Presseschau vom 10. Oktober 2017 – Volksbühnen-Petitions-Initiatorin Evelyn Annuß in der Berliner Gazette

Vertane Chance

Vertane Chance

10. Oktober 2017. Am 9. Oktober hätte der Kulturausschuss im Berliner Parlament seine umstrittene Entscheidung für Chris Dercon als Volksbühnen-Intendanten, einen "Kurator aus der bildenden Kunst (...), der noch nie in einem Theater gearbeitet hat", überdenken können, schreibt die Berliner Theaterwissenschaftlerin Evelyn Annuß in einem Debattenbeitrag in der Berliner Gazette. "Stattdessen wurde nachträglich durchgewunken, was vor zwei Jahren ohne Beratung durch Experten hinter verschlossenen Türen entschieden worden ist."

"Genau weil sie den Doppelcharakter des Theaters, Kunst- und sozialer Raum zu sein, in dieser Weise ernst nahm, konnte die Volksbühne enorme Bindungskräfte über das bildungsbürgerliche Publikum hinaus entwickeln", schreibt Annuß und bezieht sich damit auf über 40.000 Unterschriften unter der Petition "Zukunft der Volksbühne neu verhandeln", die sie im Sommer mitinitiiert hat.

Statt dass der Kultursenator und der parlamentarischen Kulturausschuss sich nun aber sachgerecht und ergebnisoffen von Leuten beraten ließe, "die wissen, wie ein Ensemble- und Repertoirebetrieb funktioniert", habe sich "ein fatales Zusammenspiel aus Politik und Teilen der Presse ergeben".

Währenddessen werde die Volksbühne "ohne Not in einen Betrieb umgewandelt, der ohne Schauspielensemble und Repertoire auskommt und stattdessen jene von der Produktion vor Ort abgelösten Künstlerinnen und Künstler präsentieren soll, die in Berlin vieler Orts ohnehin schon gezeigt werden". Das zu einem wesentlichen Teil aus Gastspielen, Konzerten oder digitalen Aufführungen bestehende Programm widerspreche den Zusicherungen des Berliner Senats jedoch ebenso wie den bisherigen öffentlichen Erklärungen der Theaterleitung.

"Um die anhaltende Kritik zu diskreditieren, wurde insbesondere von den Medienpartnern der neuen Volksbühne das Gespenst entfesselter Wutbürger und Castorf-Groupies beschworen. Dadurch entstand schließlich ein Vakuum, das die Besetzung der Foyers und die Inszenierung einer kollektiven Intendanz durch Aktivistinnen und Aktivisten hervorgerufen hat", geht Annuß zur Analyse der kürzlichen Besetzung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz über.

Die Aktion habe einen "Möglichkeitsraum eröffnet, (...) der uns auch nach der Räumung dazu aufruft, trotz alledem weiter darüber zu streiten, was eine 'gute stehende Volksbühne' sein könnte, in was für einer Stadt wir leben wollen und wie sich ein produktives politisches Klima offener, sachbezogener Auseinandersetzungen herstellen ließe".

Die Besetzung und die Räumung durch Chris Dercon hätten aber auch verdeutlicht, "was Kultursenator und -ausschuss mit ihrem Nichthandeln stillschweigend übergehen: dass es längst um mehr als die Frage der Castorf-Nachfolge geht, um mehr als einen neuen Platzhirschen, der das alte Intendantenmodell durch ein nicht minder patriarchales, für Sponsoren angeblich attraktiveres Kuratorenmodell ersetzen soll", so Annuß: "Genau in der Auseinandersetzung darüber bestünde die Chance für eine andere Kulturpolitik."

(sd)

Mehr zur Debatte um die Volksbühne Berlin:

Zur Räumung der Berliner Volksbühne (28.9.2017)

Bemerkungen zur Besetzung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (25.9.2017)

Debatte um die Berliner Volksbühne – eine kommentierte Presseschau zum aktuellen Stand der Diskussion (19.9.2017)

 

 

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