Verloren im Rösti-Land

von Elisabeth Maier

Basel, 3. November 2017. Eines Tages taucht der Fremde in einem schweizerischen Dorf auf. Der gelegentliche Wechsel von Rabattaktionen im Dorfladen ist alles, was die Bürger am Leben hält. Nikolaj Gogols böse Groteske "Der Revisor" aus dem 19. Jahrhundert hat den Basler Dramatiker Lukas Linder dazu inspiriert, die Motive der russischen Komödie neu zu lesen und in die Alpen zu verlegen. Aber der erfolgreiche Dramatiker, 2015 Gewinner des Heidelberger Stückemarkts und Träger des Kleist-Förderpreises, hat die Vorlage mit "Der Revisor oder: Das Sündenbuch" nicht einfach überschrieben. Er erfindet die Legende vom vermeintlichen Beamten, der einem Dorf seine Unzulänglichkeit vor Augen führt, neu. Linder zeigt Menschen, die in Fremdenhass und Isolationismus erstarren.

Trügerische Kulisse

Die schwierige Kunst der Komödie beherrscht er ebenso wie Regisseurin Cilli Drexel. Über weite Strecken setzt die Lachtheater-Spezialistin die gesellschaftskritischen Pointen und politischen Nadelstiche des jungen Schweizers federleicht und virtuos in Szene. Ein Bergidyll wie aus dem Werbeprospekt ist Christina Mroseks Bühne. Schneebedeckte Gipfel, fragil aus Sperrholz und Leintuch gebastelt, türmen sich über dem Dorf. Die trügerische Kulisse hat ihren Reiz. Dass der gutbürgerliche Schein von Rösti-Mief und Holzschopf-Romantik am Ende zusammenbricht und in die Katastrophe mündet, tut Linders zeitkritischer Komödie allerdings erheblichen Abbruch.

revisor2 560 Kim Culetto uDer Berg ruft. Das Bühnenbild von Christina Mrosek © Kim Culetto

Beherzt entschlackt Drexel den Text, der vor Anspielungen auf schweizerische Volksmythen von Wilhelm Tell bis zum Alpenkind Heidi nur so trieft. Im Sinne Gogols konzentriert sie sich auf die Charaktere. Wie der russische Dramatiker lenkt Linder den Blick auf das, was die Menschen umtreibt. Und Drexel entrückt jeden einzelnen wunderschön in die Groteske. Der wuchtige Gemeindepräsident Obermoser ist für Andrea Bettini ein Machtmensch, der sich keinen Zentimeter bewegen will. Sein Ziel ist es, den Fremden zu vertreiben und damit sein isolationistisches Weltbild zu retten. Janina Werthmann zwingt ihn in ein viel zu enges Bauernkostüm.

Aus heiterem Himmel erscheint René Nöthli auf der Bildfläche – der Fremde, den die Dorfbewohner vertreiben wollen. Kleinkrämerisch meckert er über Fehler im System der Schweizer Bundesbahn. Bald darauf notiert er Verfehlungen der einfachen Menschen ("Die Kirchenorgel ist verstimmt") in einer Kladde mit Schlange auf dem Deckel – sein Sündenbuch.

revisor3 560 Kim Culetto uStörenfried im Idyll. 2.v.l.: Vincent Glander als René Nöthli © Kim Culetto

Doch der Eindringling ist mehr als ein unzufriedener Bahntourist, der nach Fahrpreiserstattungen giert. Mit brennendem Blick zeigt ihn Vincent Glander als einen, der aufrütteln will.

Fleischwolf der Aktualität

Da hat er die Rechnung ohne die Dorfbewohner gemacht. Max Rothbarts Pfarrer mit dem klingenden Namen Nierenstein ist ein wandelnder Komplex. Das Leben im Zölibat krümmt seinen Körper. Virtuos entwickelt der Schauspieler das Porträt eines bigotten Eiferers, der den Menschen in Afrika als Missionar einst Löcher in die Kondome stach. Ihr komisches Potenzial entfaltet Barbara Horvath als verklemmte Lehrerin. Im pinkfarbenen Püppchenkleid streift Franziska Hackl ihre Identität als Maikönigin ab. Wütend begehrt die Tochter des Gemeindepräsidenten auf. Ihre frustrierte Mutter zeigt Katja Jung ironisch-distanziert. Bühnenmusiker Elia Rediger verzerrt die Handlung ins Surreale. Seine Klangkulisse driftet zwischen Chorälen und afrikanischer Musik. Schwarz verschleierte Frauen stimmen Klagelieder an. Der Benzinkanister, mit dem der Pfarrer den Fremden abfackeln will, wird zur Buschtrommel.

Anders als bei Gogol, der den Dorfbewohnern den Spiegel der Groteske vorhielt, versinkt Linders Komödie in klischeehaften Gewaltfantasien. Die anfangs so herrlich ironische Kritik an fehlender Empathie der Schweizer dreht er mit dem brutalen Schluss durch den Fleischwolf einer konstruierten Aktualität. Da kommt die Flüchtlingsfrage aufs Tapet, werden die Dorfbewohner zu Terroristen. Das entgleiste Ende setzt Drexel als überzogene Show in Szene. Ein blutiges Kaspertheater, das alles andere als überzeugt.

 

Der Revisor oder: Das Sündenbuch
Komödie von Lukas Linder nach Nicolai Gogol
Uraufführung/Auftragswerk des Theaters Basel
Regie: Cilli Drexel, Bühne: Christina Mrosek, Kostüme: Janine Werthmann, Musik: Elia Rediger, Dramaturgie: Sabrina Hofer.
Mit: Vincent Glander, Andrea Bettini, Katja Jung, Franziska Hackl, Max Rothbart, Thomas Reisinger, Barbara Horvath, Mario Fuchs und dem Klagechor: Verena Bossard, Tina Glaser, Esther Meier, Karin Ochsner, Sibil Rossi, Meret Zimmermann.
Spieldauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Mehr als frei" nach Gogols "Revisor" habe Lukas Linder hat sein Stück verfasst, schreibt Annette Mahro in der Badischen Zeitung (6.11.2017) Bei Linder gehe es um die diffus ins Groteske gesteigerte Angst vor dem Fremden, "ist dabei lange derart burlesk grotesk, dass jede intellektuelle Fallhöhe auf ein Minimum schrumpfte." Cilli Drexel "lässt die eingangs noch witzig überzeichneten Figuren mehr und mehr zu echten Horrorclowns mutieren". Immer neue Abgründe tun sich auf, "zu denen Christina Mroseks weich gepolsterte Bühne wie ein schräg gestelltes Bett mit Bergkulisse als Kopfteil ausreichend Hohlraum bietet." Die Erkenntnisresistenz aber "kennt keine Grenzen".

Lukas Linder "übertreibt und überschreibt Nikolai Gogols 'Revisor'", so auch Martin Halter in der FAZ (6.11.2017). Von der russischen Vorlage bliebe noch weniger als bei Simon Stones "Drei Schwestern" übrig: "einige Figuren, der groteske Humor und die Läuterungsabsicht, aber kein Wort und selbst die Idee nur halb". Linder will die Schweizer Willkommenskultur als Lüge entlarven, das sei gut gemeint. Regisseurin Cilli Drexel lege noch ein paar Scherze und Wortspiele drauf, "streckenweise auch passabel inszeniert. "Aber Linder ist wohl doch kein neuer Dürrenmatt." Spätestens wenn der Fremde am Marterpfahl unter dem Triumphgeheul der Schweizer Urhorde gefoltert werde, sei das ein, wie es einmal heißt, "Lehrstück, auf das man gerne verzichtet hätte".

 

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