Nachdenken über Christa T. / Störfall - In Schwerin mixt Patrick Wengenroth einen Christa-Wolf-Cocktail
Im Nebel von Tschernobyl
von Frank Schlößer
Schwerin, 11. November 2017. In meinem Regal stehen "Kindheitsmuster", "Kein Ort. Nirgends.", "Kassandra". Durch keines dieser Bücher bin ich durchgekommen. Aber ich kenne Leute, die Christa Wolf gern und mit Gewinn gelesen haben. Das ist Arbeit. Kaum ein Gedanke landet unreflektiert im Text. Immer existenziell. Wenig bis gar kein Humor. Wenn ich Christa Wolf denke, dann sehe ich sie am 4. November 1989 auf dem Alex stehen, auf einem "W50", auf dieser grob gezimmerten Rednertribüne. Diese zehn Minuten haben mich erreicht.
Ungeheuer oben
Jetzt also Christa Wolf im E-Werk, der Experiment-Bühne des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, das seine Profilierung mit Ost-Sujets fortsetzt. "Nachdenken über Christa T." stammt aus dem Jahre 1968 und ist eine Reflexion über das eigene Leben und das Leben einer früh verstorbenen Freundin. "Störfall" beschreibt einen Tag im April 1986, an dem sich ihr Bruder einer Gehirnoperation unterziehen muss, die Nachrichten über die Tschernobyl-Katastrophe aus dem Radio tropfen und der Hausfrauen-Alltag der Schriftstellerin sich dennoch nicht unterbrechen lässt. Außerdem fließen Passagen aus weiteren Wolf-Texten ein.
Regisseur Patrick Wengenroth nimmt sich zwei Stunden ohne Pause, zwei Männer und vier Frauen. Dazu den Musiker Matze Kloppe, der von der Seitenbühne Musik zuliefert. Die Bühne ist eine Spielfläche vor einer Publikumstribüne, konventionell und hart ausgeleuchtet. Drei sehr grüne Beete oder Gräber, dazu ein Klettergerüst und ein Haus mit großen Fenstern, statt eines Dachgiebels geht eine FDJ-Sonne auf. Bunte Windspiele verbreiten kindlichen Optimismus, Plastik-Raben verkünden drohendes Unheil, eine Nebelmaschine liefert wahlweise diese radioaktive Wolke von Tschernobyl oder jene, die sich seinerzeit "ungeheuer oben" über Brecht und "Marie A." auflöste. In hellem Braun und dunklem Weiß stilisieren die Kostüme die stoffsparenden Schnitte und die Un-Farben der DDR-Mode.
Uffjesachte Texte
Da hinein Texte, die nie für's Theater gedacht waren, gleichmäßig aufgeteilt auf die sechs Schauspieler, es gibt weder Charaktere noch eine Haupt- oder eine Nebenrolle. Das entspricht den Texten von Christa Wolf, denn sie erzählt keine Geschichten, Fabeln oder gar Storys. Sie mischt Gesellschaftliches und Persönliches, Banales und Philosophisches, Alltägliches und Politisches. Christa Wolf denkt öffentlich nach.
Manchmal lässt sich ihr reflektierender Monolog auflösen in Dialoge, dann wird es auf der Bühne spannend. Manchmal unterbricht Deutschpop den Redeschwall, dann kann das Publikum mal Atem holen. Aber meistens erinnert sich jemand an irgendwas von früher und die anderen sitzen still irgendwo rum und tun so, als ob sie zuhören. Über lange Strecken hat Patrick Wengenroth es zugelassen, dass Texte "uffjesacht" werden, dabei wäre ihre Übersetzung für die Bühne seine – zugegeben schwere – Aufgabe gewesen. Jedenfalls dann, wenn man meint, dass man Christa Wolf auch einem Publikum nahebringen könnte, das die Bücher nicht kennt. Das hohe Tempo ist der Nachdenklichkeit dieser Sätze kaum angemessen, den Wechseln zwischen den verschiedenen Christa-Wolf-Büchern ist kaum zu folgen, die Stimmungsfarben der Texte verschmelzen schließlich zu einem "irgendwie bunt". Das wird ermüdend, das Wesentliche rauscht am Zuschauer vorbei. Nur wenn die Schauspieler versuchen, mit Humor den schweren Text gegen den Strich zu bürsten, blitzen im Publikum Reaktionen auf.
Der Programm-Flyer nennt das Projekt vorsichtig den "Versuch einer Annäherung an die Gedankenwelt einer der bedeutendsten deutschen Autorinnen". Dabei bleibt es auch. Aber für die Christa-Wolf-Leser mag dieser Abend ein Gewinn, eine wertvolle Erinnerung sein.
Nachdenken über Christa T. / Störfall
von Christa Wolf
Regie: Patrick Wengenroth, Ausstattung: Mascha Mazur, Dramaturgie: Nina Steinhilber, Musik: Matze Kloppe.
Mit: Andreas Anke, Hannah Ehrlichmann, Robert Höller, Julia Keimling, Jennifer Sabel und Antje Trautmann.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.mecklenburgisches-staatstheater.de
In einem "Raum der Assoziationen nähert sich Wengenroth dem sensiblen, zuweilen elegischen Gedankenstrom der Erzählerin konzentriert und ohne Substanzverlust spielerisch mit Momentaufnahmen", berichtet Manfred Zelt in der Schweriner Volkszeitung (online 12.11.2017). Der Regisseur seine Akteure "Identität wie Tonfälle abrupt wechseln. In sachlichen und emotionalen Augenblicken, mit Schmerz, mit Lebenslust.“ Dieser "Rückblick auf Wolfs Literatur ist keine Nostalgie, er ist ein aktueller Impuls."
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