etwa einer "Pink Floyd, The Wall"-Show, hinreißen lässt, der dürfte bei Ulrich Rasches Inszenierung von Georg Büchners "Woyzeck" auf seine Kosten kommen. Hier wie dort: ein etwas kranker Isolierter, misshandelt von Autoritätspersonen, ausgesetzt einer übermächtigen Bühnenmaschinenwelt, wird zum Missetäter, und sein Schicksal wird unausgesetzt von einer mal schaurigen, mal anrührenden, vor allem aber vorantreibenden Klangwalze moderiert.

Monika Roschers präzise auf das Script getimte Komposition, dargeboten von Livemusikern, positioniert die Aufführung in das aufs Lineare bedachte Ausdrucksspektrum der etwas gehobenen Populärkultur: sie nimmt Anleihen beim moderateren Material der Krachsymphoniker "Einstürzende Neubauten", bei den repetitiven Patterns des Minimal-Musikers Steve Reich, bei der Melancholie von Pink Floyd.

Mühseliges Mahlwerk

Der Hauptdarsteller ist nicht Büchners Kreatur sondern eine monumentale Stahldrehscheibe von rund zwölf Meter Durchmessern. Sich unablässig im Uhrzeigersinn drehend und dazu noch in Schieflage, hält sie das Ensemble auf der Spielfläche unbarmherzig derart auf Trab, dass der Kampf um das Gleichgewicht und die Mühsal, seinen Standort zu halten, zur dramaturgischen Aussage werden: Anstrengend und gefährlich ist das Erdenleben, du darfst nicht fallen, musst aufrecht gehen. Im mitleidlosen Räderwerk auf schwarzer Bühne, weiß beleuchtet, sind alle bloß Figur: alle Täter – die meisten auch Opfer.

woyzek 560 SandraThen uIrrende Individuen in wackeliger Weltlage: Ulrich Rasches Baseler "Woyzeck" © Sandra Then

Die unterhaltende Show, wie ein Uhrwerk durchgetaktet, zieht uns ohne Spannungshänger durch Büchners Krimi-Moritat. Sie erzählt, wie der einfache Soldat vom Hauptmann zurechtgewiesen, vom Doktor als Versuchskaninchen mit einer Erbsenkur misshandelt, vom auftrumpfenden Tambourmajor verprügelt, von seiner Freundin Marie betrogen und wie er an ihr zum Mörder wird. Sein lachendes Gesicht, wenn er sie zum letzten Gang auffordert, zeigt, hier will sich einer vom allgemeinen Druck erleichtern und nicht bloss aus Eifersucht töten.

Stählerner Soundtrack ohne Stille

Indem schwarze Kostüme statt ständischer Kleidung getragen werden, auch keine Garnisonsstadt dargestellt wird, dramatisieren Regie und Dramaturgie mit klar gesetzten Tableaus eine an vielen Stellen abstrahierte, etwas allgemein geratene überzeitliche Weltklage über die Zumutungen der sexuellen "Natur" und die Verrohung einer Gesellschaft ohne geistiges Korrektiv. Zwar hat die Dramaturgie aus Büchners Fragment die am häufigsten gespielte Szenenfolge gewählt, aber die Stellen betont, wo der Mensch mit dem Tier verglichen und die Frage, was den Menschen denn ausmacht, herausgefordert wird. So wird Woyzeck etwa in der Schule als Esel gedemütigt.

woyzek 560a SandraThen uMit Gurtsystem, doch ohne Halt: Nicola Mastroberardino mit Thiemo Strutzenberger und Florian von Manteuffel in "Woyzeck" © Sandra Then

Das grosse Opfer des Abends ist Woyzeck aber nicht nur in Büchners Sinne. Das kreischend-rasselnde Stahlmonstrum, der Vollsoundtrack lassen ihm keine Stille, in welcher der bis zur Schizophrenie Luzide seine Stimmen hören kann, die ihn quälen, ihm endlich befehlen, seine untreue Freundin Marie zu töten. Geben uns keinen Raum, den Naiven mit seiner "Keuschheit des Geringen" (Elias Canetti) so zu erleben, dass er uns irritiert. Der Mann hat ja nicht bloß paranoide Zustände, sondern auch ins Mark treffende Ahnungen, stellt himmelschreiende Fragen zum Sein des Menschen: Nicola Mastroberardinos Nuancen gehen weitgehend im Allgemeinkirmes unter, kommen nicht über die Rampe.

Zur Verrohung verdammt

Die Konkurrenz zur Musik ist zuweilen so stark, dass trotz Mikro-Headset über Teile des Abends mit forciertem Ton bis hin zur Schreigrenze gesprochen wird. Zeigen wollte uns Rasche "die herrschende Verrohung auch als eine der Sprache". So lässt er Büchners Sätze mit langen Pausen zerdehnt skandieren. Büchners hochagile Sprache, wo der Alltag einfacher Leute im Nu in philosophische Erörterungen umschlägt, wirkt, zur Gleichförmigkeit verdammt, schwerfällig, verliert den schnellen Witz, mit der sie überrascht. Dazu lässt er uns Passagen im rhythmischen Chor einhämmern: ein meist humorloses Getrampel ohne Erkenntnismehrwert. Mit dem Wunsch "eindrucksvoll" zu wirken, hintertrieb man die inhaltliche Idee.

Der Abend bietet auch starkes Schauspiel. Interessant im Ansatz ist wie die Marie von Franziska Hackl vom erotisch aufgeladenen Triumphiergehabe hilflos in Gewissensbisse verfällt. Wenn Florian von Manteuffels als harter, zynischer Doktor oder Thiemo Strutzenbergers als schwermütiger Hauptmann auftreten, wird das Drama auf einmal plastisch: Was der Abend sonst nie hat, ein Schwanken zwischen Tragik und Komik, eröffnet plötzlich menschliche Abgründe, die die Show ansonsten beharrlich beschwört.

 

Woyzeck
von Georg Büchner
Inszenierung und Bühne: Ulrich Rasche, Bühnenbildmitarbeit: Sabine Mäder, Komposition: Monika Roscher, Sounddesign: Alexander Maschke, Kostüme: Sara Schwartz, Licht: Cornelius Hunziker, Chorleitung: Toni Jessen, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Nicola Mastroberardino, Franziska Hackl, Barbara Horvath, Toni Jessen, Justus Pfankuch, Max Rothbart, Thiemo Strutzenberger, Florian von Manteuffel, Michael Wächter.
Dauer: 3 Stunden und 15 Minuten, eine Pause

www.theaterbasel.ch

 

Kritikenrundschau

Wirkungsvolle Bilder, physische Intensität durch die Musik und die zerdehnt-verstärkte Sprache, ein minimalistisch-skulpturaler Regiestil: Simon Strauss von der FAZ (17.9.2017) hat einen mutigen, kompromisslosen Abend gesehen, "ohne Denunziation und wohlfeile Sozialromantik". Gnadenlos drehe sich die Bühne, den menschlichen Abgrund, vor dem es Woyzeck schwindle, sehe man bei Rasche "in den unbewegten Gesichtern und starren Körpern, die sich ständig dem neuen Grad der Drehung anpassen müssen". Die Inszenierung "nimmt einen mit, kreist einen ein, hämmert sich ins Gedächtnis: Man muss die schwitzende Menschheit straucheln sehen und das kühle Getriebe dabei knirschen hören." Bei aller Faszination bringt der Kritiker einen leisen Einwand an: Mit Beginn sei Woyzeck hier als Täter vorverurteilt. "Von einem inneren Gewissenskonflikt, der Zerrissenheit seiner Seele, ist nicht viel zu spüren", so Strauss. "Verknappt könnte man sagen, dass in Rasches Inszenierung eine Dynamisierung auf Kosten der Psychologie stattfindet."

Faszinierend, aber nur phasenweise überzeugend findet Martin Halter in der Badischen Zeitung (18.9.2017) Rasches Inszenierung. Die Hauptrolle spiele das stählerne Weltmaschinen-Monstrum auf der Drehscheibe, "ein plattgedrücktes Radioteleskop oder eine Jahrmarktsattraktion", die Halter als "eine unmittelbar einleuchtende Metapher für die Unerbittlichkeit des Schicksals" erscheint: "Die Woyzecks stehen am Rand, müssen schneller klettern und rennen, während andere weiter innen sie mühelos überholen. Alle aber müssen sich anketten, um die Zug- und Fliehkräfte der Maschine auszuhalten und nie ins Rutschen oder Zweifeln zu geraten." An den Rand von Kitsch und Leni-Riefenstahl-Ästhetik – welche Ulrich Rasche verschiedentlich vorgeworfen würden – gerate die Inszenierung durch die "Eintönigkeit der Schicksalsmusik". "Mechanische Wiederholung, maschinelle Gleichförmigkeit, puppenhafte Automatik" schränkten die Schauspieler sprachlich, physisch und gestisch allzu sehr ein, so Halter. Doch "die Menschen halten mit der Maschine – zum Glück – nicht immer Schritt".

"Guck mich, guck mich, als wärs das erste Mal", flüstert dieser "Woyzeck" Alexandra Kedves vom Tagesanzeiger (17.9.2017) zu, "während das Piano dunkel dräut und das Schlagzeug Dampf macht". "Und wir schauen, lauschen, zucken dreieinhalb Stunden lang – und entdecken es tatsächlich noch einmal neu, dieses Wahnsinnswerk", ist die Kritikerin beeindruckt. Woyzecks "kei’ Ruh'" sei "das Leitmotiv der druckvollen Inszenierung". Als "Kerneigenschaften von Rasches hochabstraktem, zutiefst anschaulichem 'Woyzeck'" sieht Kedves die entsetzliche Gleichheit und unabwendbare Gewalt, wie sie Büchner in der Menschennatur und den gesellschaftlichen Verhältnissen ausmachte: "Sie sind furchtbar, trommeln uns auch in Phasen des Überdrusses hinein und wieder heraus, bis man dem strengen chorischen Theaterkonzert endlich komplett anheimgefallen ist", schreibt sie. Die Figuren allerdings gewönnen durchaus Gestalt: Franziska Hackls Marie zum Beispiel, aber auch Nicola Mastroberardino Woyzeck, für den sich Kedves "fast die Hände kaputtklatscht".

"Zugegeben, man muss sich als Zuschauer erst einleben in dieses unheimliche, rätselhafte Nichts von einer Szenerie, in diesen eigenartig zerdehnten, künstlich dröhnenden Sprechduktus", schreibt Stephan Reuter in der Baseler Zeitung (18.9.2017). Aber bei allen "Überwältigungsstrategien" offenbare doch "jeder Mensch" hier "seinen Abgrund".  Es handele sich um einen Abend mit "einer grandiosen Energieleistung des Ensembles".

"So hat man Büchners ‚Woyzeck‘ noch nie gesehen. Entkernt und doch gefüllt. Abstrakt und gleichwohl vom geballter Wucht", berichtet Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (18.9.2017). Zwar habe der Abend "Durststrecken", störe die Pause das Konzept des "Sogs" und die für Büchner wichtige "Klassenfrage" sei "eingeebnet". Gleichwohl gerieten insbesondere die Chorszenen "hinreissend" und der Abend entfalte "einen synästhetischen Rausch der Geschlossenheit".

Einen "beklemmenden Alptraum" hat Christine Dössel erlebt, wie sie in der Süddeutschen Zeitung (27.10.2017) schreibt. Rasche müsse aufpassen, dass sein Monsterbühnenzugriff mit Monotonmusik und Männermärschen nicht zur Masche werde. "Aber solange bei ihm Technik und Stück so gut zusammengehen wie bisher, hat die Sprach- und Schicksalswucht, die diese Art von Überwältigungstheater erzeugt, hat dieser Drang zum Gesamtkunstwerk etwas Faszinierendes. Oft auch Berührendes. Rasches Arbeiten wagen sich heraus aus dem Authentizitäts-, Diskurs- und Performancetheater der Gegenwart. Sie haben den Zug zum Größeren (vielleicht auch manchmal zum Größenwahnsinnigen)."

 

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