Vorsicht, zerbrechlich!

von Tobias Prüwer

Leipzig, 16. September 2017. Vom ersten Moment an transportiert "Kasimir und Karoline" vor allem eins: Fragilität. Zart schwingen von einer Glasharmonika melancholische Volksliedloops in den Saal. Dann öffnet sich der rote Vorhang im Schauspiel Leipzig, wo Enrico Lübbe das Krisenstück Ödön von Horváths in eine Wartehalle verlegt hat.

Und nicht aufs Oktoberfest im Weltwirtschaftskrisenjahr 1929, auf das Karoline unbedingt mit ihren Bräutigam Kasimir will. Der hat gerade seinen Job verloren. Es kommt zum Streit, erst trennen sie sich räumlich auf dem Jahrmarkt, Intermezzos und Techtelmechtel mit anderen folgen bis zum großen Bruch. Es ist kein heiteres Volksstück, das Ödön von Horváth seiner krisengeschüttelten Gegenwart auf den Leib schrieb. 1932 in Leipzig uraufgeführt, passt es in Enrico Lübbes Umsetzung auch in die jetzige Zeit. Wie kann sich der Mensch durchschlagen, welche Überlebensstrategien stehen gerade den sozial Schwächeren zur Verfügung? Fragen wie diese werden wieder drängender, Lösungen sind nicht in Sicht. Hier finden sie sich verhandelt und auf den Punkt gebracht: Hunde, wollt ihr ewig (so) leben?

Tristesse im Transitraum

Lübbe setzt dabei vor allem auf Stimmung und Stimme. Seine Bühne ist ein Transitraum, eine Durchgangsstation, wo doch immer wieder alle Figuren hängen bleiben; ein Nicht-Ort. Ein paar Bistrotische stehen in der Bahnhofshalle, WC-Türen und ein Fahrstuhl sind zu sehen, ein Hau-den-Lukas-Automat, ein Tresen. Durch eine Wand aus Milchglasbausteinen deuten wiederkehrende Lichteffekte und Rattern Zugein- und -ausfahrten an. Vom Oktoberfest künden lediglich Volksmusikfetzen aus dem Off. Irgendwo nebenan scheinen Menschen Vergnügen zu finden. Den auftretenden Figuren ist das nicht vergönnt. Fragil ist ihre Konstellation, jederzeit auseinanderzubrechen droht die Beziehung zwischen Kasimir und Karoline, auch jene zum Kasimir-Kumpel Merkl Franz. Von dessen allzeit mit Herablassung kommentierter Liaison zu seiner Erna ganz zu schweigen.

KasimirKaroline Leipzig 03 560 NN uVerloren im Transitraum: Sophie Hottinger, Wenzel Banneyer, Michael Pempelforth, Daniela Keckeis © Rolf Arnold

In einem Gebäude, das Edward Hopper nicht lebloser gestaltet haben könnte (Bühne: Hugo Gretler), staksen sie wie unentschlossene Getriebene in einem bewegungstechnisch minimalistischen Aufsagetheater herum. In anderen Stücken killt Lübbes Beharren auf statischem Ausagieren und fehlender Physis regelmäßig den Stoff. Hier geht sein Ansatz auf. Seine Konzentration auf die Sprache ist ein Gewinn. Exakt pointieren die Darstellenden die Dialoglast, die darum nicht erdrückt. Auch ohne Geschrei und expressive Ausbrüche kehren sie ihr Inneres nach außen, wird das triste Seelenleben deutlich.

Eine Freak-Show entlarvt den Zuschauerblick

Als Kasimir gelingt es Wenzel Banneyer mit leicht groteskem Gesten- und Mienenspiel, die angeknackste Psyche bloßzulegen. Wenn er sich vor fast jeder Bewegung erst einmal den Hosenbund hochzieht und den Kopf hölzern bewegt, sieht man ihm seinen Minderwertigkeitskomplex an. Es ist keine kleine Kunst, dass diese Figurenzeichnung nicht ins Komische abrutscht. Ebenso eindrucksvoll zeigt Daniela Keckeis ihre Karoline, aus der der Traum spricht, auch einmal Glück zu haben im Leben. Mal ist sie selbstbewusste Frau, mal zutiefst verletzte Verlobte, dann wieder Ich-will-heute-Spaß-Defätistin. Untermalt wird diese in die Verzweiflung gesteigerte melancholische Stimmung durch einen Chor, der nicht chorisch agiert. Verteilt stehen die Sänger herum, singen eher leise Fragmente eines Volkslieds in Endlosschleifen vor sich hin, verkörpern so Vereinzelung.

Kurz droht diese Konstellation im Spektakel unterzugehen, als – wie schon bei Horváth – eine Freak-Show in die Halle einzieht. Wie frühere Jahrmarktsschauen, in denen entstellte Menschen und unter viel Theatermaske zusammengebastelten Fabelwesen präsentiert werden, wendet sich ein Marktschreier ans Publikum, kündigt einen Bulldog-Mann, eine Affenfrau und siamesische Zwillinge an. Tatsächlich werden Vitrinen auf die Bühne geschoben, tanzen kleine Mädchen in Weiß etwas tollpatschig eine Art Elfenreigen. Die unterhaltsame Wirkung verpufft rasch, weil sich die Szene als Spiel mit dem Zuschauerblick entlarvt.

Kurz dauert dieses vergiftete Spektakel. Schon findet man sich wieder in die Tristesse des Nichtsorts zurückversetzt. Dessen negative Kräfte halten nicht nur die Figuren gefangen, sondern hallen nach. Als die konzentrierte Inszenierung mit "Wenn’s Mailüfterl weht" im Dunkeln vergeht, bleibt die bittere Melancholie beim spätsommerlichen Gang nach Hause im Ohr: "Jed's Jahr kommt ein Frühling, / Ist der Winter vorbei. / Doch der Mensch nur allein hat / Ein'n einzigen Mai."

 

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Bianca Deigner, Verrophon / Einstudierung der Chöre: Philipp Marguerre, Dramaturgie: Torsten Buß, Licht: Ralf Riechert.
Mit: Wenzel Banneyer, Sophie Hottinger, Roman Kaminski, Roman Kanonik, Daniela Keckeis, Andreas Keller, Philipp Marguerre, Michael Pempelforth, Felix Axel Preißler, Marie Rathscheck, Annett Sawallisch, Susen Schneider, Alexandr Sterlev.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Die Erwartungshaltung an ein Oktoberfest-Stück untergrabe Enrico Lübbe, indem er die ganze Szenerie unter Tage verlegt, in einen seltsamen Kantinenraum, so Wolfgang Schilling im MDR (18.9.2017). Der Regisseur höre sehr genau auf Horváths Sprache und "lässt sie wie Ausrufezeichen stehen". Das habe einen eigenen verzögerten Rhythmus zur Folge. Er setze auf die Pausen der Sprache. Das ganze Ensemble lasse sich darauf ein und trage "zu einem Gesamtkunstwerk bei".

"Die den musikalischen Beginn umwehende Poesie wird früh gestutzt, als fürchte der Abend darüber sein analytisches Gewicht zu verlieren", schreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (18.9.2017). das Treiben auf dem Rummel, das kurz einbreche, tauge wenig, um Atmosphäre auf die Bühne zu hauchen, "eher wirkt es wie ein Fremdkörper". Fazit: "Es liegt an den Schauspielern, das präzise Wortgerüst mit Leben, Gefühlen, Symbolik zu füllen - und sie tun es gut, meist sehr gut."

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