Avantgarde der Theaterkritik

von Monika Grütters

4. November 2017. Es kommt nicht alle Tage vor, dass "Herren im Bad" deutsche Kulturgeschichte schreiben: Unstrittig gelungen ist dies vermutlich einzig Herrn Müller-Lüdenscheidt und Herrn Dr. Klöbner, die Loriot in einer Hotelbadewanne aufeinandertreffen ließ, wo sie sich als "durchaus in der Lage" erwiesen, "auch mal ein Wannenbad ohne Wasser zu nehmen" – und sich mit Sätzen wie "Die Ente bleibt draußen" im kulturellen Gedächtnis der Nation zu verewigen. Weniger bekannt, doch nicht minder kulturprägend, lieber Nikolaus Merck, ist der große Badezimmermoment Ihres Lebens: Die bestechende Idee, Theaterkritiken über Nacht zu schreiben und im Internet zu veröffentlichen, soll Sie ja der Legende nach im Sommer 2006 unter der Dusche heimgesucht haben – ebenso überfallartig wie Herr Dr. Klöbner einst Herrn Müller-Lüdenscheidt. Doch während bis heute ungeklärt ist, ob – wer in einer "Fremdwanne" sitzt – eine "Ente zu Wasser lassen darf", haben Sie das unter fließendem Wasser ersonnene nachtkritik-Versprechen "Sie schlafen, wir schreiben" ohne Zweifel eingelöst, was dem Ruf des Badezimmers als Ort der Ideen wie auch dem Ruf des Theaters als Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung gleichermaßen gutgetan hat.

Resonanzraum im Internet

Dem fünfköpfigen Gründungsteam, meine Damen und Herren, bestehend aus Nikolaus Merck, Esther Slevogt, Petra Kohse, Dirk Pilz und Konrad von Homeyer ... diesem fünfköpfigen Gründungsteam, den aktuell zehn Redakteurinnen und Redakteuren und den mittlerweile mehr als 60 nachtkritik-Autorinnen und Autoren verdankt der Theaterliebhaber zunächst einmal den Luxus, morgens schon bei der ersten Tasse Kaffee zu erfahren, was man am Vorabend etwa im Berliner Maxim Gorki Theater, auf Kampnagel in Hamburg, im Basler Schauspielhaus, im Theater Chemnitz oder im Stadttheater Aalen verpasst hat – oder auch nicht. Der geneigte Leser ist auf nachtkritik.de darüber hinaus aber auch zur Kommentierung eingeladen: Er darf den Kritikerinnen und Kritikern, die sich regelmäßig die Nacht um die Ohren schlagen, um selbige auch ihre Elogen oder Verrisse hauen. Diese nicht gerade feinsinnige Formulierung ist insofern angebracht, meine Damen und Herren, als es in der prominent platzierten Kommentarspalte seit jeher deutlich heftiger und deftiger zur Sache geht als zwischen Loriots kultiviert streitenden "Herren im Bad". Auf das Privileg des letzten Wortes müssen die "Nachtkritikerinnen" und "Nachtkritiker" dabei verzichten. Dafür dürfen sie sich mit Fug und Recht als Avantgarde der Theaterkritik bezeichnen, und das nicht nur, weil sie damit morgens als erste am Start sind. Ihr Verdienst ist es, im Internet jenen Resonanzraum für das deutschsprachige Theater geschaffen zu haben, der im Zeitungsfeuilleton keinen Platz hat, dem allgegenwärtigen Spardruck wie auch dem Selbstverständnis grauer Kritikereminenzen geschuldet, deren Urteile dem Leser im analogen Zeitalter als letztinstanzlich präsentiert wurden – ganz nach dem Loriot'schen, Herrn Müller-Lüdenscheidt in den Mund gelegten Motto: "Ich (...) bin Ihnen in meiner Badewanne keine Rechenschaft schuldig."

Gruetters 560 ThomasAurin uKulturstaatsministerin Monika Grütters am 4. November 2017 beim nachtkritik.de-Jubiläumsfest im Haus Ungarn Berlin © Thomas Aurin

Mit der Entscheidung, "die Einbahnstraße der Kritik für den Gegenverkehr zu öffnen", wie es die Gründer einst so treffend formulierten, haben die "Nachtkritiker" sich vielleicht nicht gerade um das Wohlbefinden der Kritikerzunft, dafür aber umso mehr um das Wohl der deutschen Theaterlandschaft verdient gemacht. Als Unruhestifter im besten Sinne, als Orte demokratischer Öffentlichkeit, an denen eine Gesellschaft ihre Konflikte verhandelt, als Orte gesellschaftlicher Selbstverständigung haben Theater ja nur eine Zukunft, wenn sie ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben. Das habe ich nicht zuletzt auf meinen Theaterreisen zu kleinen Bühnen nach Westdeutschland und Ostdeutschland erlebt, die Nikolaus Merck, Wolfgang Behrens und Hartmut Krug dankenswerterweise begleitet haben. Und das ist ja auch der Grund, warum ich den Theaterpreis des Bundes ins Leben gerufen habe, der gerade den kleineren Bühnen zu mehr Sichtbarkeit und öffentlicher Aufmerksamkeit verhelfen soll. Ich bin sehr dankbar, dass die nachtkritik-Redaktion mit Anne Peter und nachfolgend Georg Kasch in der Jury vertreten war und wir von ihrer Expertise profitieren konnten.

Demokratische Streit- und Debattenkultur

Die vielen Theater, die im deutschsprachigen Raum auch abseits der Metropolen auf hohem künstlerischen Niveau zur flächendeckenden kulturellen Grundversorgung beitragen, erreichen mit ihren Inszenierungen auf nachtkritik.de nicht nur Aufmerksamkeit über den Zuschauerraum hinaus, sondern auch die Resonanz, die ihren Wert jenseits ökonomischer Nutzenerwägungen offenbart. Mag das Niveau so mancher anonymer Kommentare dabei gelegentlich auch Zweifel an der geistigen Zurechnungsfähigkeit des Verfassers aufkommen lassen – nachtkritik ist Kritik im besten aufklärerischen Sinne: als Einladung und Ermutigung, sich (frei nach Immanuel Kant) in der Auseinandersetzung mit den Themen, die Theater auf die Bühne holen, des eigenen Verstandes zu bedienen; aber auch als Anspruch, die demokratische Streit- und Debattenkultur hoch zu halten, erst recht, wenn einzelne diese Kultur mit Füßen treten, so wie wir das ja, nebenbei bemerkt, leider auch in der politischen Auseinandersetzung erleben. Lassen Sie sich, lassen wir uns diesen hohen Anspruch nicht von Hass und Hetze kaputt machen. Er ist es wert, gelebt und verteidigt zu werden! In diesem Sinne, liebe Redakteurinnen und Redakteure, liebe Autorinnen und Autoren, ein herzliches Dankeschön für 10 Jahre Nachtkritik, für unzählige Nachtschichten, für Reisen an abgelegene Bühnen, für Einladungen zum Streit und Widerspruch, fürs Aushalten der Zumutungen, die damit verbunden sind – kurz: Ein herzliches Dankeschön für Ihre großartige Arbeit an vorderster Debattenfront!

 

Diese Rede hielt Staatsministerin Monika Grütters am 4. November 2017 beim Jubiläumsfest "10 Jahre nachtkritik.de" im Berliner Haus Ungarn.

 

Prof. Monika Grütters ist seit 2013 Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Seit 2005 gehört sie dem Deutschen Bundestag an. Darüber hinaus ist sie seit 2016 Landesvorsitzende der CDU Berlin und Präsidiumsmitglied der CDU Deutschlands.

www.monika-gruetters.de

 

Hier geht es zur Festrede von Annett-Gröscher, die ebenfalls gehalten auf dem Jubiläumsfest von nachtkritik.de.

Kommentare  
Grütters' Nachtkritik-Rede: staatsministerielle Prägung
"Flächendeckende kulturelle Grundversorgung": Hätte ich die Jubiläumsfeier nicht verpaßt, hätte ich da gesessen (das Stehen fällt mir inzwischen schwer), als diese staatsministerielle Prägung erklang - ich hätte gehen müssen (so schwer mir auch das Gehen inzwischen fällt). Wenn wir nicht begreifen, daß solche Formulierungen uns das Grab graben, sind wir schon tot.
Grütters' Nachtkritik-Rede: elegant ironisch
Lieber Frank-Patrick Steckel, seien Sie nicht traurig, bitte - genießen Sie Ihr zunehmendes körperliches Unvermögen - Sie können sich doch in Fragen des kulturpolitischen korrekten Denkens wunderbar darauf verlassen - immerhin haben Sie den Anlass vergessen!

Frau Grütters hat jedenfalls gezeigt, dass sie bei ihrem Reden vor Menschen, die sie wirklich mag, problemlos elegant ironisch und sogar selbstironisch agieren kann und ehe Sie sich erheben gekonnt hätten in Ihrer Entrüstung - wäre sie auch schon fertig gewesen mit Reden! Denken Sie mal, wir hätten uns treffen können, nebeneinander sitzen und über die Theaterwelt herumekeln können, dass es eine Freude gewesen wäre! - aber Sie waren nicht da, und da bin ich dann auch zeitiger gegangen als ich eigentlich wollte...
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