Das dumme, dumme Volk

von Falk Schreiber

Hamburg, 22. Oktober 2017. Was bisher geschah: Agamemnon zieht in den Krieg gegen Troja. Klappt aber nicht so richtig, seine Flotte liegt bei Flaute im Hafen, also bittet er die Götter um Hilfe, und die verlangen ein Opfer. Kriegen sie, der Feldherr opfert seine Tochter Iphigenie (oder glaubt zumindest, sie zu opfern), der Wind weht, das Heer setzt über, Troja wird geschlagen, Agamemnon kehrt siegreich heim. Wo allerdings Iphigenies Mutter Klytaimestra alles andere als erfreut über das Geschehen ist …

Museale Mauerschau

Hier setzt Aischylos' Dramentrilogie "Die Orestie" ein, und damit das Publikum auf Stand kommt, referiert ein Bürgerchor die Vorgeschichte. In Ersan Mondtags Inszenierung am Hamburger Thalia passiert das vor der Kulisse einer Glyptothek: Antike Plastiken blicken auf die Darsteller hinab, die auf einer kleinen Drehbühne selbst statuenhaft in Posen erstarrt sind und sich nur bewegen, wenn sie Text haben. Was dem Einstieg einen statischen Charakter verleiht, während der hohe Ton von Walter Jens' Aischylos-Übersetzung ebenfalls dafür sorgt, dass man ziemlich schnell den Eindruck einer ungewohnt musealen Inszenierung gewinnt.

die orestie 560 armin smailovic06Ratten-Nasen und rosa Latexhandschuhe vor antikischem Grund – bei Ersan Mondtag alles Teile einer überbordenden, disparaten, klugen Ästhetik © Armin Smailovic

Antike als Mauerschau also, mit eigenartig untergründigem Pathos. Was eine so starke ästhetische Setzung ist, dass die leichten Irritationen beinahe untergehen: die überraschende Derbheit etwa, mit der die Figuren ausstaffiert sind. Der eine trägt einen Schriftzug "Geil" auf dem Shirt, die nächste schleppt eine Plastiktüte "Club Azur" mit sich rum, und einmal skandiert der Chor pegidahaft "Wir bleiben hier!", als ob jemand "Wir sind das Volk!" angestimmt hätte. Die Kulissenhaftigkeit des antikisierenden Bühnenbildes ist eigentlich unübersehbar. Und schließlich stehen keine Menschen auf dieser Bühne, da stehen: Ratten. Mit spitzer Nase, langen Schnurrhaaren, fleischigem Schwanz und roten Augen (Kostüme: Josa Marx). Doch, man könnte durchaus ahnen, dass diese Inszenierung mehr will, als die Exposition andeutet.

Athene mit Merkel-Raute

Nach rund einer Stunde jedenfalls fällt die Kulisse in sich zusammen und verlagert das Geschehen zunächst ins Rampenrund eines Parkhauses, später in den ausgesucht trostlosen Innenhof einer Plattenbausiedlung (Bühne: Paula Wellmann). Das Volk unter Anleitung des rhetorisch geschickten Chaos (Thomas Niehaus) drängt Klytaimestra (mit brüchiger Erotik: Marie Löcker) das Unrecht wiedergutzumachen, indem sie Agamemnon (André Szymanski als wandelnde Leiche) ermordet. Agamemnons Sohn Orest (Sebastian Zimmler) will darauf ebenfalls Rache, mordet Klytaimestra und ihren Liebhaber Aigisth (als Witzfigur längst von Chaos zum Abschuss freigegeben: Paul Schröder) und verfällt daraufhin dem Wahnsinn, was hier heißt, dass erst die Bühne hinter Zimmler abgebaut wird und sich dann der Vorhang senkt. Der Horror: Eine Figur will ein Geständnis ablegen und sich in eine Beziehung zur Geschichte setzen, aber eine höhere Macht nimmt sie einfach aus der Geschichte raus. Das ist schon ziemlich raffiniert gelöst von Mondtag.

Am Ende wird Orest von einem demokratisch legitimierten Gericht für unschuldig erklärt, und wenn man will, kann man die "Orestie" hier als Gesellschaftsutopie lesen: Zunächst treffen Götter Entscheidungen, dann folgen individuelle Willkürurteile, bis schließlich die Macht bei der Bevölkerung liegt. Bloß dass Mondtag dieses positive Geschichtsbild nicht teilt. Zwar wird das Volk zum Schluss tatsächlich nach seiner Meinung gefragt, nur interessiert die Antwort nicht, sondern wird von der neuen Machthaberin Athene (die Cathérine Seifert ein wenig zu eindeutig als Merkel-Karikatur spielt, inklusive Rauten-Pose und SMS-Sucht) freundlich wegmoderiert. Was nach "Im Namen des Volkes" aussieht, ist hier erstens das individuelle Urteil der Athene und zieht zweitens weiteres Ungemach nach sich – in der letzten Szene jedenfalls hebt lautstarker Streit an, der aller Wahrscheinlichkeit nach zu weiterem Blutvergießen führen wird.

Der Mensch als Ratte

Die schmerzhaft harmonische Musik Max Andrzejewskis (deren massiver Einsatz diese "Orestie" manchmal vom Schauspiel in Richtung Musiktheater verschiebt), die Bilder von Robert-Wilson-hafter Schönheit, die sparsam, aber wirkungsvoll dosierten Einbrüche von Humor ins Schlachtfest, der etwa die Mordszenen mit übertriebenem Grusel kontrastiert, als wär's ein Film von Edgar Wallace, sprich: die ästhetische Sicherheit des Abends übertüncht freilich die Tatsache, dass diese Sicht weit weniger originell ist, als es den Eindruck macht.

Die Menschen sind stumpf und manipulierbar, Ratten eben, die hirnlos über die Szene huschen und sich mit dem Hackebeilchen die Schädel spalten, wenn man sie nicht zurückhält. Politik besteht in dieser Weltsicht vor allem darin, das dumme, dumme Volk einzulullen, bevor es auf blöde Ideen kommt, während die wirklich wichtigen Entscheidungen anderswo getroffen werden. Darf man ja so sehen, nur: Da mag der Abend in seiner überbordenden, disparaten, klugen Ästhetik als Theater noch so durchdacht sein, einen Preis für eine besonders scharfe Analyse gewinnt man mit solch einem "Alle doof!" nicht.

 

Die Orestie
von Aischylos, Deutsch von Walter Jens
Regie: Ersan Mondtag, Bühne: Paula Wellmann, Kostüme: Josa Marx, Musik: Max Andrzejewski, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: André Szymanski, Marie Löcker, Paul Schröder, Björn Meyer, Sebastian Zimmler, Thomas Niehaus, Cathérine Seifert, Oda Thormeyer.
Bürgerchor: Marie Löcker, Björn Meyer, Thomas Niehaus, Paul Schröder, Cathérine Seifert/Oda Thormeyer, André Szymanski, Sebastian Zimmler , Gesangschor: Charlotte Becher, Lars Böttcher, Andreas Bracht, Johanna Maria Braun, Marianne Bruhn, Franziska Buchner (Solistin Sopran 2), Martin Conrad, Meral Dere, Minou Djalili, Ines Eberlein (Solistin Alt 1), Marta Frankenberg Garcia, Clemens Heise, Pauline Jacob (Solistin Alt 2), Annika Janßen, Ev Joost, Regine Jungemann, Marja Kaiser, Norbert Kijak, Günter Kochan, Kasimir Krzesinski, Jens Kühlbrey, Dustin Leitol, Harald Lieber, Charlotte Lindig, Michael Pehle, Gratian Permien, Ann-Kathrin Quednau, Inga Renz, Helena Rowinski, Marvin Sawatzki, Judith Schwendiger, Michaela Tröster, Målin Uschkureit, Jürgen Weiler, Qiong Wu (Solistin Sopran 1), Chorleitung/Gesangseinstudierung: Uschi Krosch , Musikaufnahme: Richard Koch (Trompete), Matthias Müller (Posaune), Henrik Munkeby Nørstebø (Posaune), Gerhard Gschlößl (Posaune) , Geräuschdesign: Florian Mönks.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

Mondtags Bilder sähen zugegeben verdammt gut aus, "strotzen vor ästhetisch klug arrangierten popkulturellen Verweisen, von Zombie-Horror und Science Fiction bis hin zu den Universen des David Lynch, verdecken aber hier nur, dass der Regisseur sich nicht wirklich ernsthaft mit der Vorlage ­befasst hat", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (23.10.2017). Ein großer Wurf sei dem Regisseur nicht gelungen. "Je weiter der sich auf dreieinhalb Stunden erstreckende Abend ausdehnt, desto mehr flüchtet sich Mondtag in Albernheiten und Klamauk."

"Die Orestie endet mit der Gründung der ersten Demokratie – eigentlich ein euphorischer positiver Schluss. Aber Mondtag zweifelt genau das in seiner Inszenierung an", so Anja Martini vom NDR (22.10.2017). Er zeige, dass die Spirale der Gewalt aus Schuld, Rache und Sühne zwar überwunden sei und es jetzt eine Demokratie gebe, "diese aber zerbrechlich ist und jeden Moment stürzen kann". Der Theaterabend wolle provozieren und polarisieren will. Er mache nachdenklich und wirke verstörend.

"In Mondtags Orestie herrscht die strenge Form: kein individuelles Spiel, keine Marotten der einzelnen Figuren. Der Text, in der Übertragung von Walter Jens, steht im Mittelpunkt", schreibt Xaver von Cranach auf Spiegel Online (22.10.2017). "Die Figuren sind starr, ihre Bewegungen sind choreografiert, ihre Mimik zwanghaft. Sie tun, was sie tun müssen." Mondtag mache ein trostloses Stück noch trostloser.

Eine "optimistische Sicht auf die Kunst als Befreierin des Geistes" entdeckt Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (25.10.2017) in diesem Abend. Mondtag nehme "die eigene Geschichte seiner Flucht aus dem traditionellen türkischen Familienleben in die Kunstbegeisterung als Matrix für seine 'Orestie'-Interpretation". Er "sucht Fairness für alle Protagonisten, fächert die Standpunkte mit ironischer Distanz auf, um so zu einer schließlich rein irdischen Deutung persönlicher Verantwortung zu gelangen: Götter sind Ausreden für den befreiten Zorn." Wie eine "Bewerbung für die Oper" mute die Inszenierung in "ihrer großen Opulenz und Szenenfantasie" an. Leiser Einwand: "Aischylos’ Happy-End wird zu einem merkwürdig hämischen Moment, der eine symbolische Umkehrung zu viel ist. Ein bisschen mehr Feuer für Kompromiss und Demokratie wäre als Schluss pädagogisch wertvoller gewesen."

"Der Abend im Thalia Theater ist ein Triumph der Regie (Ersan Mondtag) und der Kunst des Bühnenbildes (Paula Wellmann)", schreibt Ulrich Greiner auf Zeit-online (30.10.2017). Aus Sicht des Kritikers "gelingt es der Regie, die Balance zu halten, die Balance zwischen dem Tragischen und dem Komischen, dem Erhabenen und dem Grotesken. Es gelingt leider nicht immer. Nach der Pause droht der Abend in den Klamauk abzurutschen." Auch seien dreieinviertel Stunden eine Spur zu lang. "Und doch ist der Abend grandios. Viele Szenen und Bilder wird man nicht vergessen. Die Leistungen des Ensembles einschließlich der Chorleitung (Uschi Krosch) und der technischen Kräfte ist imponierend."

 

Kommentare  
Die Orestie, Hamburg: wie gehabt
Also alles beim alten bei Ersan Mondtag.
Die Orestie, Hamburg: Laaaangweilig!
Gähn! Echt laaaangweilig!
Die Orestie, Hamburg: Neuenfels
Die Anpassungsfähigkeit und den Überlebensinstinkt der Ratten hatte Neuenfels in seiner Lohengrin-Inszenierung 2010 in Bayreuth thematisiert. Dort bildeten die Ratten das Volks von Brabant. Das Problem ist nicht, dass Mondtag das Bild wiederaufnimmt, sondern dass das Kritik-Gedächtnis wirklich so kurz ist oder einfach nur uniformiert und ignorant.
Orestie, Hamburg: Neuenfels
Ich dachte beim Lesen der Kritik SOFORT an Neuenfels' Ratten und deshalb könnten sie eventuell hier ein isnzenatorisches Problem sein: sie sind z u stark präsent, um nur die Wiederaufnahme eines originellen Bildes eines anderen Regisseurs sein zu können. Und auch zu ungenau, um auf Neuenfels verweisen zu können, weil Lohengrin Oper und Wagner ist und die Orstie Tragödie und Aischylos - das macht das Zitat - wenn es denn ein Zitat sein sollte - etwas beliebig. Und wenn es keines sein sollte, dann zeugt es von einem Mangel an Wissen um Bild-Besetzung durch Vorläufer-Regieleistungen... Wenn man Macht hier wie da und überall zeigen will, Macht als Prinzip, muss man nicht weniger genau sein in Zeit/Ort-Vergleichen von Machtprinzipien, sondern noch genauer als man sonst schon gern ist/wäre...
Orestie, Hamburg: Bild des Politischen
Ersan Mondtag kann Bildertheater. Er ist ein Ästhet und an visueller Inszenierung interessiert. Und da er das kann, kann er auch sich in einem guten Bild inszenieren. Inhalte habe ich weder in der Frankfurter Iphigenie, noch in der Berliner Ödipus und Antigone oder nun in der Orestie gesehen. Die Inszenierungen spielen jeweils mit dem Bild des Politischen, sind aber absolut unpolitisch und lediglich schöne Bilder. Die zu inszenieren oder schön zu finden ist ja nicht verwerflich, man darf es nicht mit politisch relevantem Theater verwechseln.
Die Orestie, Hamburg: wichtige Differenz
@#5 Das habe ich noch niegends so schlüssig argumentiert und schön formuliert gelesen oder gehört. Genau so isses und wichtig ist die Differenz auch. Merci!
Die Orestie, Hamburg: Abrissbirne
Die erste Hälfte bis zur Pause ist ästhetisch beeindruckend und verbindet gekonnt zwei gegensätzliche Welten: In der Mitte kreisen die Schauspieler in ihren Rattenkostümen. An den Rändern postiert sich ein Gesangschor, der mit starken Solistinnen und einer großen Homogenität eine sakrale Stimmung verbreitet und die weihevolle Atmosphäre der Aischylos-Übersetzung von Walter Jens unterstreicht.

Nach der Pause hat die Abrissbirne das Amphitheater niedergewalzt. Im Mittelteil dominiert der Slapstick von Orest und Elektra vor einer Vorstadt-Tristesse-Kulisse.

Im dritten Teil wird die klassische Tragödie zur Farce. Eine Angela Merkel-Karikatur (mit Raute und hängenden Schultern) schiebt den viel zu großen Thron der Göttin Athene ins Zentrum und erteilt den Zeugen und Geschworenen das Wort. Bei Aischylos sorgt ihr Richterspruch für Frieden und Gerechtigkeit, der Fluch über der Familie der Atriden ist gebannt. In Mondtags polemischer Interpretation steht die Merkel/Athene im Mittelpunkt, aber keiner hört ihr zu. Fast so einsam wie bei den Jamaika-Sondierungen kann sie sich gegen das Stimmengewirr nicht mehr durchsetzen. Sie resigniert, kippt um und kreist mit den anderen Figuren auf der Drehbühne, bis sich der Vorhang langsam schließt. Die Welt ist ein Rattenloch, Recht und Gerechtigkeit können wir uns abschminken: so lautet das Fazit von Ersan Mondtags „Orestie“.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/29/orestie-ersan-mondtag-laesst-am-thalia-theater-ratten-und-angela-merkel-auf-einen-griechischen-chor-treffen/
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