Frauen sind seine Konstante

von Willibald Spatz

Augsburg, 7. Oktober 2017. Als neuer Intendant in Augsburg will André Bücker vor allem raus, hin zu den Bürgern und den Themen, die sie bewegen. Er will Stadttheater im wörtlichen Sinne. Schon am Freitag ist eine Reihe namens "Tatort Augsburg" gestartet, die in mehreren Folgen jeweils in einem anderen Stadtteil aufgeführt wird und sich mit spezifischen Inhalten vor Ort auseinandersetzen will. Auf der anderen Seite muss er auch raus, denn das große Haus ist anlässlich seiner Generalsanierung für die nächsten Jahre geschlossen. Die Nebenspielstätte "Brechtbühne" wird demnächst auch nicht mehr bespielbar sein.

Mithilfe der Musik

Das Stadttheater befindet sich bald ausschließlich an Ersatzspielstätten. Sicherlich sind das nicht die einfachsten Bedingungen, die sich ein neuer Intendant wünschen kann. André Bücker erweckt den Eindruck, als ob ihn diese Umstände eher herausfordern als entmutigen.

Zumindest bei "Peer Gynt", seiner ersten Inszenierung als Augsburger Intendant, beweist er, dass im Martini-Park technisch hervorragende Voraussetzungen vorhanden sind, um Theater zu spielen. Der Martini-Park ist eine Gewerbegelände, auf dem eine Halle zum Interims-Theaterraum umgebaut wurde. Es ist erstaunlich, wie hier in kurzer Zeit eine vollwertige Spielstätte entstanden ist, die sich auch für Oper und Tanztheater eignet. An ein paar Ecken ist das Provisorische durchaus noch zu erahnen, wodurch beim Aufenthalt dort sogar so etwas wie ein Festivalfeeling aufkommt.

Peer2 560 Jan PieterFuhr uPeer Gynt, der nach den Sternen greift: Szene mit Gerald Fiedler und Anatol Käbisch
© Jan-Pieter Fuhr

Dass André Bücker wirklich mit der Stadt und ihren Künstlern in Kontakt kommen will, merkt man auch daran, dass er die Band "Misuk" damit beauftragt hat, die Musik für den Abend zu komponieren. Dass sie Musik fürs Theater schreiben können, haben sie auch schon bei diversen Augsburger Brechtfestivals in der Vergangenheit bewiesen. Jetzt vertonen sie keine Brechttexte, sondern Ibsen.

Zusammengeträumte Identitäten

Die Momente, in denen sich die Inszenierung ganz auf die Musik verlässt, sind die atmosphärisch dichtesten des Abends. Die Sängerin Eva Gold greift einige Male schauspielerisch ins Geschehen ein. Sie ist unter anderem die Ingrid, die sich an ihrem Hochzeitstag in einer Blockhütte eingesperrt hat und von Peer Gynt in die Berge entführt wird.

Die Titelfigur selbst wird von sechs Schauspielern übernommen. Am Anfang treten sie alle nacheinander aus einer drehbaren Blockhütte, die das Zentrum von Jan Steigerts Bühnenbild darstellt. Die Schelte der Mutter Aase nehmen sie alle zusammen hin. Danach darf in jedem Akt ein anderer den Peer Gynt geben, die restlichen fünf teilen sich die übrigen Rollen auf. Alle tragen sie immer blonde Langhaarperücken, sie bleiben also immer ein bisschen Peer Gynt, der sich das alles, was passiert, ja auch nur zusammenträumen könnte. Nur die Mutter Aase und Solvejg werden immer von denselben Schauspielerinnen verkörpert: der faszinierend kahlen Ute Fiedler und der geduldig harrenden Karoline Stegemann.

Peer1 560 Jan PieterFuhr uEin Traumspiel: Sechs mal Peer Gynt, v.l.n.r. Thomas Prazak, Sebastian Müller-Stahl, Kai Windhövel,
Gerald Fiedler, Daniel Schmidt, Anatol Käbisch und Ute Fiedler © Jan-Pieter Fuhr

Diese beiden Frauen sind die einzigen Konstanten in dem unsteten Leben und Charakter Peer Gynts. Der ist sowieso eine der großen Projektionsflächen der Weltliteratur. Einer, der ständig was Neues beginnt und, ohne große Fehler zu begehen, jedes Mal grandios scheitert. So etwas prägt natürlich auf Dauer. Aus einem leichtsinnigen Luftikus wird ein Weichei und Schwätzer, wird ein zynischer Kiffer und am Ende ein verbitterter, verwirrter Greis. Jede dieser Stationen wird technisch virtuos mit verschiedenen Videoprojektionen hergestellt.

Im Hintergrund sind Landschaftsaufnahmen zu sehen, auf der zentralen Blockhütte ihr Inneres und das wiederum überblendet von Live-Videobildern, die hinter der Hütte gemacht werden. Manchmal sind Personen mehrmals in derselben Szene zu sehen. Einige Szenen wirken auf diese Weise optisch enorm.

Technisch ist alles möglich

Die Verlobungsfeier im Palast der Trolle gerät mit einem auf High Heels staksenden Gerald Fiedler irre komisch, die Sterbeszene der Mutter Aase, in der zu den sechs leibhaftigen Gynts noch zwei gefilmte kommen, wiederum ist im Kontrast ungeheuer bewegend. Und dennoch hat man im Voranschreiten des Abends immer mehr den Eindruck, einer Aneinanderreihung technischer Lösungen zu den szenischen Aufgaben, die diese sperrige Stück stellt, zuzusehen.

Zugunsten schöner Bilder wird eine gewisse Beliebigkeit in Kauf genommen. Nach dem berühmten Zwiebelmonolog, den wieder Gerald Fiedler übernimmt, ist alles gesagt. Man kann die sechs nur noch aufreihen und zusammen singen und sprechen lassen, aber die Luft ist raus. Freilich ist auch das konsequent, denn der Sinnsucher Peer Gynt, landet am Ende auch im Nichts. Und umgekehrt tritt André Bücker erst an zu seiner Suche nach den Themen, die die Menschen hier wirklich bewegen. Da kann keiner verlangen, dass er am ersten Abend gleich ankommt. Man hat allerdings das Gefühl, dass es ihm ernst ist.

Peer Gynt
Ein dramatisches Gedicht von Henrik Ibsen
Deutsch von Christian Morgenstern, André Bücker und Lutz Keßler
Regie: André Bücker, Bühnenbild: Jan Steigert, Kostüme: Suse Tobisch, Video: Frank Vetter, Kamera: Vassilios Georgiadis, Dramaturgie: Lutz Keßler, Musik: Eva Gold, Girisha Fernando, Assia Chappot, Stefan Brodte (Misuk).
Mit: Gerald Fiedler, Ute Fiedler, Anatol Käbisch, Sebastian Müller-Stahl, Thomas Prazak, Daniel Schmidt, Karoline Stegemann, Kai Windhövel.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

André Bücker treibe Ibsens von kultivierter Lust am Exotischen garnierte Kapitalismuskritik mit Tempo und Spiellust fort und ins Heute", schreibt Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung (9. 10. 2017). Wie Sprechblasen füge Bücker seine kommentierenden sprachlichen Extempores im aktuellen, mit dem F-Wort gespickten Jargon in Ibsens Original-Rede ein und setze auf die volkstümlich-derbe Farce. Die Kritikerin merkt Bücker außerdem an, "dass er in seinen Anfängen dem Regisseur Michael Simon assistierte, einem wahrlich kühnen Bildererfinder, der nunmehr in Zürich Bühnenbild lehrt. Und Bücker kennt seinen Castorf, der, was live in Bühnengehäusen passiert, fürs Publikum stets auf Video sichtbar macht." Und dennoch, der dreieinhalbstündige Abend hat, "was bei 'Peer Gynt' offenbar generell unvermeidlich ist", aus ihrer Sicht "auch seine Längen".

Von einem komplexen und ein wenig labyrinthischen Abend spricht Rüdiger Heinze in der Augsburger Allgemeinen (9.10.2017) und gibt am Endestarken Applaus zu Protokoll. "Gerade dort, wo die fantastischen und exotischen Abenteuer im fabulierenden Riesengedicht ein wenig der Verdeutlichung bedürften, weil sie metaphorisch mehr sind als wunderliche Episoden, gerade dort brennt Bücker ein extravagantes szenisches Ideen-Feuerwerk ab. Also bei den Trollen und im Afrika-Akt. Eine Sause. Dem zu folgen dürfte für denjenigen nicht ganz leicht sein, der das Stück nicht vollkommen intus hat. Bücker fordert vehementen Sprech- und Spieleinsatz; Bücker beansprucht – vornehme Erwartung des Theaters – konzentrierte Hör- und Seh-Arbeit."

"Hier wird eine naturwüchsige Überschussproduktion gefeiert, die sich auf keine binäre Funktionslogik reduzieren lässt – die pure Lebenszeitverschwendung, die der Anfang des Theaters ist", staunt Patrick Bahners von der FAZ (12.10.2017). Bücker importiere die Versatzstücke des zeitgenössischen Trash-Theaters. "Die Reste-Rampe mit vulgären Effekten aus dem Castorf-Katalog wird vor dem überwältigend schönen Prospekt nordischer Videolandschaftsbilder zum Ort einer poetischen Epiphanie."

 

Kommentare  
Peer Gynt, Augsburg: am Thema gescheitert
Sehr freundlich beschrieben.Man kann auch sagen,mit technischer Virtuosität grandios am Thema gescheitert. Dem schwierigen aber reichhaltigen Stück alle Tiefe und Sinnlichkeit ausgetrieben ohne eigene neue Sinnhaftigkeit oder auch Leidenschaft zu entdecken. Bestens geeignet, um auch einem aufgeschlossenen Publikum die Lust am Theater zu vergällen. Bitter. Ich habe schon sehr viele Gynt-Inszenierungen gesehen. So machtvoll vergeigt war keine auch nur ansatzweise.
Peer Gynt, Augsburg: mitnichten virtuos
Mit aller Gewalt mussten in besagter Interimsspielstätte zwei Neuproduktionen erfolgen - fernab jeglicher "optimaler Vorraussetzungen" für den Theaterbetrieb, schlichtweg die Summe ihrer Kompromisse, auf dem Weg der Fertigstellung, wie man bereits mit minimalem technischen Sachverstand erkennen kann.
Aktuell unter für alle Mitarbeiter wenig erfreulichen, aber tolerablen - zu Anfangs allerdings indiskutablen - Bedingungen. Dennoch mit stets großem Zeitdruck.

Symptomatisch für dieses Vorgehen der Eröffnung ist auch die erste Inszenierung von Andre Bücker - der hier trefflich beweist wie man über mangelnden Inhalt mittels großem technischen Aufwand hinwegtäuscht.

Frei nach dem Motto "Das Stück hat gerade eine schleppende Phase - DIE BAND SOLL ETWAS SPIELEN", "Das gefällt mir gerade noch nicht - MACH MAL VIDEO AN".
Ein Konzept, welches bereits manchen Inszenierungen, beispielsweise auch zum Ende der vorherigen Intendanz hin, als Erfolgsrezept diente.

Hierbei handelt es sich jedoch mitnichten um Virtuosität, sondern schlichtweg mangelndes Verständnis für die Integration, und innovative Nutzung, der gegebenen Medien.

Denn seien wir mal ehrlich - Hand auf´s Herz - was bleibt nach diesem 3 stündigen "Spektakel" dem Zuschauer?
Peer Gynt, Augsburg: großartige Auseinandersetzung
Ich kann diese beiden Kommentare nicht verstehen. Diese Beurteilungen finden sich in keiner der publizierten ernstzunehmenden Rezensionen. Hier scheinen Hausinterne (oder Stadtinterne?) Emotionen im Spiel zu sein. Ich kann nur empfehlen, lozulassen und sich mit Wohlwollen und Neugier auf den Start in eine neue Zeit einzulassen. Natürlich wird Bücker mit einer ersten Inszenierung das Theater nicht neu erfinden können. Aber sein GYNT ist, von außen betrachtet, eine großartige Auseinandersetzung mit einem extrem schwierigen Material. Und gerade der Umgang mit den Projektionen ist vorbildlich, weil die Durchdringung von Realität und Imagination formal und zugleich inhaltlich perfekt mit Ibsens Text zusammenpasst.
Peer Gynt, Augsburg: gestriges Frauenbild
Ich bin ehrlich gesagt entsetzt mit was für einem gestrigen Frauenbild man hier konfrontiert wird, wenn sie sie wehren oder gar Widerworte geben werden sie kurzerhand umgedreht und 'von hinten genommen'...oder sie hüpfen und frohlockend über die Bühne, einem Peer zujubelnd der sich alles gewaltsam nimmt was er gerade will! Er kann das ja, er ist schließlich ein Mann....äußerst fragwürdiger Abend!
Peer Gynt, Augsburg: Feigling vor dem Leben
...und seine Braut muss daheim Jahrzehte auf ihn warten, und tut es, ohne zu protestieren. Peer Gynt ist aber kein strahlender Held, sondern ein Opportunist und Feigling vor dem Leben. Seine Handlungen sind von Ibsen ebenso kritisch gezeichnet, die Regie treibt diese stückimmanante Kritik nur auf die Spitze. Aase, Solvejg, Ingrid, Trollprinzessin und Anitra sind Gynts Männerphantasien nach allen Regeln des Klischees. Inge, Sie kritisieren zu Recht das Frauenbild Gynts, Sie können aber der Regie nicht unterstellen, dieses kritiklos zu übernehmen. It's the character, ******!
Peer Gynt, Augsburg: Irrtum Sabine
Nein, im Gegenteil, ich habe 0,0 haus- oder stadtinterne Bindung oder Vorbehalte. Ich hatte mich sehr gefreut, dass ein Neubeginn mit diesem schwierigen, aber großartigen Stück versucht wird. Scheitern inklusive. Ich habe schon extrem unterschiedliche Interpretationen und Versionen gesehen, die mit meinem unerheblichen Verständnis des Stücks oft nichts zu tun hatten, einen aber auf eine Reise mitgenommen haben. Virtuos oder naiv, aber aus dem Stück heraus. Aber diese völlig überflüssige Übersexualisierung gerade auch Peers, die ist schlichtweg nicht stückimmanent sondern hachwiemodernachtzigerjahreprovokativ und ebensoso überflüssig wie kontraproduktiv, wenn man die Zerrissenheit einer Figur ergründen will. Es ist eine Fantasie, aber nicht die Ibsens, die da in diesem vergewaltigenden Peer-Bild zu sehen ist. Sechs Peers? Das erinnert doch an die Parodie der Rasiererwerbung, nach einer, zwei, drei nun 18 Klingen – ohne Gelingen. Es ist keine Logik erkennbar, wofür diese Aufsplitterung führen soll außer noch mehr Peers zu haben als andere Inszenierungen. Da half dann auch das technisch großartige Bühnenbild mit all seinen Möglichkeiten zur Verschiebung und Verdopplung leider nicht mehr, einen fehlbaren Menschen oder Beziehungen zwischen Figuren zu erkennen. Und zum Punkt der ernst zu nehmenden Kritiken… jeder ist das Wohlwollen anzumerken, dass man der neuen Intendanz in schwieriger Situation (die ja zu kreativen Höchstleistungen führen kann, wie man in der Münchner Kammerspiel-Ausweichstätte Jutierhallte unter Baumbauer sehen konnte!) erst einmal ein Ankommen gönnt und auf bessere Inszenierungen wartet. Das ist nett und fair und professionell im Sinne der Wahrung eines Miteinanders in den kommenden Jahren. (...) Um es auf den bösen Punkt zu bringen, das war eine tolle Leistungsschau der technischen und schauspielerischen Möglichkeiten des Hauses, aber beileibe kein Theaterzauber.
Peer Gynt, Augsburg: derb, aber schlüssig
#6
Was versuchen Sie hier eigentlich so nachdrücklich zu konstruieren? Ihnen hat der Augsburger Peer Gynt nicht gefallen. In Ordnung. „Übersexualisierung“? Auf was beziehen Sie sich denn da? Auf die Anitra-Szene, in der Peer als alternder Mann Versuch, mit Macht und Gewalt seine Jugend zu beschwören und versucht Anitra buchstäblich zu besteigen, und daran scheitert? Ohne „Saft in den Lenden“, wie es bei Ibsen heißt? Ich finde die szenische Auflösung, die die Inszenierung anbietet, wenn auch derb, doch absolut schlüssig, vor allem weil die Anitra ja von einem der Peer-Darsteller gespielt wird, er also quasi mit sich selbst um seine Jugend ringt. Sie allerdings ziehen ständig die vielen anderen Peer–Gynt-Inszenierungen, die Sie angeblich gesehen haben und zum Vergleich heran, ohne zu benennen, um welche es sich denn konkret handelt und warum diese so zwingend besser sind als die Augsburger Aufführung. Das ist mehr als dünn argumentiert. Und dabei scheint Ihnen auch eine der bedeutendsten Aufführungen nicht geläufig zu sein. Peter Stein hat 1971 an der Berliner Schaubühne acht Peer Gynts ins Rennen geschickt, gespielt von sechs Schauspielern. Soviel zu Ihrem etwas peinlichen Rasierklingenvergleich. Und alle guten Kritiken, von denen es viel mehr gab, als in der Nachtkritik-Presseschau zitiert, z.B. Im Donaukurier, in der Bayrischen Staatszeitung und im Bayrischen Rundfunk, um nur einige zu nennen, als Konzessionsschreibe abzutun, ist bösartig. Da klingt es dann doch, als hätten Sie andere Motivationen für Ihr Posting.
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