Habt mich gern!

von Andreas Wilink

Oberhausen, 6. Oktober 2017. Als "Palermo des Nordens" annonciert der neue Intendant Florian Fiedler in seiner Auftakt-Spielzeit am Theater Oberhausen die Revier-Stadt. Das erinnert den Kinogeher an den 1980 mit dem Goldenen Bären prämierten "Palermo oder Wolfsburg" von Werner Schroeter, der übrigens während der Ära von Klaus Weise auch in Oberhausen inszeniert hat. Der Film kontrastiert sizilianische Herzenswärme und deutsche Gefühlskälte in der Autostadt und melodramatisiert die Kollision von subjektivem Gerechtigkeits-Empfinden und Handeln mit kodifiziertem Recht, juristischer Bürokratie und Ratio. Da sind wir thematisch nicht fern von der Tragödie der Antigone. Könnte man meinen ...

In Theben widersetzt sich die ältere Ödipus-Tochter der Staatsräson ihres Onkels Kreon. Ihrem toten Bruder, der gegen sein eigen Blut zu Felde zog, bis sich im Zweikampf Polyneikes und Eteokles töteten, erweist sie die letzte Ehre. Dabei sollte der Verräter an seiner Vaterstadt, seinem Volk und seiner Heimat keine würdige Bestattung erhalten. Doch das Gesetz der Götter steht höher als menschlicher Befehl. Die Rebellin zahlt ihre Selbstermächtigung mit dem Tod.

In Oberhausen ist mächtig was los und der Theatersaal ziemlich entgrenzt. Vier sehr aufgeregte und schlecht angezogene Strippenzieher bedienen Tastaturen, lassen es auf elektronischen Schalttafeln blinken, bringen Bildschirme zum Leuchten und arbeiten mit langer Leitung, emsig tippend wie die Besatzung der Orion in ihren Cockpits. Es piepst auch, um anzuzeigen, dass die Außentüren "gesichert" sein sollen. Aber keine Bange. Gefahr droht hier nur der Kunst.

Helft mir doch!

Die Vier sind willens, irgendwas zu "koppeln", Kontakt herzustellen, "nein" zu zu sagen und widerständige Energien zu bündeln, die sich zwischen Theben und Athen, dem syrischen Homs und dem Taksim-Platz in Istanbul aufgestaut haben sollen. Kurzschluss. Absichtserklärungen. Und weil Aufstand ist, sollen sinnigerweise auch wir von unseren Sitzen aufstehen. Die meisten tun es. Zuschauer-Fleisch ist geduldig, auch darin, beim Zorbas-Sirtaki mitzutanzen oder bei der Bestattung des Polyneikes unter einer Plastikplane als Trauergemeinde durch die Stuhlreihen zu wandern, nachdem Antigone – vervielfacht dank einer wackelnden Handkamera – flennend-flehend um Mithilfe gebeten hat. Einige Publikumsangehörige sitzen nicht im recht entleerten Parkett, sondern auf der Bühne auf Plastikstühlen zwischen weißen Säulen, Quadern und einem Torso. Revolutionäres Pathos wird ausgerufen, aber nicht hergestellt. 20 Minuten sind mittlerweile um, Sophokles ist Schimäre und wird es bleiben.

Antigone2 560 Isabel Machado Rios uEnergetisch aufgeladenes Durcheinander © Isabel Machado Rios

Eine der vielen Fatalitäten dieser erschütternd einfältigen, uns für dumm verkaufen wollenden sowie als dramatischer Vorgang komplett leblosen Aufführung ist es, sich einzubilden, direkte Ansprache und penetrant nötigendes Hereinziehen des Zuschauers in den konfusen Aufführungsbetrieb, der der Laienspielschar einer Bildungseinrichtung ähnelt, würde größere oder überhaupt Nähe und Verbindung schaffen. Würde emotionale Anteilnahme oder intellektuelle Erkenntnis fördern.

Und hört mir zu!

Nachdem der Beginn mit großer hohler Geste ausholt, um Welt und Weltpolitik zu vereinnahmen, wird es muffig privat und Antigone (wehleidig, jämmerlich, mit hängenden Schultern bietet Christian Bayer in aller vermuteter Schauspieler-Unschuld die absolute Kapitulation der Figur) zum Fall für den psychosozialen Dienst, wo noch Ernst Bloch in ihr die tragische Heldin des "Protests mit sachlichem Rechtssinn" sah. Sinn und Verstand wurden jedoch für diesen Abend freigestellt, der in seinen anderthalb Stunden nichts zu sagen hat.

Antigone1 560 Isabel Machado Rios uChristian Bayer als Antigone © Isabel Machado Rios

Als letztes lässt Regisseurin Babett Grube eine Moderatorin – esoterisch und falsch mitfühlend – eine Familien-Aufstellung für eine Show-Therapie-Nummer inszenieren: Antigone begegnet den Rollen-Vorbildern von Mutter Iokaste ("Mama ist die Beste"), Papa Ödipus ("Halt die Fresse"), Schwesterchen Ismene ("Ich bin okay und habe Bock auf Leben") und Haimon, der seiner Anverlobten eine "Wohnung mit Garten" oder einen Trip nach Indien offeriert. Antigone, so lernen wir staunend, will einfach nur liebgehabt werden, während Kreon im Europäer-Politiker-Sprech und mit "merkelnder" Einlage eine demokratische Sonntagsrede hält und wir uns als kollektive Öffentlichkeit selig ins Mitgefühl ("Je suis Antigone") schaukeln sollen.

Was wir aber erlebt haben, ist die Tragödie als Selbsterfahrungsgruppe – und zugleich die Selbstaufgabe des Theaters.

Antigone
nach Sophokles in einer Übertragung von Frank-Patrick Steckel
Fassung von Babett Grube und Lucie Ortmann
Regie: Babett Grube, Bühne: Demian Wohler, Kostüme: Hanne Lauch, Bettina Kletzsch, Dramaturgie: Lucie Ortmann.
Mit: Torsten Bauer, Christian Bayer, Susanne Burkhard, Burak Hoffmann, Banafshe Hourmazdi, Emilia Reichenbach.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de

 


Kritikenrundschau

Von den Wendungen dieser Inszenierung mit ihrem Geschlechter-/Rollentausch und den "plakativ" eingespielten Videobildern berichtet Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (9.10.2017) distanziert. Im Finale leite Antigone eine "Familienaufstellung an, bei der die Arme mit den toten Eltern Iokaste und Ödipus sowie Schwester Ismene konfrontiert wird. Leider bringt auch das keinen wirklichen Erkenntnisgewinn."

"Der König von Theben ist bei ihr eher aalglatter Europa-Politiker – allerdings in der fuchtelnden Schultheaterversion," schreibt Honke Rambow über Babett Grubes Inszenierung bei den Ruhrbaronen (7.10.2017). "Vielleicht ist diese Abwesenheit schauspielerischer Begabung aber auch nur Regieeinfall, genauso wie die Beleuchtung einer Szene mit der Taschenlampenfunktion der Zuschauerhandys (ich hatte leider, leider zu wenig Akku, um da noch mitzumachen). Nach rund eindreiviertel Stunden stirbt dann Antigone mit ganz viel Hipsterweinerlichkeit und ein, sagen wir es ehrlich, verstörender Theaterabend in Oberhausen ist zu Ende."

"Es wäre einfach, über diese 'Antigone' von Babett Grube herzufallen, aufzustöhnen: wie peinlich", findet Ralph Wilms in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (9.10.2017). Ihre Inszenierung berühre aber. Und: "Christian Bayer als blonde Antigone war eine große Besetzung".

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