Unheile Welt

von Andreas Klaeui

Bern, 13. Oktober 2017. Man musste schon ein sehr hartgesottener Zeitgenosse sein, um im Film "Der Verdingbub" (2011) keine heimliche Träne zu verdrücken. Verdingkinder hießen in der Schweiz bis in die 60er Jahre fremduntergebrachte Kinder, "Schwabenkinder" aus Waisenhäusern oder mit alleinstehenden Müttern, die für Kostgeld in "richtige Familien" gegeben wurden und dort oftmals ein trauriges Schicksal erlitten.

In den 50er Jahren spielt "Der Verdingbub". Aus "100 000 Geschichten", wie es im Filmvorspann heißt, hat er die Geschichte von Max kondensiert, der zu Bösigers (!) auf die Dunkelmatte (!!) kommt, nichts als sein Schwyzerörgeli und eine unerschütterliche Zuversicht im Gepäck, und dort mit einem saufenden Ziehvater, einer heuchlerischen Ziehmutter und deren brutalem Sohn nichts zu lachen hat. Am Ende rettet ihn die Kunst: Er reißt aus nach Basel, schifft sich ein bis Rotterdam und weiter nach Argentinien, in sein gelobtes Land, wo er zum gefeierten Bandoneon-Star wird, das klobige Bauernschuhwerk immer an den Füßen.

Für die Film-Vertheaterung eine Film-Regisseurin

Was in der Zusammenfassung nach argem Heulgeschichten-Stereotyp klingt, lebt im Film durch das feine Spiel, die großen traurigen Augen des jungen Max Hubacher, überhaupt einen Cast, der von Ursina Lardi über Katja Riemann (schweizerdeutsch synchronisiert), Stefan Kurt, Max Simonischek eine Crème de la crème des Charakterschauspiels in Bauernkleidern versammelt.

VERDINGBUB1 560 christian kleiner uEine Sauerei – Nico Delpy, Grazia Pergoletti, Jonathan Loosli, Jürg Wisbach © Christian Kleiner

Von Drehbuch-Autor Plinio Bachmann und der Dramaturgin Barbara Sommer stammt jetzt auch die Dramatisierung. Die Regie hat man in Bern ebenfalls einer Filmregisseurin anvertraut, Sabine Boss, die mit "Der Goalie bin ig" ihrerseits einen Publikumsrenner gelandet hat. Was der Film über berndeutsche Wortkargheit und naturalistische Ausstattung, aber auch das Wechselspiel von idyllischen Heile-Welt-Naturaufnahmen und der bösen Handlung wirkbar machte, fordert auf der Bühne allerdings eine andere Form.

Epische Erzähl-Einschübe

Sabine Boss setzt einerseits auf Nacherzählung, anderseits auf epischen Kommentar. Den Plot erzählt sie mehr oder weniger filmgetreu, in rasch aufeinander folgenden, etwas kurzatmigen Sequenzen. Auf der Bühne von Hugo Gretler und Marialena Lapata – ganz in Holz – steht ein ebenfalls hölzerner Wohnkubus, den die Schauspieler von Hand verschieben, was den "Chrampf" des kleinbäuerlichen Tagwerks simulieren mag; dazu einfaches Mobiliar und eine Menge Metallzuber, die die anfallenden emotionalen Ausbrüche mit wirkungsvollem lautem Scheppern unterstützen. Das Berner Ensemble findet plastische Figuren, ohne sie indes karikatural zu überzeichnen, namentlich Andreas Matti (der schon im Film einen Auftritt hatte) gibt dem Vater Bösiger eine markante depressive Vierschrötigkeit, und Nico Delpy als Verdingbub Max zeigt eine anrührende schüchterne Sehnsucht und Selbstbehauptung im Elend.

Den Handlungsstrang unterbrechen kommentierende Erzähleinschübe vor abgedunkelter Bühne, reflexive Schilderungen, die unter dem Strich mehr über die Figuren, ihre Motivationen, die ökonomischen Hintergründe, die sozialen Strukturen aussagen als die doch recht konventionelle Handlungsebene. In diesen epischen Momenten erreicht die Inszenierung eine Intensität, die eine eigene Qualität hat – und das Bedauern darüber hinterlässt, dass die Regisseurin nicht mutiger in diese Richtung gegangen ist; dass hier letztlich doch die Gelegenheit verschenkt wurde, aus dem Film Theater zu machen.

Verdingbub
von Plinio Bachmann und Barbara Sommer nach dem Drehbuch "Der Verdingbub" von Plinio Bachmann
Uraufführung
Regie: Sabine Boss, Bühne & Kostüme: Hugo Gretler, Marialena Lapata, Musik: Nermin Tulic, Licht: Bernhard Bieri, Video: Valentin Huber, Dramaturgie: Fadrina Arpagaus.
Mit: Nico Delpy, Miriam Strübel, Andreas Matti, Grazia Pergoletti, Jonathan Loosli, Irina Wrona, Jürg Wisbach, Nermin Tulic.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

Daniele Muscionico schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 16.10.2017): Es handele sich um einen Theaterabend, "auf den man gewartet hat": Die Thematik der "Schweizer Verdingkinder" sei zwar "ins öffentliche Bewusstsein gerückt". Doch daran zu erinnern, werde "noch länger vonnöten sein". Die Berner Inszenierung sei "ein Lehrstück in vielerlei Hinsicht". Auf "Zugeständnisse an ein Kinopublikum" sei verzichtet worden, die Version auf der Bühne ungleich "schroffer und unversöhnlicher", eine vor allem nach der Pause erschütternde "Lektion in Unmenschlichkeit". Die eigentliche Hauptfigur sei Berteli. Miriam Strübels Rolle verlange mehr, als die Darstellerin leisten könne. Das Schlussbild verdinge den Verdingbuben – an Hollywood.

In der Berner Zeitung Der Bund schreibt Regula Fuchs (online 16.10.2017): Dass die Dunkelmatte ein "luftiges, mobiles Bühnengebäude aus hellem Holz" ist, sei eine "produktive Irritation". Boss versehe die Figuren "mit Nuancen", jede von ihnen sei "eingespannt in den Schraubstock" des "eigenen Unglücks". Allerdings: Verwegene Ideen gäbe es im ersten Teil keine. In der zweiten Hälfte kämen "die Szenen zum Atmen", es wüchsen Schicksale aus ihnen. Zusätzlichen Deutungsangebote seien aber "an diesem Abend nicht zu haben" gewesen, auch eine "Verlängerung in die Gegenwart" finde nicht statt.

 

Kommentare  
Verdingbub, Bern: Bümpliz und die Welt
"Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" stellte zur Uraufführung unter anderem fest: "Im übrigen aber bleiben die Figuren einförmig und klischiert (mit Ausnahme des alten Bösiger, der ganz am Schluss noch stumm in die Handlung eingreift - sehr überzeugend: Andreas Matti). Nach der Pause aber dämmert einem: Der Mangel an Farben, der Mangel an Veränderung ist nicht der Inszenierung anzulasten, sondern dem Leben, das sie abbildet und aus dem sie uns mit starrem Griff nie entlässt. Und so beginnen wir uns, wie die Verdingkinder, mit dem Gegebenen abzufinden. Die Personen wachsen uns paradoxerweise ans Herz, auch die bösen. Sie können nicht anders sein, als sie eben sind. Das Bühnenbild, das ständig mit Manneskraft gedreht werden muss und die Menschen doch nicht weiterbringt, führt damit vor, was es heisst, "im Kreis herum das Leben jagen" zu müssen, wie Kleist diese Form der Existenz bezeichnete."
Die ganze Kritik findet sich unter https://www.stimme-der-kritik.org/745.html
Der Verdingbub, Bern:
Ich finde es wichtig, die Grundlagen einer Geschichte - dem Verdingbub - aufzuzeigen. Es reicht nicht, mit einem Theaterstück zu sagen, dass genau diese drei Bauern, die darin vorkommen, halt eben böse Menschen gewesen sind. Eigentlich könnten wir nämlich alle Bauern sein und uns auch so schrecklich verhalten, wie die Bauern von damals.

Wir müssen alle aufpassen, dass wir nicht hart werden in unseren Herzen, dass wir offen bleiben und versuchen, andere Menschen zu mögen. Wir können etwas dafür tun, auch wenn es nicht für alle gleich einfach ist.

Eine schöne aber ernste Geschichte von Max und seinem Schwyzerörgeli und seinem Leben mit einem saufenden Ziehvater, einer heuchlerischen Ziehmutter und deren brutalem Sohn.

LG Yvonne von (...)
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Anm. d. Redaktion: Liebe Yvonne, Teile Ihres Kommentars entsprechen nicht unserem Kommentarkodex (nachzulesen hier: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102), daher haben wir ihn gekürzt veröffentlicht.
Herzliche Grüße aus der Redaktion
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