Presseschau: Theater ist eine Olive. Sie schmeckt nach Blut.

10. Mai 2007. Die Zeit des Theatertreffens ist die Zeit großformatiger Umschauen in den Zeitungen. In der Zeit (10.5.2007) holt Peter Kümmel weit aus. In einem überaus lesenswerten Beitrag nimmt er die Verluste des zeitgenössischen Theaters unter die Lupe. Und findet in der Riege der hochbegabten jüngeren SchauspielerInnen lauter "Theater-Houdinis".

Das Theater ist eine Olive. Sie schmeckt nach Blut

Realismus, Naturalismus, Psychologismus, das alles gäbe es im Theater nicht mehr, schreibt Kümmel, nur noch "deren Säfte". Genauso seien "Requisiten, Kolorit, Komparserie, Kostüme, fest umrissene Rollen" verschwunden – alles verberge sich zeichenhaft "in dem auf der nackten Bühne agierenden Spieler".

Seine noch viel ausführlichere Verlustanzeige endet bei Beckett: "Hier wirkt zweifellos Becketts Endspiel nach, das wir noch immer spielen und über das schwer hinauszukommen ist." Der Mensch, so Kümmel mit George Steiner, sei  "Gast in einer Welt, in der die Mächte der Vernunft eine finstere Herrschaft ausüben; er hat diese Mächte selbst geschaffen." 

Wie aber, fragt Kümmel, könnte man so etwas spielen? Indem man uns "den Menschen als eine Art Entfesselungskünstler" zeigt. Und in der Tat, fährt Kümmel fort, die "helle Spielkunst" feiere in den Theatern derzeit Triumphe. Statt "Selbstdarstellungsfatzkes" und "Türsteher für einen höheren Regieherren" seien dort lauter "Theater-Houdinis" zu sehen, "die sich begeistert in aussichtslose, peinsame Bühnenlagen bringen und sich glorios daraus befreien ... Es sind Führer durch eine Welt, die auf der Bühne in ihrem Spiel und unter ihrem Blick entsteht. Eine Welt entsteht, wir sind dabei."

Frühere Presseschauen:

In der Frankfurter Rundschau (7.5.2007) ist das Theatertreffen "Thema des Tages" auf Seite 2 des politischen Teils. Feuilletonchef Arno Widmann und Theaterredakteur (und Theatertreffenjuror) Peter Michalzik schreiben Contra und Pro über Stemanns Ulrike Maria Stuart-Inszenierung. (Zu unserer Kritik samt Leserkommentaren geht es hier.)

Anders als Peter Michalzik, der die Aufführung des Hamburger Thalia Theaters für "hochpolitisch und unterhaltsam bis zum Klamauk, massenkompatibel und brisant zugleich hält", schreibt Arno Widmann, dass in dieser Inszenierung alles geboten werde, was ein Schauspielspektakel leisten könne, sich daraus aber kein neuer Gedanke ableiten ließe.

"Dieses Theater ist Staatstheater. Hier wird die Droge Valium noch gekonnter verabreichtals von der Bühne des Bundestages, noch selbstverständlicher als in den Talkshows. Dass die RAF als Beruhigungsmittel funktionieren kann, ist nicht das Ergebnis kritischer Gedankenarbeit des Nicolas Stemann, sondern allein die Leistung der alles zerschreddernden Zeit." 

Peter Michalzik, der in diesem Jahr aus der Jury des Theatertreffens ausgeschieden ist und sich jetzt aufatmend, ob der stark zurückgegangenen Reiseverpflichtungen, auf seinem Redaktionsstuhl bei der Frankfurter Rundschau erholt, schreibt (28.4.2007) unter dem Titel "Keine Angst, Herr Stein":

"Wie das gesamte Theater wird auch diese Veranstaltung darunter leiden, dass einige hochverdiente Theatermacher ausdauernd so tun, als bestünde das deutsche Theater heute vor allem aus brüllenden Schauspielern, durchgeknallten Jungregisseuren und zerstörten Klassikern."

Dabei könne davon keine Rede sein. Die Aufführungen des Theatertreffens hätten viel mehr mit Stein und Zadek und Peymann zu tun, als die Beteiligten glauben. "Die Texte – Goethe, Shakespeare, Aischylos, Molière, Tschechow – werden so genau, intelligent und liebevoll in Szene gesetzt wie vor 30 Jahren. (...) Der Hauptunterschied liegt in der Rollenauffassung. Statt vor allem so zu tun, als ob sie im Dreißigjährigen Krieg spielen würden, schaffen heutige Regisseure Bühnensituationen, in denen die Schauspieler gezwungen sind, mehr sie selbst und damit realer zu sein. Nacktheit, Daueraufreger Nummer Eins, ist da kein Skandal, sondern eine bestimmte, ausgesetztere Form der Anwesenheit."

Rüdiger Schaper schreibt im Berliner Tagesspiegel (4.5.2007), dass im Theater in den letzten 75 Jahren, seit Artaud sein Manifest vom "Theater der Grausamkeit" in die Welt schleuderte, so viele Visionen, wild- und bildschöne Theorien verwirklicht worden seien, dass ein "großes, manchmal heilloses Durcheinander" entstanden sei. Allerdings: mit deutlicher Tendenz zur Rückbesinnung: "Der Text sei wieder da, heißt es seit einigen Jahren, das Regietheater hat sich nicht überlebt, aber doch relativiert. All diese einst so fürchterlich wichtigen Theaterdebatten gehören vorerst der Vergangenheit an. Das gilt weitgehend auch fürs Kulturpolitische. Von bedrohlichen Etatkürzungen, Schließungsplänen gar hat man länger nichts gehört" (außer in Eisenach, außer in Rudolstadt, außer in Weimar, außer in Rostock, außer in ... -jnm-).

Und die Theatermacher selber? "Setzen auf Nummer sicher." "Heute ist das Theater ideologisch unbelastet, es hat sich freigemacht vom Zwang zum Experiment, es will wirklich nur spielen und beißt selten noch." – "Heilsversprechen" und der ideologiekritische Anspruch seien weitgehend passé. Daher rühre das "profunde Unbehagen an der Theaterbetriebskultur". Immerhin, auch wenn das Theater aus dem "Zentrum des kulturellen Geschehens" weggerutscht sei, anders als die Oper lasse es sich kommerziell nicht verwerten. Das sei seine archaische Stärke.

In der taz (5.5.2007) denkt Simone Kaempf über das Geschichtsbild des Theaters nach. Historische Kostüme führen einen nicht in die Vergangenheit zurück und wenn der dritte Richard Business-Anzug trägt ist er noch lange keiner von uns. Distanz sei deshalb das Gebot und die Einsicht der Stunde. So hole etwa Nicolas Stemann in Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart nicht "die RAF-Geschichte auf die Bühne, sondern ihre Rezeption." Die Kritikerin erkennt in Stemanns Inszenierung sein generationskritisches Diktum wieder. Es fiele heute leicht sich über die RAF lustig zu machen. "Aber genauso", wird der Regisseur selbst zitiert, "wird man sich vielleicht in 30 Jahren über uns lustig machen, über unsere Bequemlichkeit, über unsere politische Apathie."

Heute dagegen, schreibt Simone Kaempf, sterbe man "nicht mehr an seinen Überzeugungen, sondern weil man keine hat." Wie Hugo, Sartres Möchte-gern-Mörder in Die schmutzigen Hände. In der Darstellung von Hans Löw werde Hugo gerade wegen seiner Handlungsschwäche und Verunsicherung zur "interessanten Zeitfigur". Wo Hugo wegen seiner Unentschiedenheit "zum Spielball eines wendigen Politapparates" werde, säßen wir, die wir von Politik nichts mehr erwarten, doch imme rnoch der falschen Hoffnung auf, in der Politik stecke eine "vernunftstiftende wie demokratische Kraft".  

Neu-Theatertreffen-Jurorin Eva Behrendt stellt in der Welt (5.5.2007) den diesjährigen Doppelnominierten Jan Bosse vor. Als: "Der junge Mann der Mitte. Ein gewitzter, reflektierter Beobachter, weder brav noch wild. Ganz ähnlich wie die Ästhetik seiner Inszenierungen, die sich ernsthaft auf Texte einlassen und sich dennoch anarchische Spielfreude herausnehmen, die meist einen überraschenden Gedanken entwickeln und freundlich boshaften Humor."

Kommentare  
Früher gabs die Eingeweide ins Gesicht
Publikum schonen.
Das erzählt sich so nicht. Das Zitat. Früher hat man die Eingeweide noch direkt ins Gesicht bekommen, wenn man nicht rechtzeitig in Deckung ging. Und die Schauspieler hatten auch noch was zu verhandeln auf der Bühne. Ob das gut war, wer weiß. Heute werden die Leute in den ersten Reihen vorsichtshalber mit Folien abgedeckt. Aber das ist nicht verständlich, denn auf der Bühne passiert nichts Wesentliches, es wird rumgesaut, also auch nur zitiert, da ja keiner zu Schaden kommt, die 68er haben das auch nicht gemacht, das kam erst später...ich versteh das nicht. Damit tut man der Jelinek keinen gefallen. Auch eine Inszenierung über die man nicht weiter nachdenken muss. Leider.
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