Dürre Arme, große Liebe

von Falk Schreiber

Hamburg, 11. November 2017. Rockstargesten sind schwierig. Zumal wenn das lange Haar schütter ist, die Ärmchen dünn sind und unter der Kassenbrille ein unsicheres Lächeln entschuldigt: Mir ist es ja auch peinlich, wie ich den Gitarrenhals phallisch in die Höhe recke. Einerseits. Andererseits haben wir Postmoderne, und in der Postmoderne kann man auch die phallische Gitarre halbironisch umdeuten. Also lässt Clemens Sienknecht einen zurückhaltenden Rhythmus in die Loopbox klimpern, spielt eine sanfte Melodie drüber, weite Keyboardflächen und schließlich ein paar elektronische Beats, voilà: reizender Yachtrock. "Lisztomania" von Phoenix, spillerige Ironiker, die die Machoposen indigniert weglächeln, während man sich fragt, ob sie nicht im Grunde ihres Herzens doch ein Faible haben fürs cheesy Gitarrensolo.

Die größten Hits der Siebziger, Achtziger und was heute niemand mehr hören mag

Der Zugang, den die französische Indieband Phoenix zur Rockmusik hat, ähnelt dem Zugang, den Sienknecht und Barbara Bürk zur Weltliteratur haben – ironisch, reflektiert, aber gleichzeitig geprägt von kaum verhohlener Zuneigung. Entsprechend ist der Einstieg mit "Lisztomania" in die "Anna Karenina"-Bearbeitung im Malersaal des Hamburger Schauspielhaus stimmig, weil sie von vornherein klarstellt, wie Lew Tolstois Roman hier gelesen wird: vorlagentreu, aber mit doppeltem Boden. Das Setting ist (wie schon beim überaus erfolgreichen, 2016 zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Vorvorgänger "Effi Briest" ) ein Radiostudio, in dem der Roman als Live-Hörspiel performt wird. Was Bürk und Sienknecht einerseits Gelegenheit gibt, schnell vorzuspulen, wenn Tolstois Text anfängt, ins Längliche zu mäandern, andererseits immer wieder Anlass bietet für musikalische Einlagen mit den größten Hits der Siebziger, Achtziger und all dem, was heute wirklich niemand mehr hören mag, Eurythmics, Bangles, Steve Miller Band, you name it. Und zwischendurch hanebüchene Kurznachrichten, Verkehrshinweise, Werbespots. „Zwiebeln, Gurken, Sellerie, gehackt so schnell wie nie: Zorro, der Küchenhelfer!“ Meine Güte!

AnnaKarenina2 560 Matthias Horn uMit Kassenbrille: Clemens Sienknecht altrockt Tolstoi © Matthias Horn

"Anna Karenina" ist der dritte Teil einer Serie zu berühmten Seitensprüngen der Weltliteratur: Nach "Effi Briest" in Hamburg spielten Bürk und Sienknecht "Madame Bovary" in Hannover "allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie" nach, im ähnlichen Setting (die Ausstattung in Hamburg stammt jeweils von Anke Grot, während in Hannover Duri Bischoff für die Bühne verantwortlich war) und ähnlicher Herangehensweise. Komödiantisch, detailverliebt, nicht zuletzt mit großer Ehrfurcht vor dem behandelten Stoff: Man sollte sich vom Untertitel "mit anderem Text und auch anderer Melodie" nicht täuschen lassen, im Grunde wird hier Tolstois Roman ziemlich eins zu eins nacherzählt. Allerdings ist es auch so, dass "Anna Karenina" das zweite Aufwärmen eines schmackhaften Rezepts ist. Wer weiß, vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn stimmt, was in der Abmoderation versprochen wurde: dass die Seitensprung-Serie hiermit beendet sei und sich das Team demnächst mit den "Nibelungen" beschäftigen wolle.

Schluffis, Hänger, traurige Hipster

Freilich ist "Anna Karenina" gerade an der Elbe nicht irgendein Stück. Vor nicht einmal einem halben Jahr nämlich choreografierte John Neumeier ein Ballett zu Tolstois Roman in der Hamburgischen Staatsoper, voll heiligem Ernst gegenüber der Vorlage, als Feier des begehrenswerten Körpers. Angesichts des Erfolgs dieses Balletts muss man die Version von Bürk und Sienknecht als Kommentar sehen, als Spiel mit Körperbildern, die der Perfektion von Neumeiers Choreografie diametral entgegenstehen. Die Körper im Schauspielhaus-Malersaal sind nämlich durch die Bank Schluffis, Hänger, traurige Hipster: Yorck Dippes Graf Wronskij ist ein grotesker Altrocker, der jeglichen Liebreiz unter seiner riesigen Perücke versenkt hat, und trotzdem fliegen praktisch alle Beteiligten auf ihn, sei es Ute Hannigs rockröhrenhafte Karenina, sei es Michael Wittenborns trutschige Dolly. Bürk und Sienknecht machen sich so nicht über Neumeiers Textzugang lustig, aber sie stellen ihm eine Alternative gegenüber (und weil sie das mit Humor machen, kann man "Anna Karenina" vielleicht doch als kleine Bösartigkeit missverstehen).

AnnaKarenina1 560 Matthias Horn uMit Schlagern in den Seitensprung: Ute Hanig als Anna Karenina © Matthias Horn

Wichtiger noch als Humor ist allerdings die Musik. Tatsächlich denunziert der Abend an keiner Stelle die angespielten Schlager. Was in einem Medley deutlich wird, das inhaltlich das Gezeigte vielleicht ein bisschen zu sehr doppelt, gleichzeitig aber klarstellt, wie genau hier am Soundtrack gearbeitet wurde: Grandmaster Flash, Pink Floyd, Michael Jackson, all das fließt hier zusammen in eine hochironische, postmoderne Liebeserklärung. Und das ist dieser Abend am Ende: eine Liebeserklärung. Ein Seitensprung ist in erster Linie Liebe.

Kein Witz ist noch lustig, wenn man ihn zum zweiten Mal erzählt, heißt es. Mit "Anna Karenina" erzählen Bürk und Sienknecht ihren Seitensprung-Witz nun schon zum dritten Mal, was freilich beweist, dass die Regel so nicht stimmt. Es kommt nämlich überhaupt nicht auf den Witz an, es kommt vor allem darauf an, wie er erzählt wird. Das ist Theater, und wenn man so will, kann man die hier gespielte Serie gerade in ihrer Fixierung auf Prosatexte als Nachdenken über die Kunstform Theater sehen.

 

Anna Karenina – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie
von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk
nach Lew Tolstoi
Regie: Barbara Bürk, Clemens Sienknecht, Bühne und Kostüme: Anke Grot, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit: Yorck Dippe, Ute Hannig, Markus John, Jan-Peter Kampwirth, Friedrich Paravicini, Clemens Sienknecht, Michael Wittenborn.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

 
Kritikenrundschau

"Als ebenso hinreißende, exaltierte, hochironische, musikalisch präzise und zugleich enorm lässige Retro-'Radioshow' wie die" Vorgängerarbeit "Effi Briest" feiert Maike Schiller die Inszenierung im Hamburger Abendblatt (13.11.2017). Ausstatterin Anke Grot nehme "Tolstoi mit auf eine Bad-Taste-Party", die Textfassung sei "klug eingedampft" und "Wortspiele und Kalauer werden von der Regie in reichhaltigen Portionen ausgeteilt".

Die Figuren Tolstois erschienen auf der Bühne "hauptsächlich als Parodien ihrer selbst", berichtet Katharina Manzke in der Welt (13.11.2017). Das Stück sei viel mehr als ein untypischer Liederabend: "Nämlich eine witzige, kluge Collage aus einer Vielzahl von Verweisen auf die Literatur- und Musikgeschichte, durch die ein ehrwürdiger Klassiker ganz neu erscheint. Fortsetzung geglückt!"

"'Anna Karenina' in dieser virtuosen musikalischen Fassung: ein Paukenschlag", befindet Peter Helling im Hamburg Journals des NDR (12.11.2017): "Die Stadt der Elbphilharmonie ist um eine Attraktion reicher". in dieser "hinreißend doppelbödigen Radioshow-Version" vereinten Bürk und Sienknecht "leichtfüßig Klamauk mit literarischem Niveau", so Helling in der Radiokritik. In seinem Online-Text, nachgereicht am folgendenTag, bewundert er die "wohl entsetzlichste Frisurenansammlung in der jüngeren Geschichte des Schauspielhauses". Doch trotz Tom-Selleck-Schnurrbärten gelinge das Unmögliche: "Der große Roman beginnt zu atmen wie ein Hefeteig bei offener Ofentür."

Barbara Bürk und Clemens Sienknecht sei eine feinsinnige Übertragung des Romanstoffs gelungen, schreibt Katrin Ullmann in der taz (15.11.2017). "Ein performatives Live-Hörspiel: unterhaltsam, empathisch, tragisch und vor allem hochmusikalisch." Auf höchstem schauspielerischen Niveau erzähle der Abend von Schnepfenjagd, Pferderennen und verlorenen Lieben. "Atmosphärisch verortet im musikgetriebenen Walkman-Jahrzehnt. Klug, vielschichtig und herrlich unaufgeregt."

 

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