Böse Menschen haben schöne Lieder

von Dirk Pilz

Berlin, 21. September 2017. Sie kommt dann im rosa Kleidchen mit Zöpfen im Haar herein. Das Gesicht bleich, die Augen blutrot untermalt, die Strümpfe enden knapp unterm Knie im Rüschenrand. Keck, wie sie da über die mit orgelpfeifenähnlichen Stäben geschmückte Bühne wandelt. Nebel dazu, liebes Licht, und auf ihrer hellen Blockflöte weiß sie sehr hübsch Schuberts Ave Maria zu spielen.

Aber wenn sie derart flötend an die Rampe schreitet, das Publikum fixiert, blitzt es hinterhältig in ihren spitzen Augen, natürlich. Wir haben sie ja zuvor schon an der Kettensäge erlebt, sahen sie im Kriegsgewitterlärm teuflisch zucken, hörten sie verkünden, die Welt sei ohne jegliche Bedeutung, "Punkt!", und nur der Hass mache klug, jawoll!, wissen also längst, mit wem man es hier zu tun hat, wussten es immer, vom ersten Halbsatz an und wissen es bis zum bitterbösen Ende, auf dass es niemand vergesse: Dieser Mensch ist böse, sehr böse.

Caligula1 560 JulianRoeder uConstanze Becker ist Caligula. © Julian Roeder

Aber ach, auch böse Menschen haben schöne Lieder, gerade sie!, und wie schön sie zu singen vermögen. Gleich am Anfang stellt sie sich unterm Blutumhang in hochgemuter Einsamkeit auf die Bühne und trägt mit huldigenden Grüßen zu Marlene Dietrich hinüber das Friedrich-Hollaender-Lied vom Wünschen vor: "Wenn ich mir was wünschen dürfte / Möchte ich etwas glücklich sein / Denn wenn ich gar zu glücklich wär' / Hätt' ich Heimweh nach dem Traurigsein." Und wie todeskalt sie dabei ausschaut, wie hart das Gesicht, der Blick. So eine ist das: bös noch im Schönen. Eine, die auf den Namen Caligula hört, und sie hört ohne jeden Ein- und Widerspruch auf ihn.

Bös ist der Mensch

Es wird also das Erstlingsstück von Albert Camus gespielt, um die Regentschaft des stolzen Intendanten Oliver Reese am Berliner Ensemble zu starten. Auf den Werbeplakaten prangen in grellgelber Überdeutlichkeit die Worte "Neu" und "Gegenwart", als spräche das Neue für sich und wäre die Gegenwart unbedingt besuchenswert. "Caligula" an den Anfang solcherlei Versprechen zu setzen, ist jedenfalls eine sichere Bank, scheint's. Das Stück ist ja allezeit aktuell, irgendwie.

Das war es vor fünf Jahren in Jan Lauwers' konsequenter One-Man-Show in Wien, das war es auch vor neun Jahren, als Jette Steckel den Text in die kleine Box des Deutschen Theaters und die Zuschauerköpfe auf einen Kopierer zwängte, das war es erst recht vor siebzehn Jahren in Frank Castorfs "obszönem Werk" mit Stripperinnen-Schluss in der Volksbühne. "Caligula" wird immer wieder gern gespielt, weil es, angeblich, immer wieder stimmt, was Caligula uns sagt: "Diese Welt ist so, wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen." Es mangelt nicht an Gründen, ihm zuzustimmen, stets anders, aber stets aus derselben bitteren Erkenntnis heraus: Der Mensch ist nicht so menschlich wie er gern von sich denkt. Ja. Man müsste deshalb, um hierauf etwas zu erwidern, von der Liebe als der einzigen klug machenden Kraft sprechen, aber von der Liebe redet die Gegenwart nicht gern, das Theater erst recht nicht, weil sie, törichterweise, unter Kitsch- und Naivitätsverdacht steht. Also wird fortwährend von den Bösen geredet. Links in die politische Gegenwart braucht die jetzige Caligula-Auffrischung jedenfalls nicht, die haben ohnehin alle im Kopf.

Das mag der provokante Stachel dieses Dramas sein: Der Ausweg ins Böse ist immer möglich, auch die Umkehrung aller guten oder sonstigen Werte in ihr Gegenteil, solange es Werte und ein Wertdenken gibt. Man sollte sich nie sicher sein, auch vor sich selber nicht, gewiss. Das allerdings ist auch der Nachteil dieses Programm-Stückes: Es flüchtet sich in ein Allgemeines, Allzumenschliches. Die Menschen sind manchmal gut, meistens bös: ja, leider. Camus hat sein Stück zwar ausdrücklich nicht als Philosophie verstanden wissen wollen, sondern als eine "Tragödie der Erkenntnis", und er hat diese seine Erkenntnis im berühmten Vorwort gleich mitgeliefert: "Es ist nicht möglich, alles zu vernichten, ohne sich selbst mit zu zerstören." Aber der Text rennt damit offene Türen ein, daher auch sein sonderbar scherenschnittiges Personal. Es ist, mit Verlaub, noch immer kein gutes Stück Theater, auch nicht an diesem Abend.

Mord, Mord und Schänderei

Antú Romero Nunes nimmt es deshalb von der shakespearehaften Komödienseite, lässt Clowns in Verzweiflungskostümen auftreten, die Sätze hüpfen und den Figuren Spielraum wider die handlungsarme Thesenenge der Vorlage. Das geht so fünf, sechs Minuten, länger nicht. Dann ist die anspielungsreiche Leichtigkeit dahin, und es wird noch ein langer, sonderbar verkrampfter, in sich verbissener Abend hernach. Was werden nicht alles für Theatermittel herbeigeschafft: ein Kruzifix mit festgeschnallter Sängerin im Himmel, Masken, Orgelklänge, Nebel, noch mehr Nebel, die Sanges-, aber auch Stammeleinlagen, dazu die Ave-Maria-Nummer, die Kettensäge. Aber es hilft nichts. Jede Figur ist mit ihrem ersten Satz auserzählt, die nihilistischen Pointen rauschen vorüber wie Allerweltsfloskeln. Man stelle sich das vor: Es wird immerfort von Mord, Mord und Schänderei geredet, aber nie berührt es, als wäre jedes Wort in Kunstbeamtenhaft genommen.

Caligula3 560 JulianRoeder uClowns in Verzweiflungskostümen: Felix Rech (Cherea), Aljoscha Stadelmann (Helicon), Annika Meier
(Patrizier), Patrick Güldenberg (Scipio), Constanze Becker (Caligula) © Julian Roeder

Das liegt auch an Constanze Becker und ihrem Caligula. Sie spricht, als hingen die Worte an derben Gummiseilen, als müssten sie einzeln ins Hochtragische gezogen werden, um sie am Satzende abrupt ins Abgründige fallen zu lassen. Ein Caligula im Medea-Ton, als hätten sich die Silben ins falsche Stück verirrt. Vielleicht soll das so sein. Aber damit kippt das Stück ins Alberne, werden die Figuren an die bloße Behauptung verloren. Mord, Tyrannei, Tugend – nichts als Worte, Worte, Worte. "Caligula" als schieres Virtuositätenkabinett: So schlecht ist das Stück dann auch wieder nicht.

Am Ende der Tyrannenmord. Das Kunstblut spritzt, die Kunstkörper zucken, herab fährt der dunkelrote Kunstvorhang. Nur Caligulas Kopf ist noch zu sehen. Und der Kopf spricht: "Caligula ist nicht tot." Er spricht nicht wie bei Camus von der Weltgeschichte, sondern davon, dass Caligula da sei, und da. "Noch lebe ich." Das durfte man einst als Ruf in den Widerstand verstehen. Hier ist's eine Feststellung, ein kaltes Faktum. "Was können wir tun?", fragten sie sich zu Beginn. "Nichts", glaubten sie, "nichts". Das war komisch aus Verzweiflung, tragisch aus Hoffnung. Am Ende bleibt davon: nichts.

 

Caligula
von Albert Camus
Aus dem Französischen von  Uli Aumüller
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Johannes Hofmann, Licht: Ulrich Eh, Dramaturgie: Sibylle Baschung. Mit: Constanze Becker, Oliver Kraushaar, Aljoscha Stadelmann, Patrick Güldenberg, Felix Rech, Annika Meier, Drífa Hansen.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Bilderverliebt und etwas konfus", sei Nunes' Inszenierung, schreibt Peter Laudenach (Süddeutsche Zeitung, 25.9.2017) in seiner Besprechung der Eröffnungspremieren. "Anderthalb Regie-Ideen müssen die Inszenierung tragen. Idee eins: Caligula ist ein Horrorclown. Idee zwei: Nihilismus ist attraktiv und zumindest ehrlicher als falsche Ideale". Ohne den Caligula von Constanze Becker, "der amtierenden Großtragödienkönigin des deutschen Theaters, wäre das trotz Kettensägeneinsatz und Blutfontänen eher laues Lüftchen gewesen!". Aber Becker mache aus Caligula einen fiebrig-kalten Killer-Vamp, einen hellsichtigen Irren, ein überzeugend vom Leben und den Mitmenschen angeekeltes Monster. Laudenbachs Fazit insgesamt: gelungener Neustart, "der Bruch zur Ära Peymann ist überdeutlich".

Constanze Becker schnauze, geifere und morde, mal als zickiger Horror-Clown, "mal als böse Königin, scheinbar direkt aus dem Kindertheater. Virtuos, zugleich merkwürdig aufgesetzt, als stehe sie bisweilen ebenso ratlos vor dem Material wie die gesamte Inszenierung", so André Mumot für Deutschlandfunk Kultur (21.9.2017). "Kaum menschliches Interesse lässt sich den großen Reden abgewinnen, noch weniger Sinnlichkeit, und jeder Versuch der politischen Allegorie schießt an unserer Gegenwart vorbei."

Leider vermöge Nunes eher wenig anzufangen mit dem Stück, "das der junge Camus unter dem Eindruck von Hitler schrieb und das heute den Ansprüchen des von Oliver Reese gelobten und zum Programm ausgerufenen figuren- und handlungsbetonten Well-Made-Plays eher nicht genügt. Die Dialoge bestehen aus wortspiel- und widerspruchsreichen philosophischen Thesen und Aphorismen zu den Themen Ethik, Macht, Absurdität, Logik und Nihilismus." Nunes mache ein bildstarkes, geschickt selbstreflexives Clownsspiel daraus, das wegen der entstellenden Schminke und der Kostüme von Victoria Behr auch ein wenig an Herbert Fritsch erinnere, schreibt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (22.9.2017).

"Der Regisseur entscheidet sich von der ersten Szene an für die Farce", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (23.9.2017) "Verzweifelte Clowns, grell geschminkt und halb angezogen, halb nackt (Kostüme: Victoria Behr), suchen den irren Cäsar". Annika Meier stehe an der Rampe und ziehe unwahrscheinliche Grimassen. Das Stück versendet aus Sicht des Kritikers in Sprechblasen. "Es ist so nicht herauszubekommen, was in diesem 'Caligula' zu entdecken wäre; das Stück ist immerhin 80 Jahre alt. Man müsste ihm einmal zuhören können, aber das ist bei diesem Gebrüll leider nicht möglich. Die Akteure stehen unter hohem Inszenierungsdruck."

Simon Strauss schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.9.2017): Die "fabelhafte Schauspielerin" Constanze Becker spiele den römischen Kaiser als "Mischung aus trotzigem Kind und unerträglicher Megäre" an, bekomme aber "von der Regie zu wenig Möglichkeiten", sich diesem "verqueren Charakter" wirklich zu nähern. Zum "eigentlichen Wahnsinnigsein" habe sie "zwischen all den Kostüm- und Lichtwechseln" gar keine Zeit. Ihre Senatoren hampelten harmlos um sie herum wie "Backstage-Sänger bei einer Schlagershow". Camus’ "überambitioniertes Historiendrama" liefere "nicht genug Material" für die "motivierten Schauspieler". Die Regie von Antú Romero Nunes sei "gediegen bis harmlos" - alles recht enttäuschend.

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