In den Weiten des Netzes und nicht in seinen Maschen. Ein Nachtflug

von Annett Gröschner

Meine Damen und Herren, am Anfang jedes Textes steht die Frage: Wie fängt man an? In diesem Fall kam mir das Theater zu Hilfe. Und wenn ich jetzt Theater sage, werden einige gleich einwenden, wieso Theater, das ist kein Theater, das ist irgendwas mit Performance, Sie können wohl das Mimetische nicht vom Performativen unterscheiden, wer hat Ihnen hier überhaupt die Berechtigung zum Reden erteilt. Und da wären wir mittendrin in nachkritik.de, trampeln quasi schon durch die Aorta, um uns in linker und rechter Herzkammer mit Spiralblöcken zu bewerfen und dabei ohne es zu merken die Plätze zu wechseln.

Wie fängt man an?

Das war die zentrale Frage, von jeder und jedem auf der Bühne gesprochen in dem letzten Stück, das ich gesehen habe: The Ocean is Closed eine Gemeinschaftsarbeit des Performancekollektivs She She Pop mit dem avantgardistischen Musikensemble Zeitkratzer auf der Hinterbühne des HAU 1. Man fängt an, indem man immer wieder neu anfängt zu fragen, wie man anfängt, um dann eigentlich schon mittendrin zu sein. Ja, das ist Theater. Auf der Hinterbühne mit Blick unter den Schnürboden aus blauem Licht. "Ich sehe den Schnürboden als eine verheißungsvolle Maschine, als einen Himmel aus Technik", hat Wolfram Lotz neulich auf nachtkritik.de gesagt, eine hinreißende Rede über das Schreiben und die gelegentliche Unfähigkeit, es auszuüben.
Zeitkratzer, zehn Jahre Nachtkritik, hätte nicht schlecht geklungen. Meine Rede hat aber den Titel:

In den Weiten des Netzes und nicht in den Maschen. Ein Nachtflug 1)

Wie fängt man an?

Die Aufgabe eine Rede zu halten, ist immer eine Überforderung und immer schwingt die Frage mit, warum ich? Bin ich ausreichend qualifiziert für die Aufgabe, auch wenn ich vor, hinter, auf und für die Bühne gearbeitet habe und arbeite. Gehe ich überhaupt oft genug ins Theater? Wie damals, als ich manchmal lieber an diesen Ort hier, in das Haus der Ungarischen Kultur ging, um Filme zu schauen, als in die Volksbühne oder ins Deutsche Theater.

In Momenten des Zweifels schleicht sich so eine Aufgabe fast immer in meine Träume. Mein Traum zur Rede ging so: Ich saß auf einem Flughafen, auf dem es Publikumsverkehr, aber keine Flüge gab. Auf der Anzeigetafel waren keine Abflugzeiten, Destinationen und Flugnummern samt Fluggesellschaft angegeben, sondern Namen von Theaterstücken mit jeweiligem Theater und Beginn der Vorstellung, so wie auf den Seiten von Nachtkritik, wenn das Kollektiv die kommenden Inszenierungen angibt, die zu besprechen man sich geeinigt hat. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Stücke es waren, ich hatte im Traum meine Theaterbrille nicht auf. Statt Abfallkörben gab es Automaten, die man mit Worten füttern konnte, unten kamen nach ausreichender Fütterung Texte heraus. Ich sehe mich das Wort fulminant hineinwerfen, das ich für eins der schrecklichsten halte, das Kritiker*innen benutzen können.

Danach Vorhang.

Wie fängt man an?

Vier Theaterkritiker*innen, zwei Frauen, zwei Männer, dazu ein IT-begabter Künstler 2) , wir schreiben das Jahr 2007. In den Feuilletons der Zeitungen ist der Platz für Theaterkritik zusammengeschrumpft, eine schleichende Marginalisierung, dabei waren doch Feuilleton und Theaterkritik fast Synonyme.

Den Theatern geht es nicht besser. "Das ganze System war so fragil geworden", sagt Esther Slevogt zehn Jahre später. "Mit jedem Brötchen, das du bei einer Pressekonferenz am Buffet hast liegenlassen, hast du schon ein Theater gerettet." Damit einher ging natürlich der Verlust von Publikations- und Verdienstmöglichkeiten für Kritiker*innen.

Nachtkritik musste sich ihren Platz im Theater erst einmal verdienen.

Das war nicht wie bei Theodor Fontane, der zu jeder Theaterpremiere an seinen Platz 23 im Königlichen Schauspielhaus geleitet wurde.

Als sie das erste Mal nach Bayreuth wollten, mussten ellenlange Briefe mit der Festspielleitung gewechselt werden, um die Notwendigkeit einer Premierenkarte zu beglaubigen.

Die Salzburger Festspiele waren eine Festung, Tumulte an der Tür.

"Das Internet war für die Abteilung Hochkultur was für bildungsferne Deppen, die den ganzen Tag mit ihrem Egoshooter zugange sind." Das hat sich geändert, sagt Esther Slevogt: "Diese ganzen kuratierten Systeme aus dem 19. Jahrhundert, von Warenhaus bis Zeitungsfeuilleton, sind ins Stottern gekommen."

Das Schubladensystem hat sich überlebt, es gibt andere Formen der Sortierung von Öffentlichkeit.

Das verändert die Formate, das verändert aber auch die Strukturen.

 

AnettGroeschner 560 sle uAnnett Gröschner am 4. November 2017 beim Jubiläumsfest im Haus Ungarn Berlin @ sle

Heute sind bis auf eine noch alle aus der Gründungscrew dabei.

Inzwischen gibt es zehn Redakteur*innen und 65 Autor*innen, das Verhältnis der Geschlechter ist ziemlich ausgewogen, der jüngste Redakteur ist 28.

Ein eingespieltes Kollektiv, das sich und seinen Autor*innen Honorare zahlt. Im Netz, ohne Netz und doppelten Boden. Nachtkritik hat kein Büro und keine Kantine, keine Besetzungscouch und keine Beschwerdestelle.

Verabredungen zum Duell mit Theaterschaffenden müssen per e-mail erfolgen.

Jeden Dienstag ist Redaktionssitzung. Und einmal im Quartal eine Tagesklausur. Um die fünfzig Inszenierungen können besprochen werden pro Monat.

Wichtig ist der Proporz zwischen Hauptstadt und Provinz, zwischen großen Häusern, in der internen Nachkritiksprache "Biggies" genannt, und den kleineren Bühnen. Theaterkritik bleibt ein Beitrag zur Rettung der Theaterstrukturen, weil sie abgebildet werden.

 "Von Anfang an war es eine Suche nach flachen Hierarchien in der Arbeit", so Redakteur Christian Rakow, "nach basisdemokratischen Prozessen in der Redaktion, nach Dialog auf Augenhöhe mit den Autor*innen und den User*innen", die auch in den täglichen Alltagsauseinandersetzungen nicht aufgegeben wurde.

 

In die zehn Jahre fällt auch das Aussterben des sogenannten Großkritikers.

Ja, wir dürfen ihm eine Puppentheater-Krokodilsträne nachweinen, hatte er doch ein hohes Unterhaltungspotential und leider auch eine unangenehme Fülle von Macht.

Dass Kritiker, und ich gendere hier mit Absicht nicht, von ihrem Hochsitz steigen mussten, um sich partizipativen Kommunikationsformen zu stellen, dazu hat auch Nachtkritik beigetragen und dafür wurde und wird es mitunter auch gehasst.

Der Umbau von Öffentlichkeitsstrukturen hat längst auch das Theater erfasst, der Guckkasten-Zuschauerraum ist dabei sich aufzulösen.

Heute fragen wir: Wie revolutionär ist ein Sturm auf den Reichstag, der von der Kulturstiftung des Bundes mitfinanziert ist?

Mir als Nachteule kommt es schon wie freiwilliger Heroismus vor, am Abend in ein Stück zu gehen, das zwei bis vier Stunden oder gar Castorflängen dauert, danach nicht in der Kantine rumzuhängen, sondern nach Haus zu gehen, den Wecker auf fünf Uhr zu stellen – (Esther Slevogt: "Ich kreise dann immer schon wie ein Raubtier um die Beute im Halbschlaf") – aufzustehen, ein Heißgetränk zu kochen und loszuschreiben, auf die Deadline um 7 Uhr zu, am Wochenende eine Stunde später, denn die beiden Morgenredakteure brauchen ja auch noch ein wenig Zeit zum Redigieren. 9 Uhr ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung.

Das ist nur etwas für morgens ausgeschlafene Leute.

Der Vorteil: Keine Chance, bei jemandem abzuschreiben.

Und: Ein Text, der drei Stunden später fertig wird, muss auch nicht unbedingt durchdachter sein.

Schon Theodor Fontane haderte mit der Hast des Schreibens, den Petra Kohse 2009 zitierte, als sie das Prinzip Nachtkritik erklärte.

1889 entschuldigte er sich bei einer Schauspielerin, sie "reizend" genannt zu haben: "Es ist ein Verlegenheitswort. Weiter nichts. Da setzt man sich hin und hat in drei Stunden eine ellenlange Kritik zu schreiben über eine, wie ich Ihnen nicht erst zu sagen brauche, sehr schwierige Materie. Das Mädchen, eingemummelt, steht schon hinter einem, mit einem Markstück in der Hand, um sich sofort auf eine Droschke erster Klasse stürzen zu können. Alles ist in Hast, Angst, Aufregung, und noch immer sitzt der unglückliche alte Mann an seinem Schreibtisch und fegt über die Seiten hin und ist noch immer nicht fertig."

Die Mark und die Droschke und das Dienstmädchen sind heute obsolet, die Eile ist die gleiche und die Angst, etwas nicht bis zum Ende durchdacht zu haben.

Es soll Autor*innen geben, die gleich nach der Vorstellung schreiben und dann bis 7 schlafen können.

Stress bleibt es so oder so.

 

Deutungshoheit? Perdu!

Denn kaum ist die Kritik am Morgen draußen, kommt Leben in die Kommentarspalten.

Bei manchen scheint es, als lauerten sie schon kurz vor 9 Uhr an ihren Computern, bereit, sofort zuzuschlagen, wenn der erste Kritiker oder die erste Kritikerin es gewagt hat, etwas zu veröffentlichen.

Bevor der erste Artikel überhaupt zu Ende gelesen sein kann, ist Meinung schon ohne Korrekturlesen in die Maske getippt.

Der reinste Theatersport.

Jede Menge Figuren aus Theater, Pop, Politik und Literatur tummeln sich da.

Sie heißen Prospero, Käthchen, Lautreamont, Ahoj Brause, Pionier 1, POP, Adenauer, Guttenberg, Anonymous und Antianioonymus, Lady Kaka, Müller 70, Bertis Erbe, Papst mit Eisphallus, The Horror.

Die Diskussionen gehen über Bande, ein @ und der Kampf geht los.

Kostprobe gefällig: "Nachtkritik reißt sich mit Votengeilheit die Maske seiner Berichterstattung selbst ab und verrät das Theater zugunsten des Diskurses."

Oder: "Es riecht sehr nach verletzter Eitelkeit, was du so schreibst. bisschen sehr wenig. Also, bitte, Herr Schlaumeier: Haste was beizutragen oder nicht?"

Am lustigsten ist es, wenn dann einer aus dem Theaterhimmel hinabsteigt, um sich mit seinem Klarnamen in die Diskussion einzumischen. Nicht immer aber verbirgt sich dahinter die echte Person.

Besonders unterhaltsam war das 2007, anlässlich der Castorf-Inszenierung von Emil und die Detektive, als Wolfgang Behrens Milan Peschel einen "Schauspieler von mittleren Gnaden" schalt und damit einen mittelschweren Tsunami auslöste. In die Diskussion mischte sich schließlich auch Milan Peschel ein und es dauerte eine Weile, bis Nachtkritik moderierte: "Milan Peschel, der echte!, legt Wert darauf, wissen zu lassen, dass er sich in dieser Diskussion nicht zu Wort gemeldet hat, sondern dass ein anderer sich seines Namens bedient. Wir setzen den Namen des Beiträgers "Milan Peschel" daher in Anführung. Ein Trost für alle Fans des echten Milan Peschel: Er hat immerhin vorbeigeschaut und gelesen, was hier geschrieben wurde."

 

Eine Weile gab es die Theaterleute in Anführungszeichen und die ohne

Und sie waren nicht eher ohne, ehe die echten zugegeben hatten, dass sie es wirklich waren, die sich einmischten in die Diskussion.

Die Kollegen in Anführungsstrichen waren anfangs eine feste Größe des Nachtkritik-Betriebs.

Als Claus Peymann im April 2008 mitteilen ließ, seinen Vertrag für das Berliner Ensemble bis 2011 zu verlängern, schlossen sie sich zusammen, um ein Dramolett aufzuführen, das in folgendem Wortlaut in die Annalen von nachtkritik.de einging:

"Sebastian Hartmann" (...), dichtete wortgewaltig Peymann an ("Mensch, alte Strandhaubitze …") und erfreute mit Funkelsteinen aus seinem Zitatenschatz: 'Es ist und bleibt der blasse Neid ein Todfeind der Zufriedenheit ("Gunter Sachs"). 'Claus Peymann (in Anführungszeichen) handelte mit "Hartmann" Inszenierungen aus, mit denen die beiden erst Berlin, dann Leipzig 'zugrunde richten' wollen, wo Hartmann damals Intendant war. Frank Castorf (in Anführung) forderte von 'Schwiegersöhnchen' Hartmann 'revolutionäre Disziplin'oder wenigstens die Rückgabe seiner Brille. "Rolf Hochhuth", mit übergehängter Jacke, antichambrierte bei Castorf wegen der Aufführung des "Stellvertreter" und bekam von "Hartmann" einen Stückauftrag für Leipzig; "Matthias Hartmann" drohte aus Zürich die nachtkritik-Seite aufzukaufen, "Sebo" Hartmann schließlich bot einem Kritiker des Dramoletts ('daran geht die nachtkritik zugrunde') wenn schon nicht Prügel, so doch wenigstens den Posten eines Kotzbrockens am Leipziger Theater an."

Da wusste noch keiner, dass Peymann bis 2017 bleibt.

Inzwischen hat die beharrliche Authentifizierungspolitik der Redaktion dazu geführt, dass heute nur noch sehr selten jemand versucht, eine Theaterexistenz zu kapern.

In Esther Slevogts kritischen Blog Der Onkel auf der Sänfte über Christoph Schlingensiefs Operndorf in Afrika hat sich der echte Schlingensief (#14, #18, #32) in die Debatte eingemischt und es ist eines der schönsten Dokumente, wo Kritikerinnentext und Kommentare zu etwas Drittem, Größerem führen.

Böse Schlammschlachten gibt es relativ selten.

Wer mit Dung oder Schlimmerem wirft, wird aussortiert, "aber oft", so Dirk Pilz, "sind für mich sehr erhellende Dinge dabei, Aspekte und Perspektiven, auf die ich allein nicht kommen würde. Man kann sich eben wirklich sehr schlecht allein über die Schulter schauen. Wir haben in diesen zehn Jahren irre viel über Kommentare und das Kommentieren diskutiert."

Ich habe mich in den letzten Tagen in den Debatten festgelesen.

Mag auch viel Eitelkeit und bisweilen Trollerei bei den Kommentaren dabei sein, sieht man sie sich über weite Strecken und die langen Debatten an, so ist doch eine Ernsthaftigkeit der Diskussionen und oft auch eine erstaunliche Tiefe feststellen.

"Wir wollen gar nicht mehr das letzte Wort haben über ein Kunstwerk", sagt Esther Slevogt, "unsere Kritik ist sozusagen ein Gesprächsangebot, der Auftakt eines Gesprächs über ein Kunstwerk, an dem die verschiedensten Sorten von Gruppen sich beteiligen können, Zuschauer, Künstler, andere Kritiker."

Es ist eine Stimmenvielfalt aus professioneller Nachtkritik, Kritikenrundschau und Leserkritiken und ganz besonders umstritten die Nachtkritik-Charts.

Immer mal wieder gibt es Texte, die nicht kommentiert werden und dann kommen sie einem seltsam unfertig vor.

 

Nachtkritik.de verdanken wir auch Texte aus einer völlig anderen Perspektive

– von denen einer, Rupprecht Podszuns brilliante juristische Auseinandersetzung mit dem Rechtsstreit um die Baal-Inszenierung von Frank Castorf 2015 – Bitte nix mixen! – zu Recht mit dem Michael-Althen-Preis ausgezeichnet wurde.

Es gab in den letzten zehn Jahren großartige Debatten, über "mimetisches vs. performatives Theater" am Beispiel der Münchner Kammerspiele, also was ist, wenn Schauspieler und Performer an einem Stadttheater aufeinandertreffen und die Alsob-Verabredung: "Ich bin jetzt Hamlet" nicht mehr gilt.

Debatten über das Burgtheater und um das Leipziger Centraltheater, um Rostock und Trier, die so in der Zeitung gar nicht und in den Theaterzeitschriften kaum möglich gewesen wären.

Die Auseinandersetzung, die uns allen am deutlichsten vor Augen steht, ist natürlich die über die Volksbühne.

Das Kalkül der Politiker, die diese Art des Intendantenwechsels im wahrsten Sinne des Wortes ausgekaspert haben, dass sich das Theatervolk schon bald beruhigen würde, ist nicht aufgegangen.

Die Rechnung bleibt offen.

Ein leeres, von der Polizei abgesperrtes Theater mit dem Banner Trotz Alledem auf dem Dach, das ist das Abbild eines städtischen Trauerspiels wie Thomas Aurins Foto der Castorf zuprostenden Herren Dercon und Renner anlässlich hundert Jahren Volksbühne 2014 Shakespeare als Farce war. Nachtkritik.de hat dem seit zwei Jahren mal schwelenden, mal lodernden Konflikt viel Raum gegeben und sich durchaus positioniert. Die Kämpfe fanden und finden auf allen Ebenen und Rubriken von Nachtkritik statt.

Und es ist noch nicht vorbei.

 

Groeschner 560 ThomasAurin u© Thomas Aurin

Esther Slevogt hat in einer Rede auf die Selbstermächtigung hingewiesen, die die Gründung von Nachtkritik.de war. Das ist die Freiheit, die wir alle hier und heute haben und die wir aus Furcht vor Veränderung selten nutzen.

Ins Offene, Freund oder Freundin, denn das gilt ja auch und besonders für die Geschlechterproblematik.

Statt uns als weibliche Theaterschaffende in der Opferposition einzurichten, sollten wir etwas tun.

Und das kann auch heißen, die Institutionen zu verlassen und eigene Strukturen aufzubauen.

Schon deswegen kann ich den Einfall der Performativen in das Stadttheater nur begrüßen, denn es hat Frauen jeden Alters auf die Bühne gebracht, wie vor ihm schon das moderne Tanztheater in die Welt des Balletts einfiel und die Tänzerinnen von ihren Spitzenschuhen holte.

Ich erinnere mich an meine Zeit an der Seitenbühne, mit dem Kleid in der Hand, sofort bereit, es der Darstellerin der Anna Karenina überzuwerfen und mit 25 Häkchen zu schließen und mir, ich war 18, die Frage zu stellen, warum die interessanten Frauenfiguren auf der Bühne immer sterben müssen und die älteren unterbeschäftigten Schauspielerinnen in der Kantine sitzen und schlechte Laune haben.

Georg Kasch hat in seinem auf nachtkritik.de veröffentlichten Schwarzbuch der Geschlechterungerechtigkeit auf dem Theater gefragt: "Warum hat die freie Szene überproportional viele prägende Theater-Leiterinnen? Weil man sich im Teamwork den leidigen Umweg über die Ellenbogen spart? Oder weil man so Intendant*innen umgeht, die junge Regisseurinnen auf die Experimentierbühnen verbannen? Oder weil sich in freieren Strukturen Beruf und Privatleben besser vereinen lassen?"

Darüber lässt sich natürlich trefflich streiten.

Vor kurzem hat Dirk Pilz in der Debattenreihe um die Zukunft der Stadttheater von einem noch immer patriarchalen, tendenziell chauvinistischen Klima von Abhängigkeiten und Ausbeutung geschrieben. "Es wird, so meine Vermutung", so Pilz "in den kommenden Jahren eine gehörige Welle an Empörung auf die Theater zukommen, die den Reformstress enorm steigern lassen." Die Gründung von Pro Quote Bühne ist ein Beitrag.

 

In den letzten zehn Jahren wurde die Kunst, vor allem die Bildende, mehr und mehr zur Ware von exorbitantem Wert. Wo Kunst eine Ware ist, müssen Kritiker sie testen auf ihren Wert für potentielle Käufer. Das hat Auswirkungen auf die Kritik. Sie wird selbst zur Ware, die Kritiker auf den Meinungsmarkt tragen. Das Theater, noch dazu das öffentlich finanzierte, hat eigentlich alle Möglichkeiten, unabhängig zu agieren, man kann sich das Theater nicht in die Gründerzeitwohnung hängen oder im Freihandelshafen bunkern, es ist flüchtig.

Dabei geht es "um Räume", so Dirk Pilz, "die ihrem Auftrag gemäß vor allem Freiräume sein sollen, Laboratorien, in denen mit den Mitteln der Theaterkunst sich im Spielen und Zusehen erprobt werden darf, in denen man scheitern, wo Unsinn getrieben und Unmögliches gedacht werden darf." Das Raum bietet für "die Anderen" jenseits der heutigen Akteur*innen vor und hinter der Hauptbühne.

Die Realität sieht oft anders aus, daran hat der Theatermacher Necati Öziri, veröffentlicht auf nachtkritik.de, gerade hingewiesen. "Hier, im Schauspielhaus Frankfurt inszeniert in dieser Spielzeit auf der großen Bühne keine einzige Frau, im Ensemble gibt es keine*n einzige*n schwarze*n Schauspieler*in, unter den Autor*innen nicht eine*n mit einem sogenannten türkischen 'Migrationshintergrund'. Bei einer Stadt, so divers wie Frankfurt, deren Bevölkerung zu 50 Prozent eine Migrationszuschreibung hat, lässt sich das nicht nur mit fehlendem Bewusstsein erklären. Wen möchte dieses Stadttheater eigentlich ansprechen und repräsentieren?" Und weiter: "Wenn ein Theater heute ein Ort sein will, an dem die gegenwärtige Gesellschaft reflektiert wird, dann ist es angewiesen auf diese Perspektiven. Die ganze Gesellschaft – und nicht nur "die Anderen" – ist angewiesen auf einen solchen Raum."

Auf diese Problemlage hat nachtkritik.de früh hingewiesen und der Debatte ein breites Forum gegeben.

 

Was mir fehlt bei Nachtkritik?

Eine kritische Auseinandersetzung über das Kinder- und Jugendtheater, überaus wichtig, wenn man will, dass das Theater überhaupt eine Zukunft hat. Ihr Fehlen wurde mir deutlich bewusst bei schon erwähnter Diskussion um Castorfs Emil und die Detektive. Warum nicht mal eine Junge Redaktion, die dieses Thema übernimmt, wo die erwachsenen User*innen in den Kommentarspalten doch immer so genau wissen, welche Worte, Gesten und Handlungen im Kindertheater nicht erlaubt sein sollten.

"Theater ist immer jetzt und so sind auch wir immer jetzt. Wir haben ja nicht daran gedacht, dass wir mal zehn Jahre werden" sagt Esther Slevogt. Im Netz ohne Netz und doppelten Boden. Es wäre schon schön, sich mal zu fragen, ob das Projekt nicht noch ein wenig mehr finanzielle Unterstützung bekommen sollte: Von uns User*innen.

Nach der Frage, wie beginnen, und der, wie es geht, folgt die:

Wie geht es weiter?

Ich wage mal eine Prognose. In zehn Jahren feiern wir nicht in diesem kleinen, aber feinen Raum in der Mitte der Stadt, nein, das Theater und mit ihm die Kritik an ihm ist längst an die Ränder gewandert. In zehn Jahren feiern wir in den aufgegebenen Hallen des niemals eröffneten BER (machen Sie eine Besichtigung, es sind schöne Räume, mit einheimischen Hölzern und Steinen verkleidet, aus den Ritzen des Fußbodens sprießen heute schon Wildkräuter). Also, in diesem nie zum Zwecke des Fliegens eröffneten Raum werden wir feiern.

An den Anzeigetafeln stehen die nächsten Premieren mit Stücktitel, Theater und Anfangszeit und wir können Worte in Computer geben, die uns Theaterkritiken auswerfen, bevor sie gedacht sind. Natürlich werden sie auch Namen haben, Slevogt-Techi oder Pilz-Techi, um zu betonen, dass es sich hier nicht um die echten Kritikerpersonen handelt.

Die skatspielenden Bauarbeiter an den Eingängen sind zu Einlasskräften umgeschult.

Und die Nachtkritik Charts werden nicht mehr von Algorithmen behauptet, sondern gesungen.

Ins Theater werden wir immer noch gehen.

Das wird nicht aufhören, Kunst zu machen, auch wenn es nicht mehr so weiß und so männlich sein wird.

 

1) Die Festrednerin dankt Esther Slevogt, Dirk Pilz und Christian Rakow für die Informationen.

2) Petra Kohse, Esther Slevogt, Dirk Pilz und Nikolaus Merck, Konrad von Homeyer

 

Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, ist Schriftstellerin, Journalistin und Hochschullehrerin. Nach dem Abitur arbeitete sie als Ankleiderin am Theater Magdeburg, danach studierte sie  Germanistik an der Berliner Humboldt-Universität. Von 2009 bis 2012 war sie Dozentin für literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim. Seit 2015 ist sie Gastprofessorin für Kulturjournalismus an der UdK Berlin. Seit 1992 erarbeitet sie gemeinsam mit dem Fotografen Arwed Messmer Arbeit interdisziplinäre Buch- und Ausstellungsprojekte, darunter die monumentale Dokumentation zur Berliner Mauer Inventarisierung der Macht. Für ihre Arbeit erhielt sie Stipendien und Preise, zuletzt den Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg in der Sparte Literatur 2017.

Der Text ist eine leicht überarbeitete Version der Festrede, die Annett Gröschner am 4. November 2017 beim Jubiläumsfest "10 Jahre nachtkritik.de" im Berliner Haus Ungarn gehalten hat.

www.annettgroeschner.de