Kranker Mann am Zuckerhut

von Michael Laages

4. Oktober 2017. Das jüngste Drama ist sehr speziell. "O Evangelho segundo Jesus, Rainha do ceu" das "Evangelium nach Jesus, der Himmelskönigin", erzählt eine der zentralen Geschichten christlicher Tradition in extrem ungewohnter geschlechtlicher Konstellation: Christus ist in der Solo-Performance (ursprünglich von und mit der Schottin Jo Clifford) eine Frau, und Renata da Silva Carvalho Franzoni, die das Stück in Brasilien spielt, ist "trans", für die Zeitungen also schlicht "Transvestit". Seit Wochen füllen sie ihre Spalten mit dem Streit um Natalia Mallos Inszenierung des Stücks, die Anlass bot für vielerlei Angriffe und offene Zensur.

Religiöse Zensur

Die Geschichte begann in Jundiai; das ist eine (für brasilianische Verhältnisse) mittelgroße Stadt im Nordosten von São Paulo; wer in diesem Land ohne nennenswerte Eisenbahnlinien die regionale S-Bahn-Linie nimmt, kommt bestenfalls bis hierher. Evangelikale Kirchen in Jundiai fühlten sich beleidigt durch die Darstellung von Jesus als Transvestit – das wäre in, sagen wir, Fulda oder Oberammergau sicher nicht sehr viel anders gewesen. In Jundiai aber fanden die Glaubenswächter einen Richter, der die Aufführung des Jesus-Evangeliums tatsächlich verbot.

Brasilien o evangelho segundo jesus foto humberto araujo 24Renata da Silva Carvalho Franzoni in "O Evangelho segundo Jesus"  © Humberto Araujo

Der Fall zieht seither Kreise – schon, weil es natürlich andere Richter in anderen Städten gibt. Auch in Porto Alegre im Bundesstaat Mato Grosso do Sul versuchten die kirchlichen Aktivisten ein Verbot wie zuvor in Jundiai durchzusetzen; doch stattdessen erinnerte sie der Richter in außergewöhnlich klaren Worten an die Freiheit der Kunst. Die Vorstellungen fanden statt, begleitet natürlich von einigem Lärm; aber letztlich weithin unbehelligt. Mittlerweile ist die Produktion auch nach Brasilia und zum "Cena"-Festival eingeladen gewesen, die anhaltenden Diskussionen bescheren der Inszenierung beträchtliche Aufmerksamkeit. Mit in die Schusslinie der Fundamentalisten geriet plötzlich auch SESC, der Serviço Social do Comércio, die Sozial- und Kultur-Organisation von Handel und Industrie; Mallos "Himmelskönigin" spielt in SESC-Häusern (dieses System des SESC habe ich in meinem Theaterbrief zu Weihnachten 2008 etwas näher beschrieben). Mittlerweile wird das Skandalstück auch auf internationalen Festivals bejubelt, gerade reist es nach Buenos Aires, wo die uruguaysche Schauspielerin Fabiana Fine zur Himmelskönigin wird.

Ausstellung geschlossen

Womöglich wäre die Resonanz auf die Versuche von Zensur im Theater nicht ganz so groß gewesen, wären nicht kurz zuvor Aktivisten des MBL aufgetreten, des "Movimento do Brasil livre", der "Bewegung freies Brasilien", die vom äußersten rechten Rand der Gesellschaft her im vergangenen Jahr enorme Energie aufgewendet hatte, um gegen die damals noch im Amt befindliche Präsidentin Dilma Rousseff zu protestieren. Jetzt gelang es den inzwischen zu Ämtern gekommenen MBL-Funktionären, eine Ausstellung in Porto Alegre zu verhindern, in der bildende Künstler aus verschiedenen Jahrhunderten und kulturellen Regionen die Vielfalt sexueller Möglichkeiten zeigten. Die Banco Santander, das auch in Brasilien überall präsente Finanzhaus aus Spanien, sah sich als Veranstalter genötigt (oder erklärte sich rückgratlos bereit), diese Ausstellung zu schließen. Auch hier war die Aufregung groß – Institute aus anderen Bundesstaaten, etwa aus Minas Gerais, boten sich an, der Ausstellung "Asyl" zu gewähren, gleichzeitig aber ließ die Pinakothek in São Paulo historische Akt-Bilder mit Tüchern verhängen. Vorsichtshalber. Und eine Performance des auch in Deutschland bekannten (und vom Goethe-Institut in São Paulo gestützten) Choreographen Wagner Schwartz wird der "Pädophilie" bezichtigt, weil Schwartz nackt agiert und auch Kinder im Raum waren bei der Premiere.

Willkommen in den 60er Jahren

"Toda nudez sera castigada", übersetzt "Alle Nacktheit wird bestraft", übertitelte Brasiliens dramatischer Klassiker Nelson Rodrigues 1965 ein Stück. Die Militärs hatten im Jahr zuvor gegen den gewählten Präsidenten Joao Goulart geputscht. Von "Putsch" sprechen seit April vorigen Jahres auch die Gefolgsleute der aus dem Amt getriebenen Präsidentin Rousseff; das Wort "Putsch" trifft den Vorgang aber nur bedingt, da Brasilien keine parlamentarische, sondern (wie die USA) eine präsidiale Demokratie bevorzugt. In Deutschland entspräche diesem "Putsch", bei dem ein früherer Koalitionär der Regierungschefin die Fahne und die Farbe wechselte, eher einem konstruktiven Misstrauensvotum.

Brasilien DSC 9932Mittendrin im schrillen Kiez von São Paulo: knallharte Typen, "Pessoas brutas" vom Teatro Os
Satyros © Andre Stefano

Mit Amtsantritt des extrem unbeliebten "Putschisten" Michel Temer, zuvor Rousseffs Vizepräsident, begann jedoch ein gesellschaftlicher Rückschritt, dessen Schärfe kaum vorhersehbar gewesen war: Temer strich Sport- und Kulturförderungen, kassierte Arbeitnehmerrechte ein, verkauft das Tafelsilber staatlicher Unternehmen wie des Energie-Giganten Petrobras, überlässt Erzförderungs-Trusts aus Europa, Kanada und den USA ein Regenwaldgebiet von der Größe Dänemarks am Amazonas. Der Umgang mit indigenen Völkern ist ähnlich gestört wie in den 50er Jahren, als Großgrundbesitzer ganze Stämme abschlachten ließen, um Land zu gewinnen. "Demarcacao já!" nennt sich eine der derzeit mitreißendsten Widerstandsaktionen von Künstlern aller Sparten. Sie fordern, dass die verschiedensten Stämme das Recht am eigenen Land zurückbekommen. In São Paulo hielt eine Indio-Gruppe ein Ministerium besetzt – nur über ihre Leichen werde es weitere Landnahme durch die weißen Eliten geben. Die Besetzer meinen das sehr ernst.

Korrupte Eliten

Das ist Brasilien heute: ein Land auf dem Weg zurück in die Vergangenheit, in eine Oligarchie reicher Weißer, die sich Lohnsklaven halten für die niederen Arbeiten. Der Präsident und die engeren Kreise um ihn herum sind sämtlich der aktiven und passiven Korruption verdächtig; aber die nach dem Putsch solide Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments verhindert bislang jede Form von juristischer Untersuchung. In Curitiba, der Hauptstadt des Süd-Staates Parana, wütet derweil ein extrem parteiischer Provinzrichter gegen den Expräsidenten Luis Inacio Lula da Silva. Richter Sergio Moro aus Curitiba, Ermittler in der Antikorruptions-Aktion "Lava Jato" (übersetzt: "Autowäsche"), Ankläger und Richter in einer Person (und damit ein Fall für internationale Gerichtshöfe!), setzt alles daran, Lula zu verurteilen. Bliebe er straffrei, hätte er bei den Wahlen im kommenden Jahr beste Chancen, den aktuellen rechten Spuk vom Feld zu fegen. Aber ob diese Wahlen überhaupt stattfinden werden? Schon melden sich Generäle zu Wort, die sich selber berufen fühlen, Ordnung zu schaffen; Friedhofsruhe wie 1964.

Brasilien teatro oficina Lina Bo Bardi CMarkus Lanz 2014Teatro Oficina in São Paulo entwickelt und geplant von der brasilianischen Architektin Lina Bo Bardi
zusammen mit Zé Celso Martinez Correa  © Markus Lanz

Unter diesem politisch-gesellschaftlichen Dauerdruck ächzen die Theatermacher. Und es gibt weitere Fronten – die Wirtschaft ist massiv eingebrochen, bereits unter Rousseffs Regierung, aber erst recht danach. Geld für Kulturförderung ist knapp geworden.

Geldmangel, Abrissdrohungen, Polithorrorclowns

Petrobras, das reichste staatliche Unternehmen im Lande, war Hauptsponsor beim "Teatro Oficina" in São Paulo (das 2004 und 2005 an der Volksbühne in Berlin gastierte sowie 2007 die "Schillertage" in Mannheim bereicherte). Mittlerweile gibt's für das Ensemble bestenfalls noch die Hälfte der früheren Förderung. Nun bemüht sich die Theaterleitung hingebungsvoll, das Publikum als Koproduzenten zu gewinnen. Aber woher sollen die Freunde des Theaters das Geld nehmen, wenn die Regierung sogar am Minimal-Einkommen herum schnippelt, dem "salario minimo"?

Ob bald überhaupt noch irgendwelches Geld da sei zum Theaterspielen, fragt sich Marcelo Drummond, Ko-Direktor des Hauses. Zwar gibt der unverwüstliche, mittlerweile 80jährige Patron und Guru des Theaters Jose Celso Martinez Correa nicht eine Minute Ruhe im Kampf für das Überleben seines Theaters – aber der zwielichtige Medien-Mogul Silvio Santos, selbst von Steuerfahndern bedroht, will die eigenen Unternehmen durch ein Mega-Wohnbau-Projekt gleich neben dem winzigen Werkstatt-Haus des Theaters retten.

Brasilien sertao1 12 Thomas Aurin"Krieg im Sertão" von Teatro Oficina, 2005  © Thomas Aurin

Die einst von der berühmten brasilianischen Architektin Lina Bo Bardi gebaute Bühne steht zwar unter Denkmalschutz, doch den aktuellen Bürgermeister wird das letztlich nicht kümmern. Bei ihm handelt es sich um eine weitere Figur aus dem Polithorrorkabinett: Joao Doria ist eine Art brasilianischer Trump; bloß schlimmer. Andauernd – wenigstens solange die Medien hinschauen - wirft sich Doria in Müllfahrer-Klamotten und geht mit den "guri"-Leuten auf Tour, dabei rückt er selber mit der Spritz-Pistole den Graffitis in der Stadt zuleibe – und malt möglichst alles Grau in Grau. Auch zögert er nicht, an einem eisig kalten Wintermorgen Obdachlose per Wasserwerfer von einem Platz zu jagen und an anderer Stelle, unter einer Hochstraße gleich beim "Oficina", die Habseligkeiten einer anderen Gruppe von Wohnungslosen einfach abzufackeln. Als hemmungloser Populist hat Doria das Zeug zum Terroristen – und lügt bei Bedarf wie gedruckt. In Paris habe er neulich Emanuel Macron besucht – der aber an diesem Tag nachweislich gar nicht in Frankreich weilte. Doria wäre vielleicht nichts als ein schlimmer Clown, hielte er mit São Paulo nicht eine der weltweit wichtigsten Metropolen in seinem Würgegriff. Präsident werden will er natürlich auch.

Protektion schützt nicht mehr

Lange konnte die Gruppe "Os Satyros" auf die Hilfe von Stadt und Bundesstaat São Paulo zählen; eine der Protagonistinnen ist eng befreundet mit Jose Serra, im Vorjahr kurzzeitig Außenminister, der Privatisierungen einfädelt und Millionen an Bestechungsgeldern erhalten haben soll. Serra wollte immer auf der Karriereleiter aufsteigen, blieb aber die mit Abstand langweiligste Polit-Figur im engeren Führungskreis der Konservativen.

Brasilien DSC 3658Das "Satyros"-Ensemble in "Pessoas Perfeitas" am Beginn der Trilogie zum brasilianischen Alltag
© Andre Stefano

Mit dem politischen Druck wachsen die ökonomischen Nöte. Da alle Theater in Brasilien praktisch ohne kontinuierliche öffentliche Förderung mit immer neuen Finanzierungen von Produktion zu Produktion planen müssen, greift die Rückkehr der religiös-fundamentalistischen Zensur sofort die Substanz an. Die Künstler sind besorgt über Pressionen wie die gegen den transvestitischen Jesus. Und die Sorge ist berechtigt: Evangelikale Pastoren sitzen in Hülle und Fülle im Parlament, gegen deren parteiübergreifende Macht kommt niemand an. Nicht nur durch die privaten Fernseh-Kanäle der Fundamentalisten, auch durch die TV-Krake "Globo", extrem reaktionär und wie schon am Umsturz 1964 auch am parlamentarischen Putsch des Vorjahres beteiligt, driftet das Land immer weiter weg von einer funktionierenden Demokratie. Der Musterknabe der Lula-Zeit wird zum kranken Mann am Zuckerhut.

Wie viel Widerstand das Theater da noch leisten mag? Wer weiß.

 

laages kleinDer Theaterkritiker Michael Laages, hierzulande zumeist für das Radio tätig, reist seit mittlerweile siebzehn Jahren regelmäßig nach Brasilien, er spricht portugiesisch und verbringt möglichst viel Lebenszeit in São Paulo.
Seit 2008 hat Michael Laages für nachtkritik.de fünf Theaterbriefe aus Braslilien geschrieben.