Nachtkritik ohne Sofa

von Robin Detje

Berlin, 4. Mai 2007. Münchner Kammerspiele, mittlere Großpremiere. In der Pause drückt der Jungkritiker den Mund an den Hörer des an die Wand geschraubten Münzfernsprechers und versucht, ganz in der Wand zu verschwinden, damit kein Kollege ihm die ungeheuerliche Story ablauschen kann, die er schwitzend der Textaufnahme diktiert: "Blablabla, blablabla, blablabla, zur Pause verhaltener Applaus."

Tatsächlich geschieht das Wunder, und am nächsten Morgen stehen die drei Sätze Wort für Wort auf Seite Eins der großen und berühmten Tageszeitung. Kurz darauf befindet die Redaktion, das Theater habe seinen Nachrichtenwert verloren, und die Nachtkritik wird abgeschafft.

Das war vor langer Zeit. Man hatte noch nicht einmal ein Handy in der Tasche. Heute mögen die Eigner derselben großen und berühmten Tageszeitung nicht mehr recht an den Zukunftswert ihres Unternehmens glauben und suchen dringend einen Käufer. Überall Wertverlust, der irritiert und zu dem man sich verhalten muss. Eben ist die gesamte Redaktion der "New York Times" in ein neues Hochhaus umgezogen. Die Onlineredaktion war zuerst an der Reihe. Die Nachrichtenredaktion der Printausgabe folgte nach. Die Hierarchie zwischen Print und Online wurde offiziell aufgehoben. Den Altredakteuren der Printausgabe wurde verboten, aus den alten Büros ihre Sofas mit in die neue Nachrichtenproduktions- landschaft zu nehmen. Das erfuhr der Autor dieser Zeilen, früher Jungnachtkritiker, auf "Spiegel online". Wird sich der Sofaverlust als Wertverlust ausdrücken? Das Ende des Sofajournalismus ist natürlich das Ende einer Ära. Das Sofa steht einerseits für knarzigen Individualismus, andererseits war es aber auch ein schweres Ding, das bloß so rumstand und vollgepupst wurde. Nachtkritik zu Sofazeiten hatte noch etwas beinahe schwerindustriell Rumpelndes und Ratterndes.

Das Internet ist von einer unheimlichen, geradezu nichtigen Leichtigkeit. Von fast unendlicher Ausdehnung, aber ohne Masse, voll unsagbarer Reichtümer und unaussprechlichen Schrotts. Es klingt höchstens nach CPU-Lüfter: Man surft und hört ein leises, fieses Surren. Darf ein Text sein Sofa mitnehmen, wenn er ins Internet umzieht? Ich glaube nicht. Ich habe den Verdacht, ein wirklich für das Internet geschriebener Text – also für einen Ort, den es als Ort gar nicht gibt – müsste ganz anders aussehen, sich anders anfühlen, anders riechen. Ich weiß noch nicht wie, jedenfalls nicht nach Sofa. Wie verhält sich der Feuilletontext ohne Feuilleton, in den Textfluten der Blog-o-brabbel-Sphäre, im Ich-bin-auch-schon-da-Netz aus Millionen nebeneinander herschimpfenden Solipsisten? Welche neuen Ansprüche lassen sich an die Theaterkritik im Internet formulieren und bietet es Erkenntnisgewinn, wenn man versucht, ihnen zu genügen? Mit wem redet man da überhaupt? An wen richtet sich so ein Text? Welcher Ballast lässt sich abwerfen? Launige Einstiege waren zum Beispiel schon zu Sofazeiten eine besonders pupsmäßige Feuilletonkonvention der Theaterkritik. Vielleicht ist das Internet endlich der Un-Ort, an dem der launige Einstieg von den Kritiken abfällt, auf dass sie befreit einer schlaueren und genaueren Zukunft entgegenflimmern können. Oder auch – iih! – das angestrengte Wortspiel ("schlauer – genauer").

Ratlos steht der ehemalige Jungnachtkritiker am Münzfernsprecher, Ecke Internet. Immer könnte hinter der nächsten Ecke etwas ganz Neues, Unerwartetes beginnen. Überall lauert große, fies und leise surrende Hoffnung. Wer sich nicht verändern will, soll jedenfalls lieber gar nicht erst umziehen.

 

 

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