Masse und Wucht

von Wolfgang Behrens

Braunschweig, 6. Juni 2008. Bei der Uraufführung der "Perser" des Aischylos, 472 v. Chr. in Athen, sollen es 12 Mann gewesen sein. Heute, zweieinhalb Jahrtausende später, sind es über 300, die den Chor bilden: Das darf doch einmal Fortschritt heißen, zumal hier in Braunschweig nicht nur Männer dabei sind, sondern auch Frauen: Bürgerinnen und Bürger aus der Region, die willig Claudia Bosses Aufruf – "Sei Perser! Demokratie erproben im Chor der 500!" – folgten.

Claudia Bosse hat "Die Perser" 2006 schon einmal erarbeitet, in französischer Sprache in Genf, damals waren es "nur" 164 Choristen. Stefan Schmidtke, der Künstlerische Leiter des Festivals "Theaterformen", hat sie daraufhin eingeladen, das Projekt zu dessen Eröffnung und diesmal auf deutsch zu wiederholen.

Gemeinsames Anatmen

Dass der Chor nun nahezu doppelt so groß ist, macht die Sache natürlich auch doppelt spektakulär. Oder etwa nicht? Mit den Riesenchören hat es seine spezielle Bewandtnis: Jeder Chordirigent weiß, dass größere Masse nicht gleichbedeutend ist mit größerer Wucht. Und wenn das Publikum in Braunschweig die leere Bühne betritt, die es mit den gut getarnten, weil alltagsgekleideten Choreuten teilt, dann macht es bald eine ähnliche Erfahrung. Die Respekt einflößende Anzahl 300 ist das eine, die Präzision das andere: Trotz des gemeinsamen Anatmens will und kann es wohl auch nicht gelingen, dass ein derart großer Chor aus einem einzigen Impuls heraus spricht.

Immer wirkt er ein bisschen schwerfällig, hie und da klappert es, und dass bei 300 Individuen hin und wieder und letztlich ziemlich oft jemand einen falschen Einsatz herausschreit, mag man nicht wirklich übelnehmen. Gleichwohl ist es denkbar, dass die zwölf Männlein der Uraufführung mehr chorischen Druck erzeugten: Wer im Theater etwa eines Einar Schleef erlebt hat, wie einen 10 oder 20 absolut impulsgleich skandierende Choristen in Furcht und Schrecken versetzen können, der wird jederzeit eine Lanze für den flexiblen Kammerchor brechen.

Ausharren oder Flucht?

Doch die sprachliche ist nur die eine Seite dieses gigantischen Chorprojekts – und diejenige, die sich schnell als eher gleichförmig und wenig aufregend herausstellt. Auf der anderen Seite sind die im Grunde einfachen, doch sehr wirkungsvollen Raumchoreografien, die Claudia Bosse mit den 300 einstudiert hat. Und diesem Lehrstück frei nach Elias Canettis "Masse und Macht" kann man sich nur schwer entziehen. Wenn etwa eine Phalanx aus vielleicht 100 Personen auf einen zu rückt, dann bleiben dem Zuschauer – der übrigens mit seinesgleichen klar in der Minderzahl ist – nur zwei Alternativen: Ausharren oder Flucht. Wer ausharrt, dem ergeht es wie Moses am Roten Meer: Auf wundersame Weise teilt sich die Front und man gleitet hindurch.

Deutlich anders ist die Situation, wenn der Chor sich plötzlich langsam im Rückwärtsgang bewegt. Im Wortsinne rücksichtslos wird der nicht ausweichende Zuschauer von dieser Masse geschluckt und/oder umgerannt. So oder ähnlich probiert Claudia Bosse mannigfaltige Bewegungsmuster und Konstellationen durch: die hektisch durcheinander rennende Masse, die fliehende Masse, die sterbende (sich auf den Boden legende) Masse etc. Das Publikum ist von Fall zu Fall zu Entscheidungen gezwungen: Sieht es sich als Teil des Chores, versucht es, soweit möglich, Distanz zu halten oder geht es gar auf Konfrontation aus? Wenn die gesammelte Macht der 300 in einer der letzten Szenen wie eine (diesmal tatsächlich undurchdringliche) Wand die Zuschauer im Zeitlupentempo auf immer kleinerem Raum zusammendrängt, wird die Bedrohung durch die Masse auf klaustrophobische Art spürbar.

Die Grenzen der Größe

Einige im Publikum ziehen es in dieser Situation vor, auf die Angreiferseite zu wechseln und gleichsam die erste Reihe des Chorblocks zu bilden. Und die "Perser"? Die werden wortwörtlich gespielt – und zwar in der jüngst bereits bei Dimiter Gotscheff zu neuen Ehren gekommenen sperrigen Interlinearübersetzung von Peter Witzmann (Heiner Müller hat sie durchgesehen und mit seinem Namen geadelt). Die Solisten bemühen sich redlich den Text fremd und groß erscheinen zu lassen, stoßen dabei aber an ihre Grenzen.

Die Königsmutter und Hauptpartie Atossa (Doris Uhlich) stakst barbusig auf Do-it-yourself-Sperrholz-Kothurnen daher, ihr zerhackender Rezitationston, den alle Solisten gleichermaßen pflegen, bleibt aber merkwürdig schlaff und impulslos. Im Versuch, Aischylos' Sprache zugleich zu zelebrieren und fernzurücken, geht sie leider auch ihres Reichtums verlustig: Claudia Bosses Mittel sind hier zu wenig vielfältig, zu wenig differenziert. Und die Tragödie erzählt sich so auch nicht. Die Tragödie ist hier aber ohnehin nur ein Mittel zur Darstellung des Chores – und nicht umgekehrt.


Die Perser des Aischylos
Übersetzung: Peter Witzmann/Heiner Müller
Konzept, Inszenierung, Partitur: Claudia Bosse, Regieassistenz: Andreas Gölles, Koordiniation, Recherche, dramaturgische Mitarbeit: Anselm Lenz, Anke Dyes, Produktionsleitung: Caroline Farke.
Mit: Doris Uhlich, Jörg Petzold, Christine Standfest, Marion Bordat und Bürgerinnen und Bürgen im Alter von 12 bis 79 Jahren. (Die Mitwirkenden am "Chor der 500" finden Sie hier).

www.theaterformen.de
www.theatercombinat.com

 

 

Kritikenrundschau

Claudia Bosses "Perser"-Projekt bei den Theaterformen in Braunschweig ziele "auf Theater als politisch-sozialen Prozess", meint Hans-Christoph Zimmermann in der taz (9.6.): die "Kollektiverfahrung in einer individualisierten Gesellschaft und die Auslotung psychischer Grenzen zwischen Ichbehauptung und Massenemphase sollten erfahrbar gemacht werden." Das Chorkollektiv verschmelze mit den Zuschauern: "Verdrücken ist nicht möglich." Claudia Bosse nehme dabei "den Massen aber jede bedrohliche oder gar martialische Wirkung. Der archaisierende Ton, mit dem die dunkle Übersetzung von Peter Witzigmann und Heiner Müller gesprochen wird, wirkt als distanzierendes Element. Die zahlreichen Kunstpausen im Vers gehen dabei allerdings eher auf Kosten des Sinnkontinuums, als dass sie einer Sprachkritik an der Propaganda des Griechen Aischylos gegenüber dem persischen Staatsfeind dienen." Der Abend nerve zwar gelegentlich "durch die stilisierte Pseudoarchaik, doch die 'Erlösung' des Zuschauers aus dem vereinzelnden Theatersessel, die Erfahrung des Demos im Theater gehören zum Erstaunlichen dieser Aufführung."

Mit Claudia Bosses "Persern" sei "weniger ein Fall von Theaterkunst als vielmehr ein Wille zur gelebten Basisdemokratie zu vermelden", meint Christine Wahl im Tagesspiegel (9.6.): "Man muss sich die Aufführung als eine Art ritualisierten Polit-Crashkurs vorstellen, den die großkoalitionäre Bundesregierung mal buchen sollte. Für Nicht-Regierungsmitglieder hingegen bietet der Abend eher begrenzte Einsichten." Obwohl man Bosses Chorkonzept "keine Plausibilitätsmängel vorwerfen" könne, handele "es sich doch um einen sehr einseitigen Zugang"; "der Wille zum Anti-Illusionistischen" führe "lediglich zu einer roboterhaft monotonen Sprechweise". Doch immerhin: "Weiter kann man die Distanz zwischen Publikum und Bühne nicht aufheben", und insofern könne man einen "gelungenen Festivalauftakt" verbuchen.

Nicht immer stellten sich, so bemerkt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (11.6.), "so blank und bloß die beiden Fragen: Was geschah damals mit denen dort? Was geschieht jetzt mit uns hier?" Claudia Bosses "Perser" seien "der Versuch, die Geschichte zurück in ein Ritual zu verwandeln. Das funktioniert, und gerade deshalb, weil der Ablauf bei allem Effekt durch Masse und Lautstärke nüchtern wirkt." Die Zuschauer, mit denen "wohl eine Menge geschehe", würden "so etwas noch nicht gesehen haben", und doch könnten sie nicht dazu gehören: "Es ist offenkundig, dass erst recht die Beteiligten aus Braunschweig, aber auch Adenbüttel und Benkte, Weyhausen und Wolfenbüttel ein einmaliges Erlebnis haben. Und dass es nicht erst mit Vorstellungsbeginn angefangen hat und mit den letzten Worten und der kurzen Stille danach aufhört. Auch da können wir nicht mitreden und froh sein, im letzten Moment noch einen Zipfel des Projekts erwischt zu haben."

"Wo kämen wir hin", fragt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (16.6.), "wenn uns das Theater ständig derart zu Leibe rücken würde wie bei Claudia Bosses 'Perser'-Projekt in Braunschweig?" Wir würden, so antwortet sie, "überrumpelt und im schlimmsten Fall vom Theater platt gemacht!" Das Irritierende, Faszinierende an dieser Inszenierung sei: "dass sie eine Tragödie physisch erfahrbar macht, dass wir körperlich-sinnlich teilhaben daran. Dass sie buchstäblich aus unserer Mitte, aus unserem bürgerlichen Mittelmaß entspringt." So anstrengend der Abend sei, so gewinne doch die "Masse Mensch, die hier im Chor wimmert, schreit und skandiert, ... eine ungeheure Kraft, der man sich nicht entziehen kann. Das geht über das bloß Effektvolle des Überwältigungstheaters hinaus, weil es mit einer derartigen Ernsthaftigkeit, Konzentration und von den Laien mit einer solch wilden Entschlossenheit betrieben wird, dass der Abend eine befremdliche Archaik atmet, in der etwas herüberweht von 2500 Jahren Geschichte und dem Leid der Menschheit."

In der Braunschweiger Zeitung (7.6.) schreibt Martin Jasper statt einer Rezension einen "offenen Brief an den Kollegen aus dem Perser-Chor". Darin heißt es: "Diese Aufführung ist eine Zumutung! Da steht man geschlagene zweieinhalb Stunden in dieser kahlen, öden Hinterbühne herum. Und dann kommt ihr Chortypen auf uns arglose Zuschauer zu. Brüllt uns eure Verse um die Ohren. Immer und immer im gleichen abgehackten Rhythmus. Glotzt grimmig. Keilt uns ein. Treibt uns vor euch her. Rennt uns fast um. Kein Vergnügen, das!" Dann aber: "Stark jedoch die Choreografie. Wie ihr euch als Chor zusammenrottet und verlauft, wie ihr gegeneinander losgeht oder wild durcheinanderstiefelt. ... Es ist schon so: Wenn man es schaffen will, ein 2500 Jahre altes Stück heute noch Leuten unter die Haut zu brennen, dann ist die Idee der Regisseurin Claudia Bosse wohl ziemlich brillant. ... Da entfaltet sich aus der totalen Niederlage der alten, feudalen Ordnung eine ungeheure, zornige, malmende Kraft. Die spüren wir. Am eigenen Leib! ... Wir können uns nicht entziehen. Das gibt ein klammes Gefühl, das man sonst nur ganz selten hat im Theater."

Kommentare  
Perser in Braunschweig: Bosse demokratisiert
Wolfgang Behrens hat sich aus den metropolenhaften Höhen Berlins in die provinziellen Niederungen Braunschweigs begeben. Und was er dort zu sehen bekam, hat ihm nicht gefallen. Unverständlich bleibt, warum er seine Kritik von Anfang an stark ironisch einfärbte. Aber auf sachliche Auseinandersetzung scheint Behrens nicht aus zu sein.
Ihn stört, dass Claudia Bosse in ihrer Arbeit die üblichen Maßstäbe des Bildungsbürgertums sprengt. Er fühlt sich bedroht, weil gleich 500 Bürgerinnen und Bürger Braunschweigs aufgerufen wurden, sich diesem Projekt anzuschließen. Behrens möchte „absolut impulsgleich skandierende Choristen“ hören. Warum also so viele Laien bemühen und sich dem Risiko aussetzen, dass es „hie und da klappert“?
Claudia Bosse bricht das konventionelle Theater auf vielfältige Weise. Sie ignoriert die Trennung von Darstellern und Zuschauern und stellt beide auf eine Bühne. Sie demokratisiert das Theater und gewinnt ihm Hunderte begeisterte Freunde.
Behrens wünscht sich seinen behaglichen Sessel im abgedunkelten Zuschauerraum zurück. Er möchte nicht „von Fall zu Fall zu Entscheidungen gezwungen“ sein, nicht auf einer Bühne sein mit quer durch den Raum strebenden oder gar sterbenden Persern. Er möchte nicht einbezogen werden in das Stück.
Er kann beruhigt werden. Die Perser werden nur noch bis zum 10. Juni aufgeführt und sind sämtlich ausverkauft. Eine Tournee an den Wohnort des Kritikers, nach Berlin, ist nicht beabsichtigt. Eine Wiederholung oder Fortsetzung dieses grandiosen Projekt auch nicht.
Wie schade.
Perser in Braunschweig: die emotionale Seite von Aischylos
Ich kann mich meinem Vor"Redner" nur voll anschließen. Er hat sich dem Tenor der leider ungerechtfertigten Kritik angepasst, zu Recht.
Nachträglich glaube ich, das der Kritiker das Stück als reine Theaterproduktion sieht, nämlich mit den Augen eines Menschen der den intellektuellen Teil der Tragödie in den Vordergrund stellt.
Die Aufführung in Braunschweig hingegen, setzt die andere Seite von Aischylos „Persern“ frei – die der Emotionen.
Denn so gesehen hat dieser antike Schriftsteller die Perfidie eines unnötigen Krieges und dessen leidvollen Konsequenzen mittels Ausdruck der Qual und des Schmerzes der Überlebenden und Zurückgelassenen, beschrieben.
Das ganze Stück ist eine reine Emotionsschleuder.
Ungläubigkeit, Verständnislosigkeit, Schmerz, Hilflosigkeit, Sehnsucht, Aggression, Wut, Ablehnung, Vorwurf, Endgültigkeit – die ganze menschliche Gefühls-Palette wird bedient.
Und aus dem Blickwinkel heraus ist die Aufführung absolut gelungen.
Mag sein, dass der eine oder andere Patzer die technische Brillanz für den Theoretiker schmälert. Hätte er sich jedoch den Gefühlen hingegeben, die dort freigesetzt wurden, er hätte gewusst was Claudia Bosse gemeinsam mit Schauspielern und Protagonisten, den Zuschauern auf der Bühne klar machen wollten:
die Unnötigkeit von Gewalt und Krieg, die Notwendigkeit von politischem Selbstbewusstsein und somit die Verantwortung eines ganzen Volkes, auch wenn es dafür gegen die Herrschen sich stellen muss.
Denn Braunschweig mit seiner kulturellen Tradition und politischen Vergangenheit, war einer der geeignetesten Aufführungsorte in Deutschland.
Es war ein großes Wagnis und Unterfangen, mit 300 ungeübten Bürgern, dieses auf die Bühne zu kriegen.
Es hat sich gelohnt. Es hat funktioniert!

Wie der Kritiker schon schrieb, die Zuschauer inmitten der Protagonisten, waren oft irritiert, fühlten sich angegriffen und unsicher. Erst als sie begriffen, dass sie selbst Teil des Ganzen sind und das Unbeteiligtsein einfach fallen ließen, haben sie sich dem Stück und seinem Inhalt wirklich gestellt. Sie haben das getan, was gut war:
sie haben die Aufführung der „Perser“ in Braunschweig gefühlt. Das war das Geheimnis, ganz einfach!
Schade für ihn, dass dies Herrn Behrens nicht gelang. Es hat ihn um eine wichtige Lebenserfahrung ärmer gemacht.
Perser: Dürfen nur Braunschweiger das Wort ergreifen?
Hallo Michael Ritter,
in der Kritik von Wolfgang Behrens spielt es überhaupt keine Rolle, wo er selbst wohnt. Er setzt sich im wesentlichen mit der Wirkungsweise des Chores auseinander, und wenn Sie da zu anderen Ergebnissen gekommen sind, ist das doch in Ordnung, das können Sie ja hier hinschreiben. Warum polemisieren Sie dagegen, dass ein Kritiker von nachtkritik.de aus Berlin nach Braunschweig gereist ist? Sollen nur Braunschweiger über Theater in Braunschweig schreiben? Wir haben keinen Korrespondenten in Braunschweig, und hätten wir niemanden hingeschickt, hätte es geheißen: Aha, die Berliner Redaktion ist sich wohl zu fein nach Braunschweig zu kommen! Wolfgang Behrens schreibt übrigens auch über Theater in Potsdam oder Halle. Es mag gesellschaftliche Aspekte geben, die einem angereisten Berichterstatter entgehen, da sind dann Zuschriften von vor Ort als Ergänzung hilfreich. Aber für die Auseinandersetzung mit der Ästhetik gilt für den Kritiker als Angereisten doch wohl dasselbe, was Friedrich Luft über den Kritiker als Nicht-Künstler gesagt hat: "Man muss kein Schwein sein, um zu wissen, wie ein Schnitzel schmeckt."
Viele Grüße,
Petra Kohse
Perser: Beteiligte sehen die Sache natürlich anders
Ist ja in Ordnung, wenn hier welche schreiben, dass sie die Perser anders gesehen haben. Aber es sind offenbar Beteiligte - und dass Leute, die nicht beteiligt sind, die Sache anders sehen und solche, die beteiligt sind, eben keinen Außenblick haben, ist doch irgendwie auch logisch. jedenfalls ist es ein bisschen kindisch, dem Kritiker einfach die emotionen hinterherzuschleudern. Mir hats übrigens ganz gut gefallen, aber emotional war ich nicht so dabei.
Perser: Schlichte Bebilderung
Ich kann mich der Kritik von Herrn Behrens nur anschließen - und dass als in Berlin lebender Braunschweiger und Theaterwissenschaftler, der auch extra nur für die Vorstellung nach Braunschweig gereist ist.
Die theatrale Herausforderung in der Konfrontation des Publikums mit dem Chor war schon beeindruckend, aber insgesamt nicht sehr neu.
Die gefundenen Bilder waren schön, aber eben nur: das Bilder. So war die Inszenierung eine schlichte Bebilderung des Textes: Ist die Rede von zwei Fronten, werden zwei Fronten gebildet, sterben alle, stirbt der Chor usw.
Die Skandierung nach Heiner Müller war eine große Herausforderung, die der Chor gut gemeistert hat und an denen eher die Schauspieler scheiterten...
Insgesamt war das "Konzept" der Inszenierung eher mau: Warum der Chor der 500? Warum mit Braunschweiger? Was macht der Iran heute? Warum dieser Formalästhetizismus? Warum Müller? Man kann es so machen, muss es aber nicht.
Perser: Lassen sich Gefühle verordnen?
Lieber Michael Ritter, liebe Ghita Cleri,
es ist doch klar, dass Sie das Projekt als Beteiligte unter Umständen anders beurteilen, als Menschen, auch Kritiker, die von außen kommen und es als Zuschauer wahrnehmen. Das sind doch zwei völlig unterschiedliche Perspektiven! - müssen es auch sein.
Ohne die "Perser" selbst gesehen zu haben: Ihre implizite Forderung, der Kritiker solle bitteschön das wahrnehmen (bestimmte intendierte Emotionen), was die Regie hervorzurufen beabsichtigt hat, halte ich für unzulässig - es kann doch nicht das einzige Ziel, weder eines Kritikers noch eines sonstigen Zuschauers sein, herauszubekommen, was der Regisseur gewollt haben mag! Wesentlich ist viel eher, was das Kunstwerk mit dem einzelnen macht.
Sie sagen, es seien Gefühle freigesetzt worden und es habe funktioniert. Woher wissen Sie das? Das müssen Sie doch die Zuschauer fragen! Oder lassen sich Gefühle neuerdings rational planbar verordnen? Ich glaube nicht. Weder das, noch andere ganz konkrete Wahrnehmungsweisen. Und das ist auch das Tolle am Theater.
Dass Wolfgang Behrens sich auch keineswegs in irgendeinen "behaglichen Sessel" wünscht, kann man ja übrigens schon allein an seiner Erwähnung von Einar Schleef ablesen, dessen Chöre den ihrer Meinung nach 'unsensiblen' Kritiker offenbar sehr wohl in Furcht und Schrecken versetzten.
Perser in Braunschweig: Wortmeldung aus dem Chor
Vorweg: Ich bin selbst Teil des Chores, möchte hier keine Meinung in Frage stellen aber trotzdem meine eigene kurz schildern.
Die Macht, die der Chor haben kann, wenn er in sich aufgeht, das heißt, seine Konzentration entwickelt, mit Präsenz die Zuschauer versucht in die "subjektive" Stimmung herein zu holen, die gerade unter den Frauen und Kindern Persiens herrschen sollte, ist enorm. Während der Bote schildert, was er zu berichten hat, setzt der Chor mit höher werdenden "Klagelauten" ein, das zu untermalen, was der Bote beschreibt. Dann das Schlachtfeld, die ´toten Perser´.
Als Chormitglied selbst setzt eine Situation nach der anderen während der zweieinhalb Stunden immer wieder Emotionen frei, die meisten spüren den Sog, der von dem ausgeht, was erzählt wird, diejenige, die sich verführen lassen. Dazu kommen die immer wieder neuen Erkenntnisse über das Gesagte.
Gleichzeitig glaube ich kaum, dass diese Wirkung beim erstmaligen und einmaligen Hören bzw. Sehen entwickelt werden kann, deswegen bin ich nicht der Meinung, dass der Zuschauer sich über die gesamte Länge hindurch "mitreißen" lassen muss, da das eine Konzentration erforderte, die den Genuss in den Schatten stellte - und trotzdem lese ich in der Kritik durchaus, dass die Choreographie (stellenweise) die Wirkung entfaltete, die sie sollte, beispielsweise beim Rückwärtsgehen oder der "Menschenwalze" am Schluss.
Jedoch, einen klaren Widerspruch möchte ich einlegen: Doris Uhlich als Atossa verkörpert den Teil des Stückes auf den ich mich persönlich seit 2 Wochen jeden Abend auf´s Neue freue, da ich sie absolut fanatastisch finde.
Leider habe ich die Chance vertan, Zuschauer zu sein und die Momente unvorbereitet und unvoreingenommen zu erfassen - deswegen schließe ich an dieser Stelle und überlasse das Fachsimpeln den zuschauenden Fachmännern.
Perser in Braunschweig: Demokratie ist was anderes
Ich kann das Gequatsche von Demokratie in Zusammenhang mit dieser Perser-Aufführung nicht ertragen: Claudia Bosse "demokratisiert das Theater", heißt es - und auch der Tagesspiegel quatscht das nach. Was bitte ist daran demokratisch, wenn eine Menschenansammlung eine andere niederwalzt? Hätte das Publikum wirklich die Option gehabt mitzumachen? Nö, oder nur nach den Regeln des Chores. Als der Chor am Schluss den Text von Blättern ablas, versuchte ich, bei einer Choristin mit reinzuschauen und mitzusprechen: Sie hat sich prompt abgewendet. Man muss nicht gleich die Faschismus-Keule rausholen, wenn eine Menge der anderen ihren Willen aufzwingt, aber, hallo!, Demokratie ist was anderes!!!
Perser: Zuschauer dem Chor gegenüber klar in der Minderheit
Hallo,
ich habe das Stück selbst als Zuschauer während einer Generalprobe verfolgt.
Dass die Sprache des Stückes ein hohes Maß an Konzentration beim Zuschauer erfordert, und man geneigt ist nicht 150 Min. folgen zu wollen bzw. zu können, haben diverse Kritiken bereits erwähnt.

Dass 300 Leute (Laien, aber das ginge Profis nicht anders) nicht 150 Min. lang in der Lage sind, exakt getimt miteinander zu agieren, ist doch auch jedem klar.
Jeglicher Kommentar in diesen Richtungen ist somit nur eine persönliche Meinung und stellt lediglich den eigenen Geschmack dar. Man könnte genauso gut über die Über-/Unterlegenheit von Äpfeln gegenüber Birnen diskutieren.
Aber gerade das stellt ja auch den Reiz solcher Diskussionen dar. Claudia Bosse bevorzugt meiner Meinung nach wohl eher Birnen, während ich lieber Äpfel esse, um bei meinem Beispiel zu bleiben.

Ich habe mich nicht vor der Wand am Ende versteckt, sondern bin durch sie hindurch geschritten. Das dabei einige Ellenbogen in meinen Rippen gelandet sind, und auch meine Zehen weniger Spass hatten kann man positiv gesehen als provokative Art der Darstellung ansehen.
Als Zuschauer habe ich das Stück nicht genossen, jedoch hatte ich den Eindruck das die Laiendarsteller das Stück genossen hätten.

Und wenn man sich überlegt, dass die Zuschauer gegenüber den Darstellern klar in der Minderheit sind, ist das doch vielleicht auch nicht schlecht. Der Mehrheit gefällt es halt scheinbar, sie sollen es genießen und für alle die es nicht mögen, durchsetzen wird sich diese Form des Theater aller Vorarussicht nacht wohl eher nicht.
Perser: Die Zuschauer haben Einsätze vermasselt
Geschätzter Demoskop!
Bei mir hätten Sie gern in die Partitur reinschauen dürfen!
Tatsächlich haben sich mehrfach Zuschauer ganz einfach einen Satz Blätter gegriffen und mitgesprochen - und dann jeden Einsatz vermasselt! (leider heißt es dann in Kritiken, dass die Choreinsätze nicht stimmten....)
Perser in Braunschweig: Groß
Ich habe großes gesehen!
Perser in Braunschweig: Wer war hier frei und gleich?
Einige Fragen möchte ich stellen, die ich mir während der gesamten "Perser-Zeit" nicht beantworten konnte:
Inwieweit wurde das Theater durch Claudia Bosses "Perser-Aufführung" demokratisiert? Indem wir (der Chor) wie Schauspieler agieren durften? Indem die Zuschauer, nichtsahnend, vom Chor überrannt und auch geängstigt wurden? Wer war hier frei und gleich und durfte mitbestimmen und sagen wo es lang geht? Wir Choristen jedenfalls nicht, denn wir haben immer nur brav gemacht, was Frau Bosse uns abverlangt hat. Das allerdings taten wir mit Genuss. Ob wir Choristen tatsächlich Demokratie geprobt haben während der ganzen Probe- und Aufführungszeit möchte ich daher bezweifeln. Eher würde ich die ganze Zeit als ein Lehrstück in Sachen Gruppendynamik verzeichnen.
Aber mal ganz abgesehen von aller Kritik, war die gesamte Zeit als Choreutin eine der aufregendsten, spannensten und tollsten Erfahrung, die ich je gemacht habe und ich vermute, dass es allen anderen "Persern", die bis zum Schluss durchgehalten haben, genauso ging. Insofern war dieses Projekt vielleicht doch eher ein Projekt für die Teilnehmer, denn eines für die Zuschauer.
Perser in Braunschweig: basisdemokratischer Gedanke
gott sei dank erlebe ich lauter talentierte laien um mich, die in der lage sind wie die choreuten der claudia b. die kommentare chorisch via choreografie in stärkster emotion zu bringen. und das funktioniert! es ist toll zu erleben, dass zumindest nachtkritik.de einen absolut basisdemokratischen gedanken verfolgt.
Bosses Perser: Öffnung ist auch Demokratie
Liebe Choreutin,
werter "Demoskop",
"wer war hier frei und gleich" fragst Du in Deinem Beitrag. Auch der sich "Demoskop" nennende Besucher fragt nach dem Demokratiegehalt der Perser-Inszenierung.
Nun, um sich einer Antwort zu nähern, möchte ich eine Gegenfrage stellen. Was ist Demokratie? Ist es Demokratie, wenn Theaterlaien der Regisseurin vorschreiben, wie sie das Stück aufführen wollen? Ist es Demokratie, wenn Schüler per Mehrheitsentscheid entscheiden, was sie lernen und worin sie geprüft werden wollen? Doch eher nicht.
Aber ist es nicht ein Stück Demokratie, wenn sich das Theater öffnet? Nicht nur den üblichen 'Verdächtigen' offen steht, sondern auch den Laien? Wenn nicht nur das Bildungsbürgertum ins Theater geht, sondern Menschen sogar Theater machen, die sonst nichts oder nur wenig mit dieser Institution zu tun haben?
Ich habe nicht von ungefähr die Frage nach Schule und Demokratie aufgeworfen. Denn so fragwürdig es wirkt, wenn Schüler selbst ihre Lerninhalte festlegen wollen, so ist es doch das Verdienst einer politischen Richtung, einer Bundesregierung gar, die weiterführenden Schulen auch eher bildungsfernen Schichten geöffnet zu haben. Angesichts der aktuellen Elitendiskussion bin ich mir bewusst, wie unzeitgemäß meine Fragen wirken mögen. Und trotzdem. Die Gymnasien auch Arbeiterkindern zu öffnen war ein großartiger Versuch. Sich 2008 für eine Inszenierung der "Perser" des Aischylos mit 500 Laien herumzuschlagen ähnlich verdienstvoll. Darum war ich, darum bin ich der Meinung, dass Claudia Bosse das Theater demokratisiert.
Die Perser in Braunschweig: lohnendes Experiment
Eines vorweg: 'Feige sind die Unbenannten - Inkognito als Versteck in der Gesellschaft'!
Wer eine Meinung hat und sie artikulieren möchte sollte sich - gerade deshalb(!) - nicht hinter Pseudonymen verstecken!!
Zur Sache: Als Nichbeteiligter, aber Eingebundener habe ich die Produktion verfolgt. Ich bewundere den Mut und die Konzeption von Claudia Busse, auch wenn meine Auffassung von Theater anders aussieht. Schwierig mit 320 'Laien' zu arbeiten, zu vermitteln und zu übertragen, was der Regievorstellung entspricht. Umso größer die Umsetzung mit in mehrere Teile aufgeteilten Chor, der, was ich gesehen habe, erstaunlich synchronisiert war. Natürlich kann man dort nicht die 'Emotionale Macht' erwarten, die professionelle Schauspieler in kleiner Gruppe bieten können. Es ist, denke ich, eine Frage des 'Darauf Einlassens'! Die Macht liegt in der Konzeption als solches! Die vom (Laien-)Chor dargestellte persische Bevölkerung war (übrigens auch nach Aischylos) ebenfalls Laie - in kriegerischer Hinsicht - wie wohl 90% aller in Kriegen Betroffenen! Da ist nicht jede Meinung, nicht jede Emotion synchron; da kommt es auch auf (ungewollte?) Individualität an. Deutlich zu machen, wie die 'Masse' durch den Krieg zerstört wird, wirkt umso imposanter, wenn viele Darsteller diesen Part einnehmen! Im Gegenbild zu den Protagonisten der Kriegführenden.

Soviel zu der Leistung des Chores, die ich unter den Umständen und in Anbetracht der Bedürfnisse faszinierend fand.
Die Regie Claudia Bosses ließ, in meinen Augen, dennoch zu wünschen übrig. Warum fokussierte sich die Inszenierung auf den, zweifellos wichtigen und unentbehrlichen, Chor? Sie ließ ihre Solisten doch eher im Stich und inszenierte sie überflüssig Chauvinistisch und effektheischerisch. Die Darsteller gaben ihr bestes und überzeugten, doch hatten sie zu wenig Freiheit, ihren Part eindringlich zu interpretieren; gerade in dieser Art Theater doch eine wichtige Komponente. Ich möchte annehmen, dass sich Frau Bosse mit der Inszenierung des Chores doch wohl ein wenig zu viel zugemutet hat, um ihre Solisten gleichwertig dagegensetzend in Szene zu setzen.
Die sprachliche Abstraktheit ist Stilmittel und wirkt bis auf wenige Ausnahmen dem Thema angemessen und zuweilen in der Tat bedrohlich.

Als Fazit kann ich von meinem Standpunkt nur sagen: Das Experiment hat sich gelohnt. Als mehr möchte ich es hier nicht betrachten. Wenn Zuschauer sich bedroht fühlten, ist das Konzept sicherlich aufgegangen; im 'realen' Krieg werden auch so manche umgerannt und niedergestoßen! Darüber sollte man auch mal nachdenken!
Dennoch fand ich die Inszenierung doch etwas zu polemisch und auf den Effekt von regionalen Darstellern beschränkten Akt.
Was bleibt ist ein bittesüßer Beigeschmack. Ich möchte gern mehr Theater dieser Form sehen, allerdings wünsche ich mir dazu dann langfristigere und in allen Bereichen engagiertere Produktionen.
Berechtigung - gegen alle Kritiken - hatte dieses Projekt allemal!!

Mit meinem Namen
Markus Kräft, BS, Schauspieler und Regisseur
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