Was ist vorne?

von Claude Bühler

Basel, 26. Oktober 2017. Plötzlich, inmitten der Vorstellung, wird es zappenduster im Schauspielhaus. Schreie, Rufe, Verwirrung. "Prinz Leonce ist fort!", geflohen vor der geplanten Hochzeit mit Prinzessin Lena, die er nicht kennt. Schemen huschen auf der Bühne umher, stoßen an Wände. "Grenzen, überall Grenzen!" Wir wissen: Auch Lena ist weg. Auf der Flucht werden sich die Beiden kennen und lieben lernen – um bei ihrer Rückkehr doch das zu tun, was ihnen immer bestimmt schien: heiraten.

Gestalten ohne Identität in einer Welt ohne Sinn

Das ist der Moment, wo Thom Luz’ erste Inszenierung eines Bühnentextes bei Büchners Handlung ankommt, und es ist auch der stärkste des Abends: Gestalten ohne Identität in einer Welt ohne Sinn. Am Ende jubeln zwei Liebespaare: Ich bin betrogen, ich bin verloren, ich bin gerührt. Der Mensch hat keine Wahl, muss sich seinem lächerlichen Schicksal beugen, das Leonce, Lena und der Lebenskünstler Valerio in genialischen Exkursen melancholisch erörtern.

LeonceLena1 560 Sandra Then uEin Raum, der raunt "Ich war einmal": Annalisa Derossi, Daniele Pintaudi, Carina Braunschmidt, Martin Hug, Elias Eilinghoff, Lisa Stiegler © Sandra Then

Die Märchensatire macht sich nicht bloß lustig über die dummen Obrigkeiten in den Königreichen Popo und Pipi, sondern über die Menschen an sich, die beschrieben werden als Buch ohne Buchstaben, aber voller Gedankenstriche. Oder die sich in den Schatten ihres eigenen Schattens stellen wollen. Luz setzt das um, indem er die ursprünglichen Rollen weitgehend aufhebt. Erst gegen Ende kristallisieren sich die Titelfiguren aus der Gruppe heraus. Büchners Spott über die Aristokratie führt Luz vor, indem er eine Abendgesellschaft in Gala strippen lässt.

Mit bildlicher Wollust stürzte er sich auf die Condition humaine und Büchners Befragung der Wirklichkeit. Der hohe Saal, in den er seine Figuren stellt, scheint der Zeit als eine ewig fortbestehende Erinnerung enthoben, so als würde er bloß behaupten: Ich war einmal. Stuckaturen weit oben, graue Flecken an den scheinbar jahrhundertealten Wänden, als Decke durchhängende Tücher, durch die mal Lüster blinken oder das simulierte Sonnenlicht. Irgendwann wird eine Gruppe Museumsbesucher durch den Raum geführt: Luz zelebriert den Zweifel an Bedeutung und Orientierung.

Scheinbar willkürliche Handlungen, Gesten, Rezitationen

Ebenso hält er es mit dem Zeitpfeil: Rückwärts abgespielt ertönt die Anweisung zu Beginn, die Handys auszuschalten. Darauf fährt der Vorhang herunter, nachdem wir das Bühnenbild hell erleuchtet minutenlang bestaunt haben, um gleich wieder hochzugehen. Ein Herr im Frack wirft einen Stuhl nach der Pianistin, nachdem sie ihm die Show gestohlen hat: Ein metaphorischer Vorgriff auf das spätere Eheleben von Leonce und Lena? Der Herr fordert uns auf, nach Hause zu gehen. Man fange den Spaß nochmals von vorne an. Aber was ist vorne?

Luz führt all dies ad absurdum. Ton für Ton hat er Beethovens Mondscheinsonate eigenhändig invertiert. Gegeben wird sie – in einem fast nahtlosen Rezital aus Werken von Mozart, Schumann, Berg etc. – auf einem mittig auseinander gesägten Klavier, der Bassteil rechts auf der Bühne, der Diskant links: Symbol für Leonce und Lena, die zusammengehören und die wie alle Menschen von einem ganzen Kosmos getrennt sind.

LeonceLena3 560 Sandra Then uAbendgesellschaft in Gala, ad absurdum geführt: Daniele Pintaudi, Elias Eilinghoff, Martin Hug, Carina Braunschmidt, Lisa Stiegler © Sandra Then

Ähnlich dem Film Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais hat Luz scheinbar willkürlich Handlungen und stehende Gesten, Rezitationen, Repetitionen und Loops aneinandergefügt. Es wird und soll sich wohl ein jeder einen anderen Reim draus machen. So lässt man zuweilen, wie wenn man ein kompliziertes philosophisches Werk liest und nichts versteht, die Dinge mal passieren.

Von morbider Langeweile geschaukelte Seelen

Es sind die automatenhaft ausgeführte Handlungen und Gags in der Art, wie man sie von Luz, etwa aus Inferno, gut kennt: Die Abendgesellschaft steht singend draußen im Regen vor einem hohen Fenster. Einer klemmt eine Violine unter die rotierenden Borsten einer Schuhputzmaschine und lässt es sirren. Zwei Männer stehen nebeneinander und gucken auf einen Punkt an der Wand. Eine Frau spricht mit einem an der Wand hängenden Damenkleid. Heraussticht ein in Windeseile vorgetragener Monolog von Lisa Stiegler auf einem Stuhl: Mit ihrem Krönchen wirkt sie da wie ein Luftgeist, der die selbstisch-melancholischen Gedanken der von morbider Langeweile geschaukelten Seelen wie Leonce oder Lena in eins fasst.

Luz sorgt mit seinem Musiktheater immer wieder für Erheiterung im Publikum. Vieles ist im naiven Sinne schön anzusehen, manches aber nicht einzusehen. Es gelingt Luz, Büchners in Auflösung begriffene Lustspielwelt zu verbildlichen. Aber eine Auslegung des Stoffs, die eine Haltung dazu entwickelt, ist das nicht. Luz nimmt Büchners Figurenaussagen für bare Münze. Gerade der jüngere Teil des Publikums johlte und trampelte beim Applaus.

 

Leonce und Lena
Schauspiel von Georg Büchner
Regie und Bühne: Thom Luz, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Kostüme und Licht: Tina Bleuler, Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Carina Braunschmidt, Annalisa Derossi, Elias Eilinghoff, Martin Hug, Daniele Pintaudi, Lisa Stiegler.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritkenrundschau

"Aura und Zauber" habe Thom Luz' Abend, sei "durch und durch Komödie in der Tradition der Commedia dell'Arte", schreibt Simon Strauß in der FAZ (28.10.2017). "Wie aufgezogene Spielpuppen lässt Luz seine Figuren über die Bühne zuckeln, mitunter fallen einer von ihnen ein paar Textzeilen ein, dann gibt es wieder eine Zeitlang nur stille Bewegungen und zerknirschte Mienen." Anzitierte musikalische Impromptus und Dämmerlicht verliehen dem Gezeigten "eine wohlig-meditative Note, legen einen dünnen Film aus sanfter Schönheit über das Geschehen". Allerdings bekämen Büchners Sätze dadurch "eine falsche Weihe und Sicherheit" und es werde "der Text von der Musik um seine Abgründe betrogen".

"Der Stimmungsmagier Luz generiert in Basel einen rätselhaften Erinnerungs- und Projektionsraum, in dem sich die Figuren aus Versatzstücken des Büchner-Textes erst erfinden müssen", befindet Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (28.10.2017). In "fiebrig schwebende Zustände zerlegt" werde die Vorlage, die Textpassagen würden quer durchs Ensemble vergeben, italienisch gesprochen, zu Monologen umgebaut, "was manchmal auch arg abgespult wirkt und die Kraft von Büchners gewitzter Sprache zersetzt". Die Utopie von Büchners Lustspiel, "dieses Zerschlagen aller Uhren, dieses Verrückterklären der Arbeitswütigen und dieses südenwarme Dasein mit Melonen und Feigen", stelle Luz "so sehnsüchtig wie ungläubig" ins Zentrum seines Abends. Doch der Mechanismus der Liebe dieser Königskinder erinnere eher an die Algorithmen von Parship, so Schlienger: "Sie scheinen so wenig zu wissen wie zu Beginn, wer sie eigentlich sind."

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