Früher war mehr Kartoffelsalat

von Georg Kasch

Berlin, 21. Oktober 2017. Was macht Europa im Kongo? Sie ist das humanistische Feigenblatt einer maßlosen Eroberung. Hübsch immerhin sieht sie aus, hier im Kleinen Haus des Berliner Ensembles, wie ein Revuestar der 1920er mit Sternenkrone und goldglänzendem Faltenwurf. Rührend auch, dass Schauspielerin Stephanie Eidt sich mit ihren ausladenden Strahlen immer nur seitwärts auf die Vorderbühne schieben kann – denn die zwei winzigen Türen auf der schwarzweißen Schachbrettmusterbühne von Daniel Wollenzin sind selbst für Normalsterbliche nur gebückt benutzbar. Also muss sie immer vorne zwischen Bühnenkasten und Portal durch.

Schwarzweiß, weil Alexander Eisenachs "Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft" vorgibt, ein Krimi in der Tradition des Film Noir zu sein. Und in der Tradition von Heiner Müller: Lange, bevor er BE-Intendant wurde, vielmehr gerade aus dem DDR-Schriftstellerverband geworfen worden war (ein De-facto-Berufsverbot), schrieb er unter dem Pseudonym Max Messer das Noir-Krimihörspiel "Der Tod ist kein Geschäft". 1962 produzierte der DDR-Rundfunk den düster dräuenden Genre-Ausflug.

EntfuehrungEuropas 01 560 Roeder uDem Geheimnis auf der Spur: Christian Kuchenbuch, Kathrin Wehlisch © Julian Röder

Max Messer heißt jetzt auch Eisenachs Detektiv, der nach der offenbar entführten Europa sucht, Geliebte des Syndikatchefs Jupiter Kingsby. Sie gleicht auffällig Messers Frau Grace, die sich das Leben genommen hat (wie Heiner Müllers zweite Frau Inge), jetzt aber dennoch mit ihm diskutiert, rauchend natürlich. Messer ist zwar Detektiv, aber in erster Linie auf der Jagd nach Geschichten. Was in seinem Kopf passiert und was real, ist zweitrangig.

Schließlich geht es hier um Ideen, um den Zustand Europas und der Welt, um den Sieg des Kapitalismus, um (Post-)Kolonialismus, Flucht und Moral. Weshalb die Story auch keine ist, sondern eher ein wildes Mäandern, das wirkt, als hätte Eisenach es dazu erfunden, möglichst viele Müller-Spuren zu legen.

"Mommens Block", das "Herzstück", "Der Mann im Fahrstuhl" – alles und noch viel mehr wird zitiert. Auch Walter Benjamins Engel der Geschichte rauscht durch den Text, der in Joseph Conrads "Herz der Finsternis" mündet und nebenbei versucht, aus Doppeldeutigkeiten von Begriffen wie Europa (Figur und Kontinent) oder Geschichte (Vergangenheit und Erzählung) Komik und Erkenntnis zu schlagen.

EntfuehrungEuropas 07 560 Roeder uWird er Europa helfen? Stephanie Eidt, Laurence Rupp © Julian Röder

So richtig witzig wird es aber nur zwei Mal. Einmal, als Peter Moltzen sich als Zahnarzt und Syndikatschef Jupiter vor der Kamera warmläuft (etwa die Hälfte des Abends geht als Film über die Gazeleinwand) und einen aggressiven Melancholiker hinschusselt. Und dann, als er mit Kathrin Wehlischs Verlegerin Margaret beim Wein die Berliner Schlossdebatte aufmacht, verbale Pollesch-Salven abfeuert und Wehlisch überlegt, Moltzen mit Salat zu bewerfen. Früher hätte es dafür ja mal Kartoffelsalat gegeben, aber all die Mayonnaise, das wolle heute keiner mehr ...

Da ist sie wieder, Frank Castorfs Volksbühne, und in der Erwähnung des Originals kommt einem diese äußerst laue und gewollte Kopie noch blasser vor. Dabei müht sie sich so ab mit ihren Kalauern und dem Bogartschen Raunen, mit Schwarzweiß-Metaphern und Gesellschaftsanalysen, der knackenden Hörspiel-Tonspur und dem endlosen Zigarrenrauch, den leitartikelnden Monologen. Hilft alles nix: Wenn es um die Zukunft Europas derart verquast und papieren bestellt ist, dann gute Nacht.

 

Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft
Ein Crime Noir von Alexander Eisenach
Uraufführung
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Lena Schmid , Pia Diederichs, Dramaturgie: Frank Raddatz, Musik: Sven Michelson.
Mit: Stephanie Eidt, Peter Moltzen, Laurence Rupp, Kathrin Wehlisch, Christian Kuchenbuch.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Der Abend wirke so, "als wären große Preise dafür zu gewinnen, dass man auf 30 Dramen-Seiten so viele Müller-Texte, -Motive und -Gesprächsfetzen unterbringt wie möglich. Das klingt dann eben häufig genauso bemüht wie die unter Metaebenen ächzende Plotanlage des Abends insgesamt", so Christine Wahl im Tagesspiegel (22.10.2017). In Hinblick auf die Castorf-Verweise schreibt sie: "Eines steht fest: So angestrengt und thesenträgerhaft wie dieser Abend war die Volksbühne wirklich nie."

Eisenachs wilder Stilmix voller tiefschürfender Anleihen gelinge auch deshalb so gut, weil das fünfköpfige Ensemble tatsächlich starke Typen aus der Vorlage heraushole. "Gerne auch mal stark klischiert", findet Ute Büsing vom Inforadio (22.10.2017). Es mache Spaß den Gedanken- und Genresprüngen zu folgen – "und dabei über die Zukunft Europas nachzudenken".

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