Misstraut dem Zeitgeist!

von Claudia Wahjudi

Berlin, 13. November 2017. Fast alles im 3. Berliner Herbstsalon des Gorki ist anders als in anderen Großschauen Bildender Kunst. Das fängt beim freien Eintritt an und endet beim Wetter: Zur Eröffnung am Nachmittag des 11. Novembers zeigt das Thermometer fünf Grad Celsius. Die Berlin Biennale dagegen eröffnet im Juni, wenn Touristen kommen und das Fachpublikum aus Übersee nach Europa zur Baseler Kunstmesse fliegt. Doch was der Kunstbetrieb tut und lässt, ist am Gorki weitgehend egal, obwohl der 3. Berliner Herbstsalon durchaus Biennalen-Stärke hat: mit Arbeiten von rund 100 Künstlern und Künstlergruppen, davon rund 30 Neuproduktionen. Mit voller Absicht findet er im Spätherbst statt, nach den Gedenkfeiern für die Opfer der Novemberpogrome und dem Jubiläum des Mauerfalls.

ManafHalbouniMonument 560 Gorki uAushängeschild des Herbssalons: "Monument" von Manaf Halbouni vorm Brandenburger Tor
© Lutz Knospe

Im Herbstsalon gibt es keinen Katalog, keine Courtesy- und Leihgebervermerke, sein diesmaliger Titel ist ein Imperativ, und das noch nicht mal auf Englisch: "Desintegriert Euch!". All das signalisiert, dass dieses Theater nicht im Kunstbetrieb reüssieren will. Stattdessen findet Kunst statt, an einem Theater, in den historischen Gebäuden nebenan und auf der Straße. Selbstverständlich aber erinnert der Salon trotzdem an die Berlin Biennale – so, wie sie früher einmal war: international, aber eng mit der Stadt verwoben. Und Biennale-Stärke hat der Salon nicht zuletzt, so formulierte es ein Fachbesucher an der Garderobe des Gorki, dank seiner "Tiptop-Künstlerliste".

Unter dem Radar des Kunstbetriebs

So ist der Documenta-Künstler Alfredo Jaar erneut dabei. Tobias Zielony, Teilnehmer des Deutschen Pavillons auf der Venedig-Biennale 2015, zeigt überraschend kleinformatige Fotos. Santiago Sierra lässt einen Soundteppich aus europäischen Nationalhymnen durch das Kronprinzenpalais schallen. Danica Daci ist mit ihrer Klasse von der Bauhaus-Universität Weimar gekommen, ebenso Ulf Aminde mit der Vorbereitungsklasse für Geflüchtete der Kunsthochschule Weißensee. Norbert Bisky, Luchezar Boyadjiev, Chto Delat?, Nina Fischer/ Maroan el Sani, Natascha Sadr Haghighian, Sven Johne, Grada Kilomba, Henrike Naumann, Teresa Margolles, Oliver Ressler, Julian Röder, Hale Tenger, Nasan Tur, Wermke/ Leinkauf: Die "Tiptop-Künstlerliste" liest sich wie ein Weihnachtswunschzettel.

HaleTengerTheschoolofsikimdenasagikasimpasa 560 LutzKnospe uHale Tenger: "The School of Sikimden aşağı Kasımpaşa" © Lutz Knospe

Trotzdem kommen zur Pressekonferenz gerade mal drei Handvoll Journalisten. Lediglich am Brandenburger Tor warten die Kamerateams. Auf Manaf Halbouni. Der sächsische Künstler wiederholt auf dem Platz des 18. März sein "Monument", das Anfang 2017 in Dresden für Streit sorgte: Drei hochkant aufgestellte alte Linienbusse sollen an jene Straßenbarrikaden erinnern, hinten denen Zivilisten 2015 in Aleppo Schutz vor Geschossen suchten. Und dann kommen auch noch zur Eröffnung ganz wenige Kuratoren, Galeristen und Sammler. Ein Fest wird sie dennoch oder gerade deswegen: mit Lara Schnitgers feministischem Kostümumzug namens "Suffragette City", der in Polizeibegleitung im Schein von Blaulicht vom Brandenburger Tor über die Linden zum Gorki zieht. Dort herrscht bereits Gedränge in Foyer und Treppenhaus – was die Ausstellung absolut verdient hat.

Ein Brief an Putin

Die Beiträge verteilen sich über Gorki, das Palais am Festungsgraben nebenan und das Kronprinzenpalais auf der anderen Straßenseite. Fast jede Arbeit hat ausreichend Platz und steht doch nah genug bei anderen, um sie zu ergänzen. So hat Tobias Zielony seine kleinen Abzüge direkt auf der Holzvertäfelung eines Saals im Kronprinzenpalais angebracht. Plötzlich wirken die Aufnahmen aus seiner berühmten Serie mit Porträts von Jugendlichen (meist in Stadtrandvierteln) wie private Schnappschüsse. Gleich daneben bleibt es halb privat: mit Henrike Naumanns nahezu raumfüllender Arbeit über "Reichsbürger". Naumann, in Zwickau, der Herkunftsstadt der NSU-Mitglieder, geboren, recherchiert in digitalen Kanälen zu Alltag und Gedankengut rechtsradikaler Kreise. Was sie dort sieht und liest, interpretiert sie in großen Installationen, die mit Möbel, Wandschmuck und Nippes eingerichtet sind wie die Wohnumgebungen, die sich in den Postings erkennen lassen – also auch die Ästhetik der rechten Aktivist*innen/Trolle untersuchen.

Ein Stockwerk darüber präsentiert passend dazu das Kollektiv "Tribunal 'NSU-Komplex auflösen'" seine Anklageschrift zu Rassismus in Deutschland, zusammen mit einer Recherche zum NSU-Mord an Halit Yozgat von Forensic Architecture (die auch schon auf der diesjährigen Documenta zu sehen war). Sven Johne wiederum lässt seinen Kurzfilm "Lieber Wladimir Putin" laufen. Der Schauspieler Gottfried Richter spielt darin einen sächsischen Rentner, der bei der Körperpflege laut über einen Brief an den russischen Präsidenten nachdenkt. Dem will er schreiben, weil er sich von der EU nichts mehr erhofft.

HenrikeNaumannDasReich 560 LutzKnospe uHenrike Naumann: "Das Reich" © Lutz Knospe

Im Palais am Festungsgraben dagegen geht es um Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, um Widerstand gegen direkte und indirekte Gewalt im Privaten wie Öffentlichen, mit Beiträgen etwa von Nasan Tur, Mehtap Baydu, Wermke/ Leinkauf und Fiete Stolte. Ausgewählte Arbeiten haben einen Ehrenplatz erhalten, allen voran Hale Tengers Skulptur "The School of Sikimden aşağı Kasımpaşa" von 1990 ("Die Schule des Ist-mir-scheißegal"). Zwischen den vergoldeten Spiegeln und Wandmalereien des Festsaals wirken die Schwerter, die an dünnen Fäden über einem Becken mit rot gefärbtem Wasser hängen, beklemmend bedrohlich – ein elegant finsterer Kommentar auf die Geschichte der Militärgewalt in der Türkei.

Die politischen Grenzen sind die schlimmeren

So ergibt der großzügige Parcours einen Essay über segregierte Gesellschaften in Krisen oder gar Kriegen, der unaufdringlich für Menschenrechte argumentiert. Was von der Erfahrung des Kuratorenteams um Shermin Langhoff zeugt, Aljoscha Begrich, Çağla İlk, Erden Kosova, Tunçay Kulaoğlu und Elena Sinanina. Ohne ablenkende Kunstinterna können sich Besucher auf Inhalte und Formen konzentrieren. "Befreiend" wirke das, sagen die Künstler Nina Fischer und Maroan el Sani. Am Theater zähle weniger der theoretische Überbau, sagt Nasan Tur, sondern mehr das Ergebnis. Es gehe ums Machen. Henrike Naumann schätzt die Theatererfahrung mit Raum und Bewegung: Die Mitarbeiter hätten Sinn für Dramaturgie und berücksichtigten den Besucher von Anfang an als Teil eines performativen Prozesses. Zudem gebe es an Bühnen, und da lacht sie, "für jede Schraube einen Ansprechpartner".

BanuCennetogluTheList 560 LutzKnospe uBanu Cennetoğlu: "The List" © Lutz Knospe

Was nicht bedeutet, dass Theater generell die besseren Ausstellungsorte sind. Am Gorki gewinnt die Kunst deshalb, weil die Kuratoren sie Bildende Kunst sein lassen, ihr aber eine Pause von den Zwängen des Kunstfelds lassen. Das ist etwas ganz anderes als bei den Berliner Festspielen, wo Theaterexperten unter dem Schlagwort "Immersion" aufgefordert waren, Installationen zu bauen. Auch anders als an der Volksbühne, wo nun mit Tino Sehgal ein Tänzer, der der Bühne den Rücken kehrte, um in die Kunst abzuwandern, seine "Situationen" an einer Bühne aufführt, die von einem ehemaligen Museumsdirektor geleitet wird. Geht's noch vertrackter?

Am Gorki muss niemand einen Spagat über Spartengrenzen machen. Die Klüfte zwischen politischen und sozialen Milieus, die realen Grenzen der Geopolitik, die seit 1993 allein vor der EU laut Banu Cennetoğlus Plakaten 33.293 registrierte Todesopfer gefordert haben, sind Herausforderung genug. Soll also jeder so arbeiten, wie er am besten kann und will. Und so erhält "Desintegriert Euch", das Motto des 3. Herbstsalons, eine zusätzliche Bedeutung. Offensichtlich widerspricht es zunächst dem Zeitgeist in Politik und Hochkultur, der den Fliehkräften geteilter Gesellschaften mit Nationalismus und einer vermeintlichen Leitkultur oder mit einem neuen Universalismus begegnen will: Es formuliert Misstrauen dagegen und ein Bekenntnis zu Diversität. Das Motto gilt aber auch für die Bildende Kunst. Wenn sie ihr angestammtes Spielfeld mit seinen Regeln, Rangordnungen und sonstigen feinen Unterschieden verlässt, dann hat sie wirklich etwas zu sagen.

3. Berliner Herbstsalon
Leitung: Shermin Langhoff, Kuratoren: Aljoscha Begrich, Çağla İlk, Erden Kosova, Tunçay Kulaoğlu, Elena Sinanina.
Künstler*innen: Ayham Majid Agha, Lola Arias, Anestis Azas/Prodromos Tsinikoris, Nora Al-Badri/Nikolai Nelles, Nidaa Badwan, Senta Baldamus, bankleer, Sebastian Baumgarten, Mehtap Baydu, Norbert Bisky, Mirko Borscht/Volkan T., Luchezar Boyadjiev, Banu Cennetoğlu, Danica Dakić, Chto Delat, Die Anti-Humboldt-Box, András Dömötör, Ender/Kolosko, Cevdet Erek, Azin Feizabadi, Nina Fischer/Maroan el Sani, Forensic Architecture, *foundationClass Weißensee Kunsthochschule, Aimée García Marrero, Marta Górnicka, Suna Gürler, Natascha Sadr Haghighian, Manaf Halbouni, Alfredo Jaar, Sven Johne, Junger Rat, Miro Kaygalak, Grada Kilomba, Hans-Werner Kroesinger, Günther Laufer, Delaine Le Bas/Damian Le Bas, Teresa Margolles, MFA-Public Art and New Artistic Practices Bauhaus Universität Weimar, Ersan Mondtag/Max Andrzejewski, Henrike Naumann, Bert Neumann, LSD//Leonore Blievernicht/Leonard Neumann, Sebastian Nübling, Kınay Olcaytu, Dan Perjovschi, Johannes Paul Raether, Oliver Ressler, Angela Richter, Julian Röder, Yael Ronen, Elske Rosenfeld, Aykan Safoğlu, Hakan Savaş Mican, Johann Gottfried Schadow, Diemut Schilling, Johannes Maria Schmit/Mareike Beykirch, Lara Schnitger, Henrik Schrat, Isabella Sedlak, Mikaël Serre, Selma Selman, Santiago Sierra, León Siewert-Langhoff, Spot_The_Silence/Christian Obermüller/Rixxa Wendland, Fiete Stolte, Youssef Tabti, Hale Tenger, Gerhard Thieme, Red Thread, Tribunal NSU-Komplex Auflösen, Nasan Tur, Viron Erol Vert, Birgit Auf der Lauer/Caspar Pauli, Wermke/Leinkauf, White on White, Tobias Zielony, Zentrum für Politische Schönheit.

Berlin, Maxim Gorki Theater, Kronprinzenpalais, Palais am Festungsgraben, Stadtraum, Brandenburger Tor, Eintritt frei (außer Aufführungen) 11. bis 26. November 2017
Mo-Fr 16-23, Sa/So 13-23 Uhr, Führungen: Mo-Fr 16, Sa/So 13 Uhr

www.gorki.de
www.berliner-herbstsalon.de

 

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