Lenin stirbt langsam

von Esther Slevogt

Berlin, 19. Oktober 2017. Ein Landhaus bei Moskau, fünf Jahre nach der Oktoberrevolution, die sich in diesen Tagen zum hundertsten Mal jährt. Ihr großer Anführer Lenin liegt von Schlaganfällen gezeichnet als sabberndes Wrack im Bett und versucht, seiner Sekretärin etwas zu diktieren. Dabei reckt er mit aufgerissenen Augen den dürren Hals aus den Kissen und stammelt Unzusammenhängendes. Die junge Frau bemüht sich in ergriffener Beflissenheit, ihn zu verstehen.

Quälend langsam dreht sich die Drehbühne mit dem akribischen Nachbau des Leninschen Totenhauses und gibt immer neue Blicke in seine verwinkelt angeordneten Zimmer frei. In einem Raum kocht eine Köchin. An einem Tisch sitzen andere aus dem Stab des Sterbenden: Bedienstete und hohe Funktionäre wie Anatoli Lunatscharski. Echte Kinder, die echtes Russisch sprechen, gibt es auch. Auf dem Balkon blickt ein Soldat der Leibwache melancholisch in die Nacht, der uns an anderer Stelle mit Splatter-Stories genüsslich aus seinem fröhlichen Folteralltag während der Revolution berichtete. Mit zwei Live-Kameras werden immer neue Szenen des simultanen Geschehens vergrößert und erst noch in Farbe später schwarzweiß auf eine Fläche über der Szene projiziert. Anderes erleben wir live. Alvis Hermanis meets Katie Mitchell.

Stanislawski reloaded

Doch spätestens als Lenin sich stammelnd in seinem Bett wie ein verzweifelter Vogel windet und von draußen Trotzki erschüttert zu den dramatischen Klängen eines Streichquartetts durch die Butzenscheiben schaut, stellt sich die Frage: Was ist hier los? Ist das Kitsch oder soll das Ironie sein? Will uns Milo Rau mit den Bauerntricks des Illusionstheaters emotional in Geiselhaft nehmen? Oder ist er am Ende seinen eigenen Theatermitteln auf den Leim gegangen, wie er hier nun mit realistischer, ja stanislawskischer Akribie in der Berliner Schaubühne ein Reenactment von Lenins letzter Lebenszeit versucht: als eines langen Tages Reise in die Nacht der Unsterblichkeit.

Lenin 560a ThomasAurin uEin düsteres Szenario, Bühnenbild: Anton Lukas und Silvie Naunheim © Thomas Aurin

Denn der Mann, den wir hier als Wrack seinem Ende entgegen vegetieren sehen, liegt seit seinem Tod 1923 als mystisch ausgeleuchteter, lebender Leichnam in einem Mausoleum an der Kremlmauer. Ein Zombie der Weltrevolution, die ja auch längst gestorben ist und als Utopie-Zombie doch noch immer durch unsere neoliberale Gegenwart geistert. In Milo Raus Rocky-Horror-History-Show sind wir zuvor auch Stalin begegnet: wie er Lenins Frau Nadescha alias Nina Kunzendorf mit brutaler Zärtlichkeit fast die Augen aus ihren Höhlen drückt, um ihr die Erlaubnis abzupressen, Lenin nach seinem Tod derart für die Ewigkeit zuzurichten.

Neidisch auf den Westen

Aber fangen wir von vorne an. Vor einem Spiegel sitzen Felix Römer, Ursina Lardi und Kay Bartholomäus Schulze links neben der Szene und werden für die Vorstellung geschminkt. Überlebensgroß projiziert eine Live-Kamera ihre Gesichter auf die Leinwand. "Irgendwie beneide ich euch Leute aus dem Westen", sagt Kay Bartholomäus Schulze, "dass Lenin und Trotzki für euch immer noch Ikonen sein können. Da denke ich dann immer: Ja, schön, aber ich hab’s 23 Jahre lang erlebt, den real existierenden Sozialismus."

Schulze und Römer tragen schon ihre Kostüme, später werden sie Trotzki (Römer) und Lenins Leibarzt (Schulze) sein. Dann wechseln sie das Bühnenbild, gehen ins Haus und tun so, als begänne das Stück erst jetzt. Ursina Lardi soll Lenin verkörpern, aber sie sieht immer noch aus, wie Ursina Lardi und wirkt in ihrer Heutigkeit wie ein Fremdkörper im historischen Mimikry um sie herum. Lenin bleibt die Leerstelle, weil man eben immer Ursina Lardi und nicht Lenin sieht. Am Garderobenspiegel wird von der Maskenbildnerin inzwischen der Schauspieler Damir Avidic in Stalin verwandelt, der, wie wir wissen, die Leerstelle Lenin in seinem Sinne füllte. Das ist erst mal ein interessantes Mittel.

Lenin 560 ThomasAurin uEin letztes Abendmahl: Nina Kunzendorf, Veronika Bachfischer, Ursina Lardi, Felix Römer, Lukas
Turtur © Thomas Aurin

Doch nun müsste sich die Sache entwickeln. Und das tut sie auch. Aber in eine unklare Richtung: auch Lardi wird nun dem historischen Lenin zum Verwechseln ähnlich geschminkt. Immer tiefer schraubt sich die Inszenierung in ihr morbides wie triefendes Szenario, in Lenins letzte Wallungen hinein. In einen letzten Revolutionsaufruf zum Beispiel, der von einem finalen Schlaganfall abgebrochen wird: "Die Revolution muss ...", stammelt er und endet kotzend über einer Kloschüssel. Ja.

Einen Tod musst du sterben

Zu dem zweistündigen Abend gibt es Musik von Bach, dem estnischen Komponisten Arvo Pärt und am Ende Leonard Cohen. Und hier beginnt vielleicht noch einmal eine andere Geschichte. Denn die Musik funktioniert auch als Kommentarspur, die dem Abend unterlegt ist. Es sind alles religiös inspirierte Musiken: Bachs protestantischer Rationalismus (dessen Musik Lenin liebte, die er aber nur in wohltemperierten Dosen hören wollte, um nicht zu menschlich zu werden), Pärts katholische Spiritualität, die auf die atonalen Disruptionen der Moderne trifft. Und am Ende Leonard Cohens berühmtes Lied "Who by Fire", das verschiedene Todesarten durchdekliniert.

Währenddessen läuft auf der Leinwand schon fast der Abspann und man erfährt, welche Todesarten die fiktiven und realen Figuren des Stücks während der Sowjetischen Ära erlitten, ob sie eines natürlichen Todes starben oder Opfer des stalinistischen Terrors wurden. "Who by Fire" ist Cohens Variation eines der wichtigsten jüdischen Gebete während der Tage zwischen dem Jüdischen Neujahr und Jom Kipur. In diesen zehn Tagen wird, dem jüdischen Glauben zufolge an höherer Stelle festgelegt, ob und wie man im kommenden Jahr leben oder sterben wird. Diese Entscheidung haben die Bolschewisten einst an sich gerissen und ihr utopisches Projekt damit ruiniert. Ist es das, was uns der Abend sagen will?

 

Lenin
von Milo Rau & Ensemble
Regie: Milo Rau, Bühne und Kostüme: Anton Lukas und Silvie Naunheim, Video: Kevin Garber, Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann, Recherche: Gleb J. Albert, Licht: Erich Schneider, Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz van Dungern / Omri Alon, Matthias Schoebe.
Mit: Ursina Lardi, Nina Kunzendorf, Felix Römer, Damir Avidic, Ulrich Hoppe, Kay Bartholomäus Schulze, Lukas Turtur, Iris Becher, Konrad Singer, Veronika Bachfischer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

"Artistisch auf höchstem Niveau, aber tatsächlich nichts erzählend", urteilt Peter Claus auf Deutschlandfunk Kultur (19.10.2017). Zuzusehen, wie Ursina Lardi zum Mann, zum gebrechlichen und schließlich zum sterbenden Mann verwandelt werde, sei "großes Kino",  aber erzählt werde dadurch nichts. So bleibe "nicht als l'art pour l'art schlimmster Art". Claus sei froh gewesen, "dass Lenin endlich tot war und diese Langeweile auf der Bühne zu Ende".

"An Zähigkeit lässt dieser Abend nichts zu wünschen übrig", findet auch Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (20.10.2017). In der Schaubühne werde der Wendepunkt der russischen Revolution mit Lenins Tod und Stalins Aufstieg in einem "zugleich konstruierten, ikonographischen und hypernaturalistischen Reenactment herausgezögert, als gelte es, in einem hypnotischen Exerzitium irgendwelche längst vergessenen Ideale auszutreiben oder ihren Verlust zu sühnen". Seidler fragt sich: "Womit hat das wohlanständige bürgerliche von der Geschichte weitgehend verschonte Theaterpublikum solche Strafmaßnahmen verdient?"

"Rau präsentiert nette, wohlerzogene Massenmörder – denn das waren die Stalins und Lenins im richtigen Leben", so Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (20.10.2017). Und er warnt: "Vorsicht, Kitsch! Ein Sowjetfilm hätte diesen Personenkult nicht besser hinbekommen."

An den kalkulierten Bruchstellen zwischen 1917 und 2017, zwischen Schauspieler und Rolle, zwischen dem historischen Personal und den Stereotypen, zu denen es im öffentlichen Bewusstsein über die Jahrzehnte geronnen ist, habe Milo Rau offenkundig Denkräume über Geschichtsverläufe und revolutionäre Umbrüche öffnen wollen, mutmaßt Christine Wahl auf Spiegel Online (20.102017): "eine plausible Idee. Nur gewinnt der Kitschfilm de facto eine derartige Übermacht, dass man das irritierende Gefühl nicht los wird, Regisseur und/oder Ensemble erlägen ihm im Lauf des Abends gelegentlich selbst."

Mark Siemons schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.10.2017): Alles, was Milo Rau an der Berliner Schaubühne anstelle, "um Lenin oder auch nur etwas von ihm wieder zum Leben zu erwecken", helfe nichts. Der Schminktisch und andere "übliche Brechungsstrategien" wie der Videoeinsatz signalisierten, dass "hier Zeichen, Mythen, Ideen miteinander spielen sollen", nicht "nachrekonstruierte Menschen". Doch unversehens verwandelten sich etwa die "weit überlebensgroßen Nahaufnahmen" zu etwas "platt Naturalistisch-Theatralischem". Das "Kammerspiel der Ideen und Ideologien" gerate zu "bloßem Schauspielertheater", das "seinen Stoff zu einem abgeschlossenen tragischen Kapitel der Geschichte macht".

Eberhard Spreng schreibt auf der Website des Deutschlandfunks 20.10.2017: Das Geschehen sei sehr stark filmisch dargestellt, "wieder einmal ein Making-Of", diesmal "sehr nah an der Ästhetik einer Katie Mitchell". Als wolle Rau dem "selbstgeschaffenen, bittersüßen Schmelz seiner Untergangselegie entkommen", lasse er Ursina Lardi den Lenin "verkörpern" und somit "einen mutwilligen Verfremdungseffekt exekutieren". Das funktioniere aber kaum, obwohl Lardi große "spielerische Momente" und "ergreifende Zeugnisse des Verfalls" zeige. Momente, in denen Lenins Argumentation "bis ins Heute hineinstrahlt", seien viel zu selten. Das Politische wolle sich "nicht so recht aus dem Privaten lösen", der "private Körper nicht zum Schauplatz der Weltgeschichte" werden.

"So schwergewichtig das inhaltlich ist – die Ästhetik des Abends irritiert doch sehr", schreibt Barbara Behrendt in der taz (23.10.2017). Für heutige Zuschauergewohnheiten sei es eine Herausforderung, das naturalistische Spiel durchweg ernst zu nehmen. Die plausiblen Brechungen per Leinwand und Schminktisch bewirken immer wieder eine unfreiwillige Komik. Milo Rau versuche zumindest, Historie bühnentauglich zu veranschaulichen, "er lässt sich auf die großen Fragen der Weltgeschichte ein. Das jedenfalls kann man heute nicht von vielen Theatermachern sagen".

"Leider ist die Grundannahme des Abends, mit Lenin sei so etwas wie das utopische Potenzial der Revolution gestorben, eher der Kitschdramaturgie als historischen Fakten geschuldet", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.10.2017). Rau zeige Lenin als Hegel-Leser und bescheidenen Diener der Weltrevolution, als einen Massenmörder mit Heiligenschein. "Dass ausgerechnet ein so kluger, manisch recherchierender Dokumentar-Regisseur wie der Schweizer Milo Rau die simple Schwarzweiß-Zeichnung des edlen Revolutionärs" bediene, sei eine der Peinlichkeiten der Inszenierung. "Man weiß man nicht, ob es sich bei der plakativen Effektorientierung um blanke Ironie oder um den Versuch handelt, auch einmal im Gefühl zu baden."

 

Kommentare  
Lenin, Berlin: albtraumhaftes Haus
Mit Kostümen im Stil der vorigen Jahrhundertwende und mit Auszügen aus Originaldokumenten fühlen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler bei diesem Renactment in die Figuren auf der Datscha des dahinsiechenden Anführers der bolschewistischen Oktoberrevolution ein.

Rau ging es darum, die Datscha als „albtraumhaftes Haus“ zu inszenieren, in der ein „quasi-gelähmter“ Körper im Halbdunkel versinkt, während sich ein „Monster“ seines Lebenswerks bemächtigt. Den zweiten Teil spielt Damir Avdic, ein noch recht neues Gesicht im Schaubühnen-Ensemble, exzellent. Im Frühjahr wurde er als „Toter Hund in der chemischen Reinigung“ in einer unausgegorenen Farce von Angélica Liddell verheizt, diesmal überzeugt er als zynisch grinsender, Kinder gütig streichelnder, eiskalt berechnender Strippenzieher Stalin.

Der erste Teil funktioniert nur mit Einschränkungen: wie schon in ihrer letzten Zusammenarbeit mit Milo Rau („Mitleid. Geschichte eines Maschinengewehrs„) überzieht Ursina Lardi wieder maßlos. Entstellt kauert sie im Schlussbild neben Nina Kunzendorf. Der Speichel rinnt ihr über die Wange. Seufzend beklagen beide das Schicksal ihrer Kinderlosigkeit. Die Szene droht in der Karikatur zu versinken. Zum Glück versteht es Milo Rau, die Balance zu wahren. Er spielt das wunderschöne „Who by fire“ von Leonard Cohen, das den Abend in einer Tschechowschen Melancholie ausklingen lässt, die für manche Langatmigkeit entschädigt.

„Lenin“ ist ein ambititonierter Abend, der zwischendurch ein paar Mal zu oft neuen Schwung holen muss, wenn die gemächlich vor sich hin rotierende Drehbühne zum Stillstand zu kommen droht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/19/lenin-ursina-lardi-daemmert-in-milo-raus-reenactment-dem-ende-entgegen/
Lenin, Berlin: eine Ikone
Milo Rau ist, keine Frage, auch Aktivist, er ist aber, und das wird gern vergessen, in erster Linie Theatermacher, einer, der das Bühnenhandwerk in Perfektion versteht. Das belegt dieser Abend eindrucksvoll. Rau schichtet die theatralen Ebenen, das Erzählte und das Erzählen, die repräsentation und ihre Mechanik, das Zeigen und die Reflexion, meisterhaft über- und ineinander. Strukturell, konzeptionell, narrativ ist der Abend ein Meisterwerk. Und funktioniert doch zu keiner Sekunde als Theater, als jene seltsame Kunst, die von der körperlichen Gegenwart und der Entstehung und dem Verschwinden des Kunstwerks im jeweiligen Moment lebt. Dieser Abend lässt den Zuschauer ungeheuer kalt. In seiner elaborierten Konstruktion, seiner überaus cleveren Schichtung der Ebenen, der Auftürmung von einer Metaebene über der nächsten, schafft er eine Distanz, die für das Publikum irgendwann nicht mehr überbrückbar ist. Der Abend wird zum hermetischen Kunstwerk, zum atemberaubenden Museumsstück, der nicht zu dem spricht, der ihn betrachtet. Dieser Lenin hat uns nichts zu sagen, er scheint das auch gar nicht zu wollen. Er will bewundert werden, ein perfektes, stimmungsvolles Bild. eine Ikone. Eigentlich eine schöne Ironie.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/20/ein-untergang/
Lenin, Berlin: beeindruckend
Man sieht am Anfang dieses abends eine Bühne die sich dreht mit sehr fein eingerichteten räumen, kostüme die nicht auffallen wollen und Kameramänner die nicht gesehen werden wollen. Man sieht also diesesn rießen Apparat und da drin stehen Schauspieler und die machen dießen Abend unvergesslich und allen vorran Ursina Lardi als Lenin und Damir Avdic als Stalin!Das ist sehr beeindrucken!
Lenin, Berlin: von erlesener Langeweile
Los ging‘s um 20 Uhr, nach drei Stunden 21 Uhr. Handwerklich ausgezeichnet, organisatorisch und logistisch bemerkenswert, künstlerisch dürftig, emotional uninteressant und insgesamt von erlesener Langeweile.
Lenin, Berlin: Mausoleum
Tatsächlich ähnelt dies dem Besuch des Lenin-Mausoleums in Moskau: Draußen stehen alle Schlange, weil es was ganz Besonderes sein soll - und innen liegt etwas Eingewachstes, dass uns die Vergangenheit und ihren Schrecken verklärt. Eingewachst ist Lardis Spielweise und Raus Gebrauch davon. Da hilft auch leider der vermeintliche Kunstgriff der Besetzung einer "blonden Frau" nichts weiter, wie Rau nicht müde wurde zu betonen. Und die Musik ist ja nicht nur kulturelle Referenz, wie sie die Kritikerin beschreibt, sondern gilt in erster Linie als emotionale Handlungs-/Fühlanweisung dem Publikum. Und das denkt nur: "Konzept-Schmonzette".
Lenin, Berlin: kein Regisseur
Erst wenn der letzte Preis verliehen, die letzte Intendanz vergeben, vielleicht noch ein vierter Dramaturg mitwirkt, werdet Ihr merken, dass man aus Dokumentarfuzzis keine Theaterregisseure machen kann.
Lenin, Berlin: beschämt
Lieber Immerwiedergeher, es ist Ihnen gerade gelungen, meine gesamte Rezension in 3 Zeilen zusammenzufassen, ohne Wesentliches auszulassen. Ich stehe beschämt vor Ihnen.
Lenin, Berlin: Spannungen
Überblickt man die Kritiken und Kommentare, so fällt auf, dass bei aller Kritik an Konzept und Inhalt die Regieführung und die Leistung der Schauspieler/innen (als Einzelne, aber auch als engagiertes Kollektiv) fast durchwegs gute Noten erhält. Dies deckt sich auch mit dem anhaltenden Applaus an den zwei ersten Abenden und der konzentrierten Aufmerksamkeit im Zuschauerraum, wie sie immer wieder bei Raus Stücken zu beobachten ist. (Eigentlich seltsam, diese Diskrepanz zu dem bei fast allen von Raus Stücken geäusserten Vorwurf der Langeweile.) Tatsächlich kann/muss man hier, ganz anders als etwa bei Hate Radio, über die gezeigten und ausgesparten, über die verkürzten und zugespitzten Inhalte streiten. Aber wenn und wo man es wirklich tut, wird man auch wieder auf die feingewobene formale Ebene zurückverwiesen. Dass niemand die "Entwicklung" der postmodern, chaotisch, dynamischen Anfangstakte bis hin zur Erstarrung der Szenen in Stills des sozialitischen Realismus und den schwarzweiss Bildern des russischen Films mit den russisch sprechenden Schablonen usw. nur bemerkt zu haben scheint oder sie irgendwie sinnvoll in eine inhaltliche Auseinandersetzung eingefügt hat, hat wohl gerade damit zu tun, dass man auch viele der verhandelten Stoffe kaum "bemerkt" hat. Die stoffliche Seite reizt die Extreme aus und wer sie wahrnimmt, sieht Rau entweder "vor Lenin auf den Knien" liegen oder "zwei Stunden reaktionäre Geschichtsfälschung". Natürlich ist beides irgendwie richtig, denn das ist ja das Grossartige am dialektischen Realismus, dass er keine eindeutigen Botschaften hat, aber versucht Spannungen offen zu legen, Wahrheiten durch ihren Gegensatz zur Erscheinung zu zwingen, Verdrängtes als Faszinosum zu enthüllen usw. und wenn das alles mit so grosser künstlerischer Sorgfalt geschieht, so dass sich das Publikum mitten im Widerstreit auch noch unterhalten kann ohne je dabei zynisch werden zu müssen, dann ist das zumindest gutes Theater.
Lenin, Berlin: Stimmen
bei lenin auf der bühne melden sich auch theaterferne politische aktivisten zu wort, zu deren sichtweise sich ja milo rau interessanterweise äußern KÖNNTE:

"Lenin als debiler Gewaltverherrlicher, Trotzki als pädophiler Kaffeehaus-Revoluzzer umgeben von Sadisten und verkrachten Existenzen in einer morbiden Endzeit-Atmosphäre, die an Samuel Beckett erinnert – das ist, auf den Punkt gebracht, der Inhalt des Stücks „Lenin“, das am 19. Oktober in der Berliner Schaubühne seine Weltpremiere erlebte.

Der Autor und Regisseur Milo Rau hat alles, was er an historischen Fälschungen, anti-bolschewistischer Propaganda und Hass auf die Revolution finden konnte, gesammelt, zusammengerührt, verfaulen lassen und dann destilliert, um es als Theaterstück auf die Bühne zu bringen.

Als Lunatscharski (Ulrich Hoppe) einen Artikel Trotzkis über Wedekind lobt, schwärmt Trotzki von einem Besuch im Wiener Burgtheater, wo er der Premiere von „Frühlings Erwachen“ beiwohnte. Er schildert unter wachsender Erregung, wie dort ein junger Mann, der noch aussah wie ein Kind, ins Publikum onanierte: „Er wichste und wichste und onanierte und onanierte! Die Leute haben geguckt und geschaut, er war völlig mit Pickeln übersät und plötzlich AH AH AH AH AH AH AH AH – da wichste er direkt in die erste Reihe. Das ganze Premierenpublikum war völlig nassgespritzt, es war wirklich wahnsinnig.

Wir muten dem Leser hier nur einen kleinen Ausschnitt aus der unerträglich langen Szene zu, deren Obszönität völlig im Gegensatz zu allem steht, was Trotzki, den selbst Bertolt Brecht als „größten lebenden Schriftsteller“ bezeichnete, jemals geschrieben, geäußert oder getan hat. In Wirklichkeit beschreibt Trotzki-Darsteller Römer hier seinen eigenen Auftritt in Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in den 1980er Jahren."

http://www.wsws.org/de/articles/2017/10/21/leni-s21.html

verwirrend komisch klingt dazu die kritik von schaper im ts:

"Vorsicht, Kitsch! Ein Sowjetfilm hätte diesen Personenkult nicht besser hinbekommen."

und andere nehmen NICHTS wahr:

"Artistisch auf höchstem Niveau, aber tatsächlich nichts erzählend", urteilt Peter Claus


ps. ich nehme dies - nur aus den medien - als allgemeine verwirrung wahr und fühle mich durch diese bestens unterhalten und zum nahdenken angeregt. dagegen KÖNNTE ja eine interakte Zivilgesellschaft ankämpfen, doch die scheint auch bei nachtkritik nicht erwünscht zu sein - auch das ist interessant, wenn auch langweilig ...
Lenin, Berlin: tolle Schauspieler mit Köpfchen
Kritiken sind wirklich Geschmacksfrage!
Ich durfte es sehen und fand es hervorragend. Verstehe nicht was diese Menschen/"Kritiker" da oben schreiben.

Tolle Umsetzung.
Liebevolles Bühnenbild
und tolle Schauspieler mit Köpfchen. Danke !
General Assembly, Berlin: Schaufensterreden
Zur "General Assembly", die nach "Lenin" als Mittelteil von Milo Raus Trilogie gedacht ist:

Das Wochenende „oszillierte zwischen Größenwahn und staatsbürgerlicher Selbstermächtigung“, fasste Wolfgang Kaleck, Menschenrechtsaktivist, Rechtsanwalt und Gründer des ECCHR, die dreitägigen Debatten der „General Assembly“ in der Berliner Schaubühne zusammen.

In der Schlussdiskussion am Sonntag gab es noch einige kluge Formulierungen. Allerdings waren viele der Beiträge auch reichlich redundant und bloße Schaufensterreden. Diese letzte Session schaffte das zweifelhafte Kunststück, dass sie genauso leblos blieb wie eine durchschnittliche Plenardebatte des Bundestags zu GroKo-Zeiten. Deutliche Kritik an Milo Raus Konzept übte vor allem der Bischof von Pretoria, der bemängelte, dass auch hier die Armut und die Folgen des Kolonialismus als Ursachen von Ungleichheit und Konflikten zu wenig in den Blick genommen wurden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/11/05/general-assembly-tagte-an-der-schaubuehne/
Lenin, Berlin: wichtig
Wir sehen „Lenin“, ein Stück von Milo Rau mit der unglaublichen Ursina Lardi.
Es war ein sehr schöner Abend, ein Abend der Verwandlung Lenins, getragen von Ursina Lardi, von einer Frau zu einem Mann, zu einem sterbenden Mann. Unglaublich stark gespielt. Hat Lenin heute noch solch eine Wirkung? 100 Jahre nach der Oktoberrevolution kann man sich im Theater diese Frage stellen und das Publikum mit diesen Thesen konfrontieren. Einerseits sind sie aktuell, andererseits verstaubt, und sie treffen nur noch die Zeit der Nostalgiker. Das Grundprinzip ist nachvollziehbar, und es ist relevant, es geht nicht mehr so weiter. Die Welt verliert sich in der Ausbeutung des Menschen und in der Ausbeutung der Ressourcen, gerade letzteres ist ein ganz neuer Aspekt, der vor 100 Jahren keine Rolle spielte und darum auch zum Scheitern des kommunistischen Ideals führte. Man dachte man könne alle Ressourcen radikal plündern, um den Wohlstand aller zu fördern. Dazu kam dann noch der Irrtum, man sei gerecht und müsse alles, was gegen diese Gerechtigkeit protestiert ausrotten. Das begann bei Lenin und setzte sich bei Stalin in grausamer Realität durch.
An diesem Abend geht es aber nur um Lenin, um seine Klugheit, seine präzise Weltsicht, seine klare Analyse und seinem Untergang durch die Schlaganfälle.
In diesem Stück kam zum Ausdruck, Lenin hasst Kinder. Er selbst hatte keine Kinder und fragt am Ende die Krupskaja auch, warum sie keine Kinder haben.
Dennoch stellt sich mir am Ende die Fragen, warum dieses Stück und was ist das große Anliegen? Zu viel verzettelt sich, die klare Linie bleibt offen, obwohl schon ausgesprochen wird, was Milo Rau bezweckt. Es ist eine offene Kritik an unserer Gesellschaft, auf die es einmal eine Antwort gab, die aber scheiterte. Und die Frage nach dem Scheitern dieser Utopie ist es doch, die auch mich umtreibt. Ich lebe in dieser kapitalistischen Demokratie und habe mich hier eingerichtet. Mir geht es gut. Ich bin Teil des Ganzen. Dennoch bleibt die Frage nach Alternativen, denn das ist vielleicht ein real gesehen gutes System des Zusammenleben von Menschen in einem regionalen Raum, doch global gesehen ist es eine Katastrophe, ist es ein Kampf um die Ressourcen und der wirtschaftlichen Teilhabe, an der nicht einmal mehr alle des regionalen Raumes eine Chance bekommen, geschweige denn die globalen Probleme gelöst werden, ohne die letzten Ressourcen weiter ungerecht auszubeuten, inklusive der Menschen in den Randgebieten. So scheitert diese Welt dann doch endgültig. Neben Rückkehr nach Reims von Eribon, ein weiteres wichtiges Stück an der Schaubühne.
Lenin, Berlin: Authentizitätskitsch
Was für eine öde Veranstaltung! Dieser Abend bleibt inhaltlich, aber vor allem auch ästhetisch hinter jeder Arte-Dokumentation zum Thema zurück. Das Reflexions-Niveau des Pseudo-Authentischen Theaters erreicht hier einen überraschenden Nullpunkt. Für Milo Rau, dessen "Geschichte des Maschinengewehrs" mir eine Menge starker inhaltlicher Diskussionen ermöglichte, ist diese schlappe Nummer ein echtes Debakel. Selbstverliebte Low-Key-Ausleuchtung, riesige Pausen zwischen jeder dann sich als entweder oberflächlich oder langweilig herausstellenden Idee, Authentitästs-Kitsch der unerträglichsten Sorte ohne jede inhaltliche Schärfe - das ist auch für die betreuenden Dramaturgen ein Offenbarungseid zum Thema künstlerisch eitler politischer Indifferenz. Ein der Schaubühne unwürdiger Abend.
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