Hurra, das Schreckgespenst ist da!

von Friederike Felbeck

Oberhausen, 22. September 2017. Toni Schimmelmann ist vor seiner schrägen Familie nach Amerika geflüchtet und arbeitet als Clown in einem Zirkus. Der Direktor ist "Nazi-Krüger" und ehemaliger SS-Hauptsturmbannführer, der Toni in die Rolle eines KZ-Gefangenen mit glänzender Streifenuniform und blinkendem Davidstern zwingt und zur Unterhaltung des Publikums Szenen aus dem Lager nachspielen möchte. Als Toni zur Beerdigung seines Übervaters Josef reisen soll, erfindet er eine IS-Terrorwarnung am Flughafen, um der Heimkehr ins heutige Deutschland zu entgehen. Dort sieht es mit einem Ambiente aus Hirschgeweih und eingerolltem Haar wie in einem Film Noir der 1940er Jahre aus, aber aus dem Volksempfänger dröhnt die Tagesschau. Die "Asylanten" überrennen das Land, und die Flüchtlingsheime brennen.

Gleichzeitigkeit der Ereignisse

Durch die Familie Schimmelmann geht ein moderner Riss: Der eine Sohn macht Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften, Mutter Rosi beschäftigt syrische Geflüchtete als kostenlose Praktikanten im Haushalt, geputzt wird mit Chemiekeulen der Eigenmarke "Endlösung", die man im Familienbetrieb erfolgreich vermarktet. Die beiden Enkel sind einmal rechts, einmal links drehende junge Radikale – der eine zündet die Heime der Konkurrenz an, der andere attackiert die neuen Rechtsnationalen. Der angeheiratete Künstlerschwiegersohn löffelt abseits der Familienaufstellung seine Prekariatssuppe und zitiert aus dem Verdauungstrakt der Frankfurter Schule. Und die demenzkranke Oma ist noch immer auf der Flucht vor den Russen.

schimmelmanns 049 560 Katrin Ribbe uBei Schimmelmanns auf dem Sofa © Katrin Ribbe

Der Clou des Stücks ist die relative Gleichzeitigkeit der Ereignisse: Der zweite Weltkrieg ist gerade erst zu Ende, aber am Sonntag wird gewählt. Live begleitet von einer One-Man-Band mutiert das Ensemble zu einer Art Wohngruppe, die anlässlich einer Beerdigung zusammenkommt und ihre neofaschistischen Masken fallen lässt. Autor Mario Salazar bemüht sich, all das auf die Bühne zu schaufeln, was ihm als Schreckgespinst einer Wiederkehr des deutschen Nationalsozialismus aus der Aktualität entgegenkommt. Aus der Ahnengalerie der Familie Schimmelmann blicken uns als Videoprojektion die Hauptkriegsverbrecher der Nürnberger Prozesse an, und Luthers Augen leuchten teuflisch rot von seinem Bild an der Wand, wenn die blinde Rose Schimmelmann aus der Familienbibel "vorliest" und den Jubilar zum "Avantgardist des deutschen Antisemitismus" kürt.

Kollektive Demenz

Nach dem Weggang von Peter Carp nach Freiburg ist jetzt Florian Fiedler Intendant am Theater Oberhausen, mit "Schimmelmanns – Verfall einer Gesellschaft" gibt er sein Debüt als Regisseur. Fiedler folgt der boulevardesk-spritzigen Dynamik des Textes und kredenzt eine Tür-auf-Tür-zu-Revue der Monstrositäten. Ein poetisches Innehalten gelingt ihm durch die Videoprojektionen von Bert Zander, der die Familie – anders als in der Wirklichkeit – einander umarmen lässt und ihr emsiges Treppauf und Treppab im Haus zeigt. Das zweistöckige Innenleben der Schimmelmannschen Villa zerbirst förmlich im zweiten Teil des Abends. Dann stolpern die Figuren fast in den Abgrund (oder schwingen sich gekonnt hinab), wenn sie auf ihren gewohnten Pfaden plötzlich auf einer halb weggesprengten Treppe stehen. Mervan Ürkmez und Ayana Goldstein spielen fast tänzerisch die beiden politisierten Enkel, Klaus Zwick gibt augenzwinkernd mal den Künstler, mal den SS Hauptsturmbannführer a.D., während Ingrid Sanne alias Rosi Schimmelmann als das Auge im Familiensturm volle Fahrt aufnimmt. Das gerade erst in Oberhausen angekommene Ensemble verhilft dem Abend zu einer schauspielerischen Dichte.

schimmelmanns 256 560 Katrin Ribbe uSo sieht "Nazi-Horror-Boulevard" aus © Katrin Ribbe

Allein – Salazars Pointen sind untiefe Verkürzungen, dabei aber nicht verstörend, noch provokant, sondern über weite Strecken des Abends einfach nur lästig und ärgerlich. Seine selbsterklärte "Nazi-Horror-Boulevard-Dramödie" ist eine thematische Übersteuerung, schwer verdaulich wie Stopfleber. "Mein Gehirn ist ans kollektive Gedächtnis angeschlossen", bringt Oma es irgendwann demenziell auf den Punkt. Am Ende firmiert die Schreckensfamilie Schimmelmann als Sonderkommando – zukünftig braucht es keine Lager mehr, sondern im Eigenheimkeller sollen Ausländer verbrannt und entsorgt werden. Salazars Schreckensvision begräbt ihre bestimmt berechtigten Gründe unter ihrer eigenen Flapsigkeit.

 

Schimmelmanns – Verfall einer Gesellschaft
von Mario Salazar
Uraufführung
Regie: Florian Fiedler, Bühne: Maria-Alice Bahra, Kostüme: Selina Peyer, Video: Bert Zander, Musik: Martin Engelbach, Dramaturgie: Patricia Nickel-Dönicke.
Mit: Daniel Rothaug, Klaus Zwick, Ingrid Sanne, Lise Wolle, Jürgen Sarkiss, Mervan Ürkmez, Clemens Dönicke, Ayana Goldstein, Ronja Oppelt, Elisabeth Hoppe, Anna Polke, Live-Musik: Martin Engelbach.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de

 


Kritikenrundschau

Das Stück sei "heftig und reichlich politisch inkorrekt, doch weder dramatisch noch besonders komisch", schreibt Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (24.9.2017). "Zu erleben ist eher ein Zerr- als ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft von heute."

Ein "pseudo-politisches Theater, das nichts zu sagen hat", erlebte Ralph Wilms von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (24.9.2017) in Oberhausen. Das Wort "Verfall" im Untertitel meine wohl "ein ungezieltes Um-sich-Schlagen mit klobigsten Holzhämmern"; die exzellenten Schauspieler "verheizen sich als Knallchargen".

"Mit rassistischer Fäkalsprache soll hier vorgeführt werden, welche Gefahr Deutschland droht, wenn sich die gesellschaftlichen Diskurse weiter radikalisieren. Aber wem will man mit dieser Holzhammermethode überhaupt etwas mitteilen? Sicher nicht dem wohlmeinenden Bürgerpublikum, das da in Oberhausen den Theaterneustart erwartet", so Dorothea Marcus im Deutschlandfunk (23.9.2017). "Dass das neue Team in Oberhausen spannende Ideen und Projekte für die Stadt umsetzen will, man ahnt es." Mit dieser Aneinanderreihung von brachialen Tabubrüchen habe man der Sache leider aber eher geschadet.

"Schimmelmanns" von Mario Salazar "ist keines jener Aufklärungsstücke, die man mit gutem Gewissen verlässt. Man fühlt sich schmutzig, man hat nicht nur über, sondern auch mit den Nazis da oben gelacht", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2017). Das "etwas statische Stück" erfährt durch den Kontext der Bundestagswahl 2017 in den Augen der Kritikerin eine Aufwertung: "So bizarr Salazars Comedy-Dystopie einer rechten Normalität in Deutschland wirkt: Es bleibt nach dieser Wahl das beängstigende Gefühl, dass sie ein Stück näher gerückt ist."

Das Stück schieße von der ersten Minute an Provokationen und Zumutungen auf sein erschrockenes Publikum, schreibt Rolf Pfeiffer im Westfälischen Anzeiger (27.9.2017). Was sich als Handlung ankündige, sei eher eine Aneinanderreihung von Meinungen, Positionen, Haltungen "es passiert eigentlich gar nichts". "Die unbedarfte Verarbeitung des deutschen Völkermords im Nationalsozialismus zu Unterhaltungsstoff in einer Trash-Komödie" befremdet Pfeiffer.

 

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