Das Rad der Geschichte

von Esther Boldt

Frankfurt, 27. Oktober 2017. "Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns." Diese Sätze, mit denen Anna Seghers voll eleganter Leichtigkeit ihren Gleitflug über die Kriegsgeschichte des Landstrichs zwischen Mainz und Frankfurt beendet, zwischen Rhein und Main, zwischen Weintrauben und reifen Äpfeln, vom Heiligen Römischen Reich bis zur Schlacht von Verdun, diese Sätze fallen auf der Bühne gleich drei Mal. Doch wer ist dieses "wir", und wann ist "jetzt"? "Das siebte Kreuz" ist Anselm Webers erste Inszenierung in Frankfurt, wo er im Sommer die Intendanz des Schauspiels übernahm. Anna Seghers' Roman, den er hier auf die Bühne bringt, und den Marcel Reich-Ranicki einst "einen großen, moralischen Roman" nannte, ist die Geschichte einer Flucht.

das siebte kreuz1 560 Thomas Aurin uEcce homo: Max Simonischek als KZ-Häftling auf der Flucht © Thomas Aurin

Im Jahr 1937 fliehen sieben Gefangene aus dem (fiktiven) Konzentrationslager Westhofen bei Worms. Sechs werden in den darauffolgenden sechs Tagen gefasst, nur einer entkommt. Die Geschichte dieses Georg Heisler erzählt Seghers in ihrem Buch. Jedoch nicht nur von ihm, sondern auch vom Lager Westhofen und aus dem Alltag derer, die in seinem Umfeld leben, berichtet ihr im Pariser Exil geschriebener und vor 75 Jahren erschienener Text. Es entsteht das lebhafte, ungeheuer genau beobachtete Porträt einer Gesellschaft im Wandel, ein Mosaik der Verdächtigungen und Verwerfungen, der unverhofften Allianzen und Selbstbehauptungen.

Ausgestoßen und unbehaust

Für ihre Stückfassung hat die Dramaturgin Sabine Reich den über 300-seitigen Roman stark gestrafft, sie konzentriert sich ganz auf die Flucht Heislers und verwandelt "Das siebte Kreuz" in ein Stationendrama. Max Simonischek spielt diesen Georg, und wie schon bei der Saisoneröffnung "Richard III" steht ein Gaststar in der Hauptrolle auf der Bühne des Schauspielhauses. Dabei bleibt der Eiserne Vorhang geschlossen, gespielt wird auf den überbauten ersten Sitzreihen. Hier fällt Georg Heisler eingangs ein wie ein Fremder: Im verdreckten weißen Häftlingsanzug kriecht er über den Boden, die Haare verfilzt, der ganze Leib verkrampft vor Angst und Schmerz. Er möchte es bis nach Frankfurt schaffen, wo seine Geliebte Leni auf ihn wartet. Unterwegs aber trifft er Menschen, die ahnen, dass er ein Flüchtling ist. Menschen, die dies übersehen und ihm helfen – oder die ihn später denunzieren.

das siebte kreuz2 560 Thomas Aurin uKomplizen und Verräter: Wolfgang Vogler, Michael Schütz, Paula Hans, Christoph Pütthoff, Olivia Grigolli, Thesele Kemane, Max Simonischek in "Das siebte Kreuz" © Thomas Aurin

Die Gesellschaft derer, zu denen Georg plötzlich nicht mehr gehört, spielen in wechselnden Rollen Paula Hans, Olivi Grigolli, Christoph Pütthoff, Wolfgang Vogler und Michael Schütz. Zudem bilden sie immer wieder einen Chor, der Georgs Gegenüber wird. Eng rotten sich die schwarz gekleideten Schauspieler*innen hierfür um den Fliehenden, rücken ihm auf den Leib. Zudem hat Anselm Weber Lieder aus Schuberts "Winterreise" ausgewählt, die von dem jungen Bass-Bariton Thesele Kemane gesungen werden, und die das Motiv des Unbehaustseins verstärken.

Tanz der Komplizen und Verräter

Wie der Roman ist auch die Inszenierung strukturiert durch die sieben Tage, die die Flucht währt. Sieben Tage stillstehender Zeit, sieben Tage des Wartens auf Tod oder Leben, während Georg Heisler durch Land und Stadt zieht; sieben Tage hektischer Betriebsamkeit. Anselm Weber übersetzt die Flucht in eine Dramaturgie der Unrast, in einen Tanz der Komplizen und der Verräter, der Gleichgültigen und der Misstrauischen. Im Bühnenhintergrund markieren eine dunkle Fliesenwand und lange Sitzbänke einen Umkleideraum. Hier sitzt das Ensemble, während die Kolleg*innen auf der Vorderbühne spielen, und wechselt die Rollen so flink wie die Kostüme.

Dieses stete Kommen und Gehen irritiert zusehends, der Abend droht, in seine Teile zu zerfallen. Dem begegnen die Schauspieler*innen mit einem hohen Druck, den sie in ihre kurzen Szenen geben, jedes Wort wird da mitunter bedeutungsschwer über die Rampe gepresst. Die Kunst des beiläufigen Sprechens, das umso mehr aufhorchen lässt, beherrscht hier nur Michael Schütz, der Georgs Ersatzvater Wallau mit stoischer Gelassenheit und todesmutiger Zuversicht versieht.

So spannend der Stoff auch ist, so strategisch klug seine Auswahl hier und jetzt erscheinen mag, so vermag diese dunkle, strenge Inszenierung doch nicht abzuheben. Zu sehr ist sie darum bemüht, ihre Botschaft zu versenden, zu sehr vergisst sie dabei die Ambivalenzen und Offenheiten, die sie auch benötigte. Denn natürlich und unüberhörbar ist "Das siebte Kreuz" ein Appell an den Humanismus, ein Symbol für den Widerstand, auf den Seghers im Dritten Reich hoffte – und das Weber zu einer szenischen Erinnerung daran macht, dass auch Deutsche vor nicht allzu langer Zeit in ihrem eigenen Land auf der Flucht waren: Das Rad der Geschichte dreht sich weiter, immer anders und doch immer gleich.

 

Das siebte Kreuz
von Anna Seghers. Für die Bühne adaptiert von Sabine Reich und Anselm Weber
Regie: Anselm Weber. Bühne: Raimund Bauer. Kostüme: Irina Bartels. Musik: Thomas Osterhoff. Einstudierung Chöre: Gotthard Lange. Dramaturgie: Konstantin Küspert. Licht: Johan Delaere.
Mit: Max Simonischek, Thesele Kemane, Christoph Pütthoff, Wolfgang Vogler, Michael Schütz, Paula Hans, Olivia Grigolli.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Es liegt eine kräftige Prise von epischem Theater und Brechts Lehrstücken über dem Abend, zu dem der in Südafrika geborene Bassbariton Thesele Kemane statt Kompositionen von Eisler oder Weill Lieder aus Schuberts  "Winterreise" beisteuert, dem Zyklus über die Leiden des unbehausten Wanderers", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ (30.10.2017) Anselm Weber habe für seine erste Inszenierung in Frankfurt ein Stück gewählt, das auch ohne Aktualisierungsmätzchen aktuell erscheine. "Seine Regie an diesem Abend ist streng, nicht spielerisch, nicht geschmeidig, sondern von einer Konzentration, die zuweilen an die geballten Fäuste in den Taschen des Chors zu Beginn denken lässt. Die Schauspieler indes lässt er leuchten."

"Manchmal wünschte man sich etwas weniger von solchem Theater im Leben – und dafür mehr Leben im Theater", schreibt Sabine Kinner in der Frankfurter Neuen Presse (30.10.2017). "Anselm Weber zeigt seine erste Inszenierung als neuer Intendant und bestätigt gleich den Argwohn, dass Anna Seghers’ Prosawerk nicht so recht für die Bühne taugt. Angestrengte Künstlichkeit beherrscht den zweistündigen Abend. Wie fast immer, wenn die darstellende Kunst den Realismus scheut, endet sie auch hier im epischen Aufsagetheater."

In ihrer Doppelkritik schreibt (Frankfurter Rundschau, 30. 10.2017) über "Das siebte Kreuz" und über Mouawads "Verbrennungen": Beide Inszenierungen gingen mit der Hoffnung auf Glück arabeskenfrei um. "Das ist vor allem, was den Umgang mit Anna Seghers’ Roman 'Das siebte Kreuz' angeht, angemessen und grundsolide (...) Vielleicht wohnt jedem Anfang eine Risikovermeidung inne." Regisseur Weber bemühe sich um Konzentration und eine dezente Überzeitlichkeit. "Mit Abstand am spannendsten, anspannendsten wird Webers pausenloses 'Siebtes Kreuz', als das Geflecht der Helfer und Nicht-Helfer enger wird: ein Spielfeld der Entscheidungen, des Zögerns, der Angst, die von Feigheit schwer zu unterscheiden ist."

 

Kommentare  
Das siebte Kreuz, Frankfurt: Weber eben ...
Es ist ein Abend, der typisch Weber ist, nie ganz schlecht, aber eben auch nicht richtig gut. Der Abend fliegt nicht, ist angestrengt, strengt an, bewegt aber nicht.
Das siebte Kreuz, Frankfurt: große Inszenierung
#1
Wenn das typisch war, dann will ich ab sofort ein Weber-Knecht sein. Eine große Inszenierung.
Dass die Kritikerin in Anna Seghers Schlusssätzen eine "elegante Leichtigkeit" und im Spiel das weitgehende Fehlen der "Kunst des beiläufigen Sprechens" (Börlin-Style?) entdeckt, bleibt ihr unbenommen. Hätte Weber nur zeigen wollen, dass auch Deutsche schon fliehen mussten, dass hätte er wohl Transit genommen.
Das siebte Kreuz, Frankfurt: Krampf
Der alte Hollywood-Film ist um Längen interessanter als es dieser verkrampfte Theaterabend war.(...)
Viel Krampf in Frankfurt.
Den Rest kann man sich einkaufen, das Geld dafür gibt es ja bei den Städtischen Bühnen.
Das siebte Kreuz, Frankfurt: hochkonzentriert
Also ich sah im Gegenteil einen hochkonzentrierten, fordernden und anspruchsvollen Theaterabend!! Er ist in seiner Erzählweise einfach und genau, mit zum Teil sehr berührenden Monologen(wie der der Mutter)!
Und den bezug zur Gegenwart schafft der Abend auch, ohne pseudo modernistisch daher zu kommen! Auch den Spagat zwischen dramatischen Szenen und epischen fand ich gelungen. Natürlich ist das kein Abend, der famos unterhaltend einen in den Schoß springt. Dafür gibt es andere Genres.
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