Wähl noch einmal mit Gefühl

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 11. Oktober 2017. Wie gesellschaftsfähig man gerade ist, lässt sich gut daran messen, wie unaushaltbar man es findet, an einer roten Ampel Lebenszeit zu verschwenden. Diese Scheiß-Zivilisation! Mit ihren Scheiß-Regeln. Gut möglich allerdings, dass man die Welt aus diesem Gemützustand heraus auch am besten unterhalten kann. Denn in der Unzufriedenheit lauert die billige Leidenschaft, was sich derzeit in rechtspopulistischen Erfolgsgeschichten niederschlägt und jetzt in den Berliner Sophiensaelen vom Performerkollektiv Interrobang noch einmal deutlich gemacht wird. Im Titel ihres Abend lassen sie das D für Volk (dēmos) gleich weg und fordern das Gefühl direkt heraus: "Emocracy".

Wie ist die Stimmung im stellvertretenden Völkchen? Zunächst launig – es wird auch einiges geboten im Rededuell der Performer*innen Bettina Grahs und Lajos Talamonti, die vor einer Leinwand sitzen, in der sich das Publikum per Live-Video spiegelt. Mit Forced-Entertainment-Charme reden sie sich immer abwechselnd rotbackig, zwei bis zweieinhalb Minuten Redezeit sind programmiert, die vom Publikum durch Aufstehen und Daumen hoch/runter verlängert/verkürzt werden können. Die Geschichten werden nie zuende erzählt und hängen auch nicht zusammen, thematisch schlagen Grahs und Talamonti Haken durch die Assoziationswelt des Großstädters – der Spielplatzanekdote folgen Beobachtungen über die Neigung des Ü40-Berliners zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr, und natürlich fehlt auch die Aussteigerfantasie nicht.

interrrobang1 560 sophiensaele uGroßstädter in moralischen Zwickmühlen: Emokrat 1 + Emokratin 2 = Lajos Talamonti + Bettina Grahs  © Sandra Fox

Entweder läuft alles geradlinig auf eine möglichst schwierige moralische Herausforderung zu, oder es regiert mit visionärem Zepter der Widerwille sich solchen überhaupt zu stellen – schnell kristallieren sich eine politisch konservative (Talamonti) und eine progressive (Grahs) Position heraus, wobei auch mal getauscht wird und die höhere Tochter, die von ihren toleranzbewussten Eltern so mit Bildung zugeschüttet wurde, "dass es unten wieder rauskam", in Zeiten der ansteigenden Mieten in Berlin auf einmal empfänglich für antisemitische Gedanken wird ("Die Israelis kaufen hier alle Häuser!"). So schnell kann sich das Strickmuster ändern, wenn man in der Globalisierungshektik den Faden verliert – das wird sehr schön und lebensnah vorgeführt.

Keine Zeit für blinde Flecken hat auch Lajos Talamonti in seiner eigentlich recht harmlosen Gewaltfantasie "Fast and furious", in der er sehr schnell Auto fährt und außerdem andere Autos kaputt tritt – bevor es an die Gewalt gegen Menschen geht, ist seine Erzählzeit vorbei. "Fast and furious" provoziert trotzdem am meisten Einmischung vom Publikum und gewinnt deshalb die erste Runde: "Emokrat 1 hat überzeugt."

In Rage

In Runde zwei muss Emokratin 2 "Fast and furious" zunächst nacherzählen, wobei sie natürlich anfängt kritisch zu interpretieren und nachzufragen und der Inhalt der Geschichte beiden zusammen unter den Fingern zerrinnt. Die folgende Diskussion, in der ihre Grund-Positionen noch einmal geschärft werden, wird begleitet von einer Live-Abstimmung durch das Publikum, die wieder Emokrat 1 gewinnt. Denn er redet sich eben so schön in Rage, wenn er rot sieht.

In dieser Erkenntnis erschöpft sich der wenn auch durchweg unterhaltsame Abend aber auch – zu schnell wird auf der Spiel-Ebene von Experiment zu Experiment gehüpft, wenn sich das Publikum zum Beispiel noch Special Effects wie Musik, Sonnenaufgang oder "Mikro und Nebel" zu den Erzähl-Monologen dazu wünschen soll – meistens kommt, klaro, ein "Ja" dabei heraus und dann nicht viel mehr. Kein Wunder, dass schon der dritte Anlauf zur Abstimmung "Nächste Runde" oder "Ende" letzteres ergibt und der Premierenabend damit schon nach 80 Minuten (angekündigte Mindestdauer) endet; irgendwann wird's auch langweilig, Likes zu verteilen und reduziert zu sein auf den Slacktivism, für den man sich sonst schon andauernd diffus schuldig fühlen kann als bewusster Bürger des globalen Nordens.

Auf der Suche nach dem Gesellschaftsvertrag

Die interessanten Momente geraten beim straffen Tempo des Abends unter die Räder; wenn die "Special Effects" auf einmal in der Auswahl zwischen mehr/weniger Zumutungen oder mehr/weniger Feminismus in der präsentierten Geschichte bestehen – es wird aber nicht genug Erzählzeit gewährt, um anzufangen sich einen Unterschied zur nicht gewählten Alternative vorzustellen.

"Emocracy" ist im Rahmen eines kleinen internationalen Förderprogramms des Goethe-Instituts in der Ukraine entstanden – Leitfrage für drei Theatergruppen aus Russland (teatr.doc), der Ukraine (Zentrum Tekst) und Deutschland (Interrobang) war die nach dem Gesellschaftsvertrag im jeweiligen Land. Das lebendige Bedürfnis nach einem solchen transportiert "Emocracy" mit seiner erzählerischen Emphase schon, aber darüber hinaus verliert die Produktion sich so zielgerichtet in Spielereien, dass man beinahe vermuten könnte, wir haben hier in dieser Gesellschaft tatsächlich nur uninteressante "first world problems".

 

Emocracy
von Interrobang
Konzept: Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg, Dramaturgie: Lisa Großmann, Bühne, Kostüm: Sandra Fox, Interaktive Visualisierung: Georg Werner, Videoprogrammierung: Florian Fischer, Lichtdesign, technische Leitung: Dirk Lutz.
Mit: Bettina Grahs, Lajos Talamonti.
Dauer: 80-120 Minuten, keine Pause

www.sophiensaele.de
www.interrobang-performance.com

 

Kommentare  
Emocracy, Berlin: Luft raus
ie oft hat man sich diese Möglichkeit schon gewünscht? Einfach aufstehen und sich demonstrativ die Ohren zuhalten: schon springt die große Digitaluhr um und der Performer hat zwei Sekunden weniger Redezeit. Fairerweise gibt es auch die Chance, mit Faust zu sagen „Oh Augenblick, verweile doch, Du bist so schön“. In dem Fall muss man einfach nur aufstehen und schon bekommt der Schauspieler zwei kostbare Sekunden als Zugabe geschenkt.

Man stelle sich die nächste Castorf-Premiere am Berliner Ensemble vor: Seine Anhänger von der Volksbühne könnten dafür sorgen, dass Valery Tscheplanowa und Jürgen Holtz noch viel mehr Zeit für ihre Monologe bekommen und dass die Vorstellung auch im Morgengrauen noch längst nicht vorbei ist. Seine Gegner könnten gegen besonders mäandernde Passagen protestieren, in denen einzelne Sätze schier endlos wiederholt werden, und sie einfach abkürzen, wenn sie die Mehrheit bekommen. Da wäre einiges geboten im Publikum und die sechs Stunden, die ein Castorf-Abend im Schnitt das Sitzfleisch strapaziert, würden durch die kleine sportliche Betätigung viel kurzweiliger. Der Kreislauf käme auch in Schwung.

Zwanzig Minuten ist das Konzept dieser Interrobang-Performance ganz amüsant, danach ist die Luft schnell raus: die Pointe ist ausgereizt und die Geschichten sind provozierend banal. Dementsprechend stimmte das Publikum nach etwas mehr als einer Stunde mehrheitlich für ein „schnelles Ende“ dieses Abends.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/11/emocracy-abstimmungs-performance-in-den-sophiensaelen-geht-frueh-die-luft-aus/
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