Nur kein Getue!

von Kai Bremer

18. Oktober 2017. Die Lektüre von Wolfgang Englers essayistischen Überlegungen über "Authentizität! Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern" macht manchmal richtig Spaß, weil dieses Buch stilistisch viel wagt:

Prägnanz ("Nichts entgeht der Logik der Distinktion.", S. 176), intelligente Metaphern und aggressive Bonmots ("Das Arbeitskleid als Menetekel niederen Seins, ausstaffierter Funktionsfrust, Kleider machen Leute runter." S. 111). Zugleich nimmt Engler für sich ein, da er seine intellektuelle Herkunft aus dem Geist des Materialismus nicht verleugnet: "Urheber dieser Option für das 'Natürliche', 'Naive' war die mittelständische Intelligenz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts." (S. 170) Akademische Besserwisser mögen da einwenden, dass 'Intelligenz' fürs 18. Jahrhundert ein unangemessener wie längst erledigter Begriff ist. Aber Engler macht so – wie auch sonst in diesem Buch – unmissverständlich klar, wo er steht.

Warum diese Rollenscham?

Auch die Grundidee des Buches überzeugt. Es fragt, woher das Bedürfnis nach Authentizität in der Gegenwart kommt. Diesen Gedanken veranschaulicht Engler, indem er "Toni" aus dem Flyer einer Hotelkette vorstellt. Der wirbt für seinen Arbeitgeber damit, dass man dort so sein dürfe, wie man sei. Engler versucht, die Entwicklung der aktuellen Authentizitätsbestrebungen und das aus ihr folgende Ineinander von Privatem und Arbeitsleben historisch herzuleiten und zugleich zu zeigen, wie sehr 'Authentizität' vielfach Steigbügelhalterin des globalisierten Kapitalismus ist.

Cover 1210 Authenzititaet Soft KopieDoch nicht nur in der Arbeitswelt, auch auf dem Theater sieht Engler dieses Bedürfnis um sich greifen, was den ehemaligen Rektor der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" zu einer umfassenden Polemik gegen das Postdramatische veranlasst – zumindest dort, wo es nach Authentizität strebt: "Rollenaversion, Rollenscham im Berufsalltag wie auf der Bühne; die Kunst der Angestellten vollendet sich als Angestellten-Kunst: Meine Performance, meine Rolle, die ich weniger spiele als vielmehr bin, nur kein Getue, kein Theater!" (S. 115) Kurz: Wer noch ein paar gesellschaftskritische Sentenzen inklusive Heiner-Müller-Reminiszenzen braucht, um das gute alte Drama samt des konventionellen Rollenspiels zu legitimieren, der wird in dem gut 200 Seiten langen Essay fündig. Und damit ihm keiner vorwerfen kann, er wäre nicht mehr am Puls der Zeit, erklärt Engler gleich, warum Authentizität sich nicht eignet, um substantiell politisch zu agieren: Nur wer das Rollenhafte der Gesellschaft versteht und sich dazu verhält, ist in der Lage zu handeln und damit auch zu verändern.

Wider die Wohlmeinenden

Ob seine Verteidigung des Dramatischen argumentativ überzeugt, sei dahingestellt. Philosophisch wäre sie sicherlich an neuere Überlegungen zum Tragischen rückzubinden. Sie hat – wie viele binäre Lösungen – zumindest den Charme einer klaren Oppositionsbildung und Schwächen, wenn man detailliert hinschaut. Viel wichtiger aber: Engler sieht die Künstler des Authentischen samt der 'Wohlmeinenden' – wie Engler diejenigen nennt, die mit privaten Empfindungen auf den politischen Diskurs reagieren – nicht nur auf dem Holzweg; er polemisiert gegen sie immer wieder auf eine verbitterte Art und Weise, die ratlos zurücklässt.

So stößt er sich an der Willkommenspolitik der Grünen wie der nun abgewählten Bundesregierung, wenn er 'diese Leute' rhetorisch fragt, warum sie die Russlanddeutschen Anfang der 1990er nicht auf gleiche Weise willkommen geheißen haben oder sich nicht gegen die Einführung der Hartz-Gesetze empört hätten. Die Argumente und Beispiele purzeln wild durcheinander: "Was von all dem bleibt, ist eine bittere Einsicht: Die linksliberalen Intellektuellen und Kulturredakteure gehören in großer Zahl und seit Längerem zu jenem offiziellen Meinungskartell, das über die Grenzen legitimer Äußerung unnachsichtig wacht und den 'Gemeinen' das Recht auf ihre ungeschlachte Meinung abspricht." (S. 60)

Wasser auf die Mühlen

Zum Glück verhindert das böse Meinungskartell zumindest noch nicht die Äußerungen der mittelständischen Intelligenz des frühen 21. Jahrhunderts, so dass sich immerhin Wolfgang Engler für die Gemeinen stark machen kann. Dass er dabei bei seinem Meinungskartell-Gerede ohne auch nur ein handfestes Argument auskommt, dass er mit seinen Ausführungen Wasser auf die Mühlen derer gießt, die der fixen Idee anhängen, es gebe längst keine Meinungsfreiheit mehr in Deutschland und in 'den' Medien würden Unwahrheiten verbreitet, all das stört – um mit Karlsson vom Dach zu sprechen – natürlich keinen großen Geist. Engler mag sein Buch angesichts seiner Ausführungen für ein mutiges halten. Aber das ist es nicht. So brillant sein Stil und so klug die ihm zugrunde liegende These auch sind, letztlich wettert Engler mit Gefühligkeit gegen das Authentizitätsbedürfnis.

 

Authentizität! Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern
von Wolfgang Engler
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2017, 218 Seiten, 18 Euro

 

Gegen den "Fluch des Authentischen" wendete sich Wolfgang Engler bereits in einem Gespräch über politisches Theater, das auf der nachtkritik-Festivalseite zum Heidelberger Stückemarkt 2016 veröffentlicht ist.

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