Die Klaviatur der Ignoranz

von Esther Boldt

Frankfurt, 28. September 2017. Für einen Versehrten ist dieser Mann erstaunlich agil: Er springt kopfüber in einen Splitthaufen, hebt sich in Zeitlupe auf den begehrten Thron und wirft selbigen wenig später wüst um, er galoppiert – in leichter Schräglage – im Kreis, er ist überall und nirgends. Dieser Richard von Gloucester ist ein Unbehauster, ein rastloser Geist, zur steten Wanderung verdammt. Er ist ein grotesker Clown im übergroßen Anzug, vollkommen fehl am Platz in der smart gekleideten höfischen Gesellschaft.

Wolfram Koch hat ihn in Frankfurt gespielt, und Jan Bosse hat ihn inszeniert. Anselm Weber hat, von Bochum kommend, die Intendanz des Hauses übernommen, und Shakespeares "Richard III" ist ein angemessener Paukenschlag für den Neustart: ein dunkles, schweres, Stück, das den Aufstieg und Fall eines Tyrannen verzeichnet, und das zurzeit viel gespielt wird auf deutschen Bühnen, weil es im besten Moment beides erlaubt: Zeitlosigkeit und Zeitbezug. Denn die Despoten und ungehobelten Alleinherrscher, für deren Machtgier kein Preis zu hoch zu sein scheint, sie begegnen uns heute allerorten. Und doch verweigert Bosse die einfache Aktualisierung – sieht man von der roten Krawatte ab, die Richard trägt, und die auf Trump verweisen könnte.

richard iii 2 560 Arno Declair uHeiko Raulin und in der Titelrolle: Wolfram Koch © Arno Declair

Sein Leib- und Magen-Bühnenbildner Stéphane Laimé hat das Große Haus des Schauspiels gründlich umgebaut: Von vier Seiten umspannen die Zuschauerränge nun eine Erhebung, die ein Splittberg krönt. Sie ist der Grabhügel, in dem die Toten des Abends sang- und klanglos verschwinden werden, während oben im Zuschauersaal der Thron steht, sie ist aber auch Kampfarena und Schauplatz. Wir Zuschauenden werden zu Mitwissenden und Zeug*innen jener Intrigen gemacht, die der ungelenke, schwitzende Gloucester energisch flicht.

Koch gibt einen hinreißenden Bösewicht, der widerwärtig ist und seltsam, aber auch faszinierend in seinem flirrenden Ungestüm, in seiner irritierenden, nimmermüden Heiterkeit. Der Bürgerkrieg ist aus, doch der missgestaltete, monströse Gloucester kann sich nicht anfreunden mit dem Frieden und beginnt, seine Verwandten und Freunde zu bekriegen – bis ein weiterer Krieg einsetzt, der ihn das Leben kostet.

Alptraumhafte Figuren

Bosse setzt die gesellschaftlichen Verhältnisse ins Zentrum seiner Inszenierung, er nutzt den Raum des Theaters, um die politischen Prozesse und persönlichen Fehden, die "Richard III" durchziehen, quasi auf dem Reißbrett durchzuarbeiten. Die Schauspieler*innen verhandeln zwischen den Publikumsrängen herumeilend Leben und Tod, Macht und Ohnmacht. Dies führt zu einer Ort- und Rastlosigkeit, die bisweilen ermüdet.

Insgesamt aber gelingt Bosse ein aufregender Abend, der die ganze Spannweite zwischen dem scheinbar Rationalen und dem Unheimlichen auszuschöpfen weiß. Bosse lässt alptraumhafte Figuren auftreten, seine Henker, Soldaten und Stiefelknechte sind Maskierte und Gehörnte, bizarre, fremd-vertraute Todesboten. Und er spielt die Klaviatur der Ignoranz, der kleinen Feigheiten und falschen Nachsicht gnadenlos durch, das systematische Wegschauen der Anderen, das die Machtergreifung schließlich ermöglicht.

richard iii 3 560 Arno Declair uEine zwielichtige Gestalt: Wolfram Koch als Richard III. © Arno Declair

Besonders gelingt das in hochspannenden verbalen Zweikämpfen, wie dem Aufeinandertreffen von Gloucester und Lady Anne am Leichnam ihres Gatten: Auf dem Grabhügel liegt sein Leib, in Tücher gehüllt, die Lady ganz auf den Geliebten hingegossen. Fauchend, breitbeinig, wehrhaft weist sie Edwards Mörder, der sie zu becircen sucht, in seine Schranken. Katharina Bach spielt diese Lady Anne, eine Heimkehrerin: Von 2012 bis 2016 war sie am Schauspiel Frankfurt engagiert, und ihre Rückkehr ist ein großes Glück. Kraftvoll, klug und gnadenlos stellt sie sich Richards Überredungskünsten in den Weg, bis auch sie klein bei gibt vor so viel todesmutiger Narretei. Oder Mechthild Großmann, die die Königin Margaret spielt und die Herzogin von York, Gloucesters Mutter: Mit altersweisem Weitblick und großer Kälte überlässt sie ihren ungeliebten Sohn seinem Schicksal. Als Königin eilt sie barfüßig und im Nachthemd umher, eine verrückte Alte, die Richard verhöhnt und verflucht, und die sehr genau ahnt, was kommen wird.

Die Inszenierung überantwortet sich dem dunklen Spiel der Mächte in Shakespeares Tragödie (die Bosse und seine Dramaturgin Gabriella Bußacker übrigens eigens, scharf und sprachschön, ins Deutsche übersetzten): Sie leuchtet einerseits den Lauf des Geschehens analytisch aus, gibt aber zugleich dem Unheimlichen, vielleicht Dämonischen, sicherlich aber Unberechenbaren Raum, das so viele vermeintlich vernünftige Entscheidungen und Verhandlungen durchwirkt. "Und ihr habt zugesehen! Ihr alle!" ruft Margaret einmal zornig in den Saal. Oh ja. Das haben wir.

Richard III
von William Shakespeare
Übersetzt und bearbeitet von Gabriella Bußacker und Jan Bosse.
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Tabea Braun, Musik: Arno Kraehahn, Dramaturgie: Gabriella Bußacker, Licht: Johan Delaere.
Mit: Wolfram Koch, Mechthild Großmann, Katharina Bach, Claude De Demo, Heiko Raulin, Issak Dentler, Sebastian Kuschmann, Peter Schröder, Samuel Simon, Sebastian Reiß.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Trotz einiger Längen überzeuge der Abend, was man aber von der Übersetzung Gabriella Bussackers und Jan Bosses nicht sagen könne. "Während er als Regisseur auf Aktualisierungen klugerweise weitgehend verzichtet, setzt Bosse als Übersetzer auf einen heutigen Alltagston, der die Eleganz und Subtilität von Shakespeares Versen unter viel Schnodder begräbt", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ (30.9.2017). Mit Lob überschüttet wird der Hauptdarsteller. "Koch ist mit nie nachlassender Präsenz der Entertainer des Bösen, ein fideler Alleinunterhalter, der die Bühne liebt."

"Es sind fast vier Stunden wie in einem einzigen Rausch, einem Machtrausch, dem man sich nicht widersetzen kann, weil Jan Bosse, der Regisseur, das Publikum so unverhohlen anspielt und mit allen Tricks der Theaterpraxis einnimmt", so Natascha Pflaumbaum auf Deutschlandfunk Kultur (28.9.2017). "Es ist eine wahre Freude zu sehen, wie präzise, wie trennscharf, wie wenig psychologisierend Bosse die Psychodynamik dieses Narzissten Richard III ausdekliniert: wie er die widerstreitenden Gefühle dieses Mannes, ihre Scheitelpunkte, dieses Umschlagen ins Gegenteil in nur einer Millisekunde herausarbeitet." Wolfram Koch könne das unfassbar genau spielen, er bilde alles mit seinem Körper ab, "ein Spielberserker".

"Regisseur Jan Bosse und sein Team deuten zeichenhaft Gegenwart an, aber stets auch das Irreale, Jenseitshafte des Stücks, das immer wieder zurück ins Historische, in die Zwischenwelten des Imaginären und Fantastischen hinüberspielt, ins Unterreich des Triebhaften und Dämonischen", schreibt Michael Kluger von der Frankfurter Neuen Presse (30.9.2017). Das Publikum werde hineingerissen in Erregungszustände der Empörung, der Angst, des Jubels, in einen Blutrausch oder eine Lynchlust. Was Wolfram Koch aus diesem innerlich wie äußerlich deformierten Krüppel mache, sei furios und atemberaubend.

Konsequent setze Jan Bosse "auf einen Wolfram Koch, der in einem schäbig-schlabbrigen XXL-Beamtenanzug durch den Theaterraum wildert und alles in einem ist: bester Schauspieler im Staat, Hinkemonster mit Sex-Appeal, düsterer Nosferatu-Killer und bösartiger Rockstar", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (7.10.2017). Dass Bosse, kurz bevor Richard endgültig zur Krone greift, auf die rechtspopulistische Grundierung Donald Trumps anspiele und Wolfram Koch unter einer Ku-Klux-Klan-Kutte verschwinden lasse, "leuchtet nicht ein, stört aber auch nicht" – immerhin zeigt das neue Frankfurter Schauspiel schon mit seiner Eröffnungsinszenierung, "wie reizvoll klassisches Ensembletheater sein kann".

 

Kommentare  
Richard III., Frankfurt: ermüdend
Der einzige treffende Satz der Kritik ist: "Dies führt zu einer Ort- und Rastlosigkeit, die bisweilen ermüdet." Bosse hat sich für einen Raum entschieden, der sogleich Eindruck macht. Aber an diesem Raum scheitert dann die ganze Inszenierung, denn von einer Entwicklung oder Konturierung der Charaktere bleibt darin keine Spur. Alles ist auf eine gleichmäßige Temperatur getrimmt, die in der Tat ermüdet. Sogar sehr.
Richard III., Frankfurt: hellwach
Ermüdend?! Ich jedenfalls blieb hellwach bis zur letzten Sekunde dieses großen, Klugen Theaterabends.
Richard III., Frankfurt: Kostümbildnerin
Liebe Frau Boldt
Wenn Sie schon so viele positive Details des Abends von den Kostümen ableiten, wäre es doch einfach mal angebracht neben dem Bühnenbildner auch die Kostümbildnerin zu nennen.
Eh ein unter Kritikern kaum praktiziertes Können
Beste Grüße
Richard III., Frankfurt: weite Reise wert
Was an diesem Abend zu sehen ist,ist das Beste was es zur Zeit an deutschen Bühnen
zu sehen gibt.Und wie Wolfram Koch den Richard spielt,ist auch eine weite Reise dorthin wert.
Richard III., Frankfurt: Korrekturhinweis
Wann das mal einer der hochkompetenten Theaterkritiker mitbekommt, dass Lady Anne nicht am Leichnam ihres Gatten, sondern ihres Schwiegervaters trauert? Wer Shakespeare liest, ist klar im Vorteil...
Richard lll, FFM: Thron im Dreckshügel
Dieses Riesenrund mit dem relativ kleinen "Dreckshaufen" in der Mitte hat mich ziemlich überwältigt-es geschah soviel um mich herum, dass es mich irritierte. Erst im 2.Teil trat die Konzentration ein. Aus dem Dreckshügel schob sich der Thron von Richard (er in silberner Rüstung) und stand auf seiner "Gruft"- es gab kein Entrinnen, keinen Sieg des Bösen. Tolle Interpretation!
Richard III., Frankfurt: Wer trauert am Sarg?
Bei Shakespeare trauert Lady Anne am Sarge ihres Schwiegervaters, ja genau. Bei Bosse nicht, da wird die Tragödie zugespitzt, indem die Verführung des Morders am Leichnam des verstorbenen, geliebten Gatten passiert. Heinrich kommt in dieser Szene allenfalls am Rande vor.
Richard III., Frankfurt: Interpretation
Wenn ich da mal aus der produktionsinternen Westentasche plaudern darf: wir fanden es hochinteressant, dass Lady Anne um beide Toten trauert, aber in diesem Moment konkret über der Leiche ihres (Schwieger)vaters klagt. Trotzdem spricht sie über den toten Vaterkörper und zugleich über ihren geliebten verlorenen Mann (beide von Richard ermordet) in auffällig/unheimlich zärtlichen Worten - im scharfen Gegensatz zum hasserfüllten Gift ihrer Worte, die sie Richard entgegenschleudert. Shakespeare vermischt gleichsam beide Toten zu einem - die Morde lagen historisch weit auseinander und weit vor der eigentlichen Stückhandlung. Ein tolles Beispiel für die hohe Kunst dieses Autors der dramatischen Verdichtung und Zuspitzung. Insofern haben beide Kommentare "Recht" - wir haben uns für die irreale Doppelbelichtung entschieden, mit der meiner Meinung nach Shakespeare hier spielt..
Richard III., Frankfurt: der dritte Hauptdarsteller hat's schwer
Der Abend hat drei Hauptdarsteller:

Erstens das Raumkonzept des Bühnenbildners Stéphane Laimé, mit dem Bosse schon seit seiner Diplominszenierung vor 30 Jahren zusammenarbeitet. Die beiden nutzen den gesamten Raum der größten deutschen Sprechtheaterbühne. Die gewaltige Breite der Spielfläche dürfte Theatertreffen-Chefin Yvonne Büdenhölzer einige Schweißperlen auf die Stirn treiben. Sollte dieser „Richard III.“ im nächsten Jahr als eine der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen ausgeladen würde, dürfte es ihr einiges Kopfzerbrechen bereiten, eine Bühne mit den passenden Maßen zu finden, auf der sich die Wirkung dieses Raumkonzepts entfalten kann.

Zweite Hauptdarstellerin ist Mechthild Großmann. Es vergeht eine ganze Weile, bis aus der dunklen Tiefe des Raumes zum ersten Mal ihre unverkennbare, tiefe, rauchgeschwängerte Stimme ertönt. Sie ist eine ideale Besetzung für die Doppelrolle als Königin Margaret und der Herzogin, Richards Mutter. Ihre Schimpftiraden und Verwünschungen werden zu einem eindrucksvollen Rache-Furienauftritt. Es wäre schön, wenn sie neben ihrer TV-Rolle als Staatsanwältin Wilhelmine Klemm in der Tatort-Comedy aus Münster auch wieder öfter auf der Bühne zu sehen wäre. Dort liegen ihre Wurzeln, in den 70er Jahren spielte sie in Bremen, bei Claus Peymann in Stuttgart, bei Peter Zadek in Bochum und war ab 1976 auch Mitglied in Pina Bauschs Ensemble.

Der dritte Hauptdarsteller hat Mühe, sich neben den beiden anderen Hauptdarstellern durchzusetzen. Wolfram Koch, auch er ein bekannter Theater- und Fernsehstar, braucht in der ersten Hälfte einige Zeit, in die Rolle hineinzufinden. Seinem Richard fehlt das Diabolische und Abgründige. Erst nach der Pause wird er stärker. Sein „Richard III.“ lässt die klaren Konturen vermissen, die andere Schauspieler dieser Figur gaben: Lars Eidinger stürzte sich in Thomas Ostermeiers Schaubühnen-Inszenierung auf den Narzissmus des Tyrannen und machte daraus eine großartige Solo-Show, Jörg Pohl spielte den Richard bei Antú Romeru Nunes am Thalia Theater als Springteufel und Horrorclown.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/16/richard-iii-wolfram-koch-und-mechthild-grossmann-duellieren-sich-in-jan-bosses-frankfurter-inszenierung/
Richard III., Frankfurt/M: enttäuscht
Leider muss ich Kommentar #1 zustimmen. Wolfram Koch war letztendlich ziemlich flach. Der Umbau war originell, aber nicht notwendig. Ich würde hierfür keinen längeren Anfahrtsweg auf mich nehmen wollen.
Richard III., FFM: reizvolles Ensembletheater
"reizvolles Ensembletheater" ist etwas anderes. Richard der Dritte schien um die beiden oben erwähnten Hauptdarsteller herumgestrickt worden zu sein. Das Ensemble mit brillianten Schauspielern wie bspw. de Demo oder Dentler konnte seine Spielkunst gar nicht zeigen.
der "gleichmäßigen Temperatur" von Kommentar 1 kann ich leider nur zustimmen.
Schade.
Kommentar schreiben