Dilemma des Gutseins

von Harald Raab

Heidelberg, 29. September 20017. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser ideen- und bilderreiche Abend könnte locker in die Theatergeschichte eingehen. Das Leben ist darin eine Baustelle voll Chaos und Unvorhersehbarem. Die minimalistische Bühne von Lőrinc Boros ist es auch:  ein Podest wie der Grundriss eines Hauses, das fertig werden soll, aber unvollendet bleibt und dazu roher Bretterboden. Links und rechts ein Graben, auf dessen Rand die zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler sitzen. Von dort aus gehen sie für ihren Part auf die schräg stehende Spielfläche.

Der Plan, dass sie etwas zu einem guten Ende führen könnten, bleibt Illusion: Jeder werkelt zum eigenen Nutzen und auf eigene Rechnung. Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Parabel allenthalben. Gespielt wird ja auch Brechts "Der gute Mensch von Sezuan". Ein göttliches Human-Projekt, das in den Zuständen, wie sie nun einmal sind, zum Scheitern verurteilt ist.

Ewige Baustelle Leben

Ein Schelm, der Schlechtes, sprich Belehrendes, dabei denkt. Mit Blick auf das aktuelle Projekt Deutschland: Welcome-Refugees-Euphorie und jetzt Katzenjammer angesichts der vielen, die gekommen sind, und ihrer Ansprüche, plus AfD-Triumpfgeheul: "Deutschland den Deutschen!" In dieser Welt kann der Mensch nicht ungestraft gut sein. Eigennutz ist aus dieser Sicht systemimmanente Bürgerpflicht im Kampf ums Überleben. Barmherzigkeit gilt da nur als naiv, ja dumm.

Sezuan67 560 SebastianBuehler uBaustelle, die niemals fertig wird, jeder werkelt für sich: Bühnenbild in Victor Bodos "Der gute Mensch von Sezuan" © Sebastian Bühler

Gesinnungsethikerin und Idealistin ist auch Shen Te, von Beruf Prostituierte, eine Figur in der Doppelrolle der Dienstleisterin als Ware und Verkäuferin ihrer selbst. Wer da im bürgerlich-kapitalistischen Umfeld obendrein gut sein will, hat ein dickes Problem. Es bedarf des kapitalistischen Zuchtmeister, des Bösewichts und Leuteschinders Shui Ta. Besser noch: Wie im wirklichen Leben muss man beides in einer Person sein, um erfolgreich und obendrein ein ehrengeachtetes Mitglied der Gesellschaft zu sein. In diesem Fall: vom Betreiben eines kleinen Tabakladens zur Inhaberin einer florierenden Tabakfabrik aufzusteigen und gleichzeitig Engel der Vorstadt zu sein. Von der Kleinbürgerin zum heuchlerischen Bourgeois.

Wildes Tier mit viel Herz

Regisseur Victor Bodo praktiziert, was man meist macht, um mit einem Brecht-Stück beim Publikum anzukommen. Er pfeift auf die reine Lehre des epischen Theaters und lässt emotionsreich agieren. Nicht Abstand ist beabsichtigt, sondern Identifikation, statt politisch korrekter Aussage auch reichlich Herz. Trotzdem gerät ihm Sezuan nicht zu einem bloß historisch-geographischen Raum. Das Stück ist ihm Modell für das kapitalistische Naturgesetz: fressen und gefressen werden. Mitleid, Fürsorge, Nächstenliebe bleiben auf den privaten familiären Kreis beschränkt und sind auch dort höchst gefährdet.

Der zweite exzeptionelle Ansatz des ungarischen Starregisseurs Bodo: Er lässt das komische Potential der Geschichte pointiert ausspielen – mit starken pantomimischen Elementen. Das Tragische wird erst durch das Komische deutlich konturiert. Platz ist auch für poetische Momente, dort, wo Shen Te ihrem Liebeserwachen Ausdruck gibt. Für einen kurzen Moment nur, bis sie erkennen muss, dass sie nur ausgenützt wurde. Da wird sie zur Rasenden, zum wilden Tier, um wenigstens einen Rest von Selbstachtung zu retten. Diese Breite der Gefühlsäußerungen beherrscht Lisa Förster in ihrer Prachtrolle als Shen Te äußerst facettenreich. Dazu kommt, dass sie auch noch in die Rolle ihres gestrengen Vetters Shui Ta schlüpfen muss. Alles zusammen eine große Herausforderung an ihr darstellerisches und sprachliches Talent.

Klangkulissen-Verfremdung

Das Spiel im Verwirrspiel ist gerade für die kleineren Rollen ein weites Feld für Charakterkomik, die der Hausbesitzerin Mi Tzü (Katharina Quast) zum Beispiel oder die der beiden Prostituierten (Nicole Averkamp und Anna Szandtner) oder des Kellners (Marco Albrecht). Auf die epische Spezialität Brechts, auf unpersönliche Charaktermasken, wird verzichtet.

Musik und Rhythmus, nicht nur der Sprache, spielen in diesem Regiekonzept eine wichtige Rolle. Das Ensemble produziert fortwährend, begleitend zur Musik, eine Geräuschkulisse. Man trommelt mit den Fingernägeln auf Holz, um Regenrauschen zu erzeugen. Stöhnen beim Geschlechtsverkehr, Atmen beim Schlaf, das Klacken von Stöckelschuhen auf der Straße ist zu hören. All das wird erstaunlich klanggetreu imitiert.

Sezuan5 560 SebastianBuehler uDie Götter steigen aus dem Boden auf © Sebastian Bühler

Die Götter (Blanka Mészáros, Béla Mészáros, István Dankó) scheinen auch nicht aus dem konfuzianischen Nirwana herabgestiegen zu sein. Nicht nur, weil sie aus einer Bodenklappe auftauchen, teils ungarisch parlieren, muten sie in ihren weißen Gewändern, in Pluderhosen und Schärpe um den Leib, wie Hirtengestalten aus der Puszta an. Sie funktionieren perfekt als Verkörperung von salbadernden Ideologie-Funktionären für das Trugbild von einer heilen Welt. Motto: Nur weiter so. Das brauchen sie zu ihrer Existenzberechtigung wie alle Religionsgurus. Auf Brecht'sche Chinoiserie wird weitgehend verzichtet. Sezuan ist überall.

Alles zugleich

Der Fortschritt hat seinen Preis: Der Flieger Yang Sun (Benedikt Fellner) muss erst einmal Schmiergeld bezahlen, um in eine Pilotenkanzel steigen zu können - wie heute die Hightech-Freaks Kapital aufbringen müssen, um ihr IT-Startup-Ding zu realisieren. Der Flieger braucht Geld zur Erfüllung seines Traums und opfert dafür die Liebe. Er beutet die Beziehung zu Shen Te schamlos für seine Karriere aus. Auch das ist im heutigen beruflichen Durchsetzungskampf ein bekanntes Phänomen.

Die Moral – oder je nach Standpunkt Unmoral – des Stücks: Es gibt keine Lösung des tragischen Konflikts der Shan Te – und aller Menschen, die gut sein wollen. Denn das ist die Kernaussage Brechts: Wir sind beides gleichzeitig: altruistisch und dem Mitmenschen ein Wolf. "Der Vorhang zu und alle Fragen offen." Brauchen wir einen anderen Menschen oder eine andere Welt?

 

Der Gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht, Mitarbeit Ruth Berlau und Margarete Steffin
Regie: Victor Bodo, Bühne: Lőrinc Boros, Kostüme: Ildi Tihanyi, Musikalische Leitung: Klaus von Heydenaber, Dramaturgie und Dolmetschen: Anna Veress, Dramaturgie: Sonja Winkel.
Mit: Lisa Förster, Hans Fleischmann, Blanka Mészáros, Béla Mészáros, István Dankó, Benedict Fellmer, Katharina Quast, Steffen Gangloff, Nicole Averkamp, Marco Albrecht, Andreas Uhse, Olaf Weißenberg, Christina Rubruck, Dominik Lindhorst-Apfelthaler, Anna Szandtner.
Musik: Gary Fuhrmann, Dirik Schilgen, Michael Herzer, Matthias Debus, Klaus von Heydenaber.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

Victor Bodo rhythmisiere und stilisiere das Stück von Anfang bis zum Ende. "Geprägt ist der Abend von einem hochartifiziellen Gestaltungswillen, so dass man sich fragt: Ist Bodo noch ein Regisseur oder schon ein Dompteur?", so Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (2.10.2017). Klaus von Heydenabers Bearbeitung der Bühnenmusik Paul Dessaus und die geschickten Klangeffekte von prasselndem Regen oder ploppenden Tropfen appellierten geschickt ans Sensorium der Zuschauer. "Alles in allem eine runde Sache."

 

 

Kommentare  
Gute Mensch von Sezuan, Heidelberg: Surrealist
"Platz ist auch für poetische Momente, dort, wo Shen Te ihrem Liebeserwachen Ausdruck gibt. Für einen kurzen Monet nur, bis sie erkennen muss, dass sie nur ausgenützt wurde. Da wird sie zur Rasenden, zum wilden Tier, um wenigstens einen Rest von Selbstachtung zu retten." Ja, unschön, solche Menschen, die solche Re-Aktionen bewusst provozieren.

Und also für einen kurzen "Monet". Impressionismus ist eben tatsächlich nicht Bodos Sache. Bodo ist eher Surrealismus der unbarmherzigen Sorte. Wir könnten ja auch mal Katalin Naszaly (siehe auch dt) oder Adam Czirak oder David Marton mal dazu befragen.

(Hinweis: Der "Monet" ist natürlich in "Moment" korrigiert.
nachtkritik-Redaktion / sik)
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