Die Intelligenz der Gruppe

Interview: Simone Kaempf und Nikolaus Merck

Berlin, 16. November 2017. Vor siebzehn Jahren startete Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne mit einem Mitbestimmungsmodell, mit gleichen Gagen für alle Schauspieler*innen in einer Höhe, von der viele heute nur träumen können. Und mit dem Glauben an die kollektive Kraft des Ensembles. Vieles von dem, was zuletzt in der Debatte um die Zukunft der Stadttheater hochbrodelte, wurde an der Schaubühne ausprobiert – und auch wieder verworfen. Denn so plausibel die Forderung nach mehr Partizipation, nach höheren Gagen und besseren Arbeitsbedingungen auch klingen: Die Praxis ist komplizierter. Über seine Erfahrungen spricht Thomas Ostermeier im Interview mit Simone Kaempf und Nikolaus Merck.

nachtkritik.de: Herr Ostermeier, als Sie an der Berliner Schaubühne begannen, wurde der Start von einem Manifest des Hauses begleitet, darin hieß es: "Das Ensemble ist der utopische Moment des Theaters." Was bedeutet der Satz heute, 17 Jahre später?

thomas ostermeier2 280 brigitte lacombe uThomas Ostermeier © Brigitte LacombeThomas Ostermeier: Für mich gilt der Satz immer noch. Mit einer Gruppe aus festen Schauspielern zu arbeiten und mit ihnen eine eigene Spielweise zu entwickeln, ist immer noch mein Ideal. So wie man das in meiner Inszenierung von "Professor Bernhardi" vielleicht sehen kann. Es bedeutet auch, dass das Ensemble für viele Schauspieler die beste Möglichkeit ist zu wachsen, sich auszubilden und zu großartigen Schauspielern zu werden. Einige unserer Schauspieler hätten ohne ein Ensemble diesen Weg möglicherweise nicht gemacht.

Was sind die Vorteile für einen einzelnen Schauspieler, eine Schauspielerin, wenn sie oder er in einem festen Ensemble spielt?

Dass man sich auf einen mehrjährigen Zeitraum verabredet, gemeinsam künstlerisch zu arbeiten und nicht nur für eine bestimmte Produktion. Diese Offenheit für beide Seiten nimmt viel Druck aus einer Zusammenarbeit, das heißt: es darf auch Misserfolge geben. Man wird, wenn man in einer großen Rolle die Erwartungen nicht erfüllt, nicht sofort rausgeschmissen. In einem ensembleorientierten Theater kann man wachsen und die Angst verlieren. Die Angst vor dem Publikum, vor dem Misserfolg, vor der Rolle, vor den Anforderungen eines Regisseurs. Und die wichtigste Aufgabe eines Leiters ist, diese Angst abzubauen.

Wie weit geht man bei diesem Angstabbau? Als jüngst das Türkei-Gastspiel von "Richard III." abgesagt wurde, hieß es in der Begründung, dass es Verunsicherung im Team gebe. Musste man wirklich diesen Schritt gehen, um sich schützend vors Ensemble zu stellen?

Wir haben uns diesen Schritt alles andere als leicht gemacht. Es gab viele Gespräche mit dem Auswärtigen Amt, dem Goethe-Institut und der Festivalleitung. Wir haben uns zwei Mal in großer Runde, das heißt: mit Technik und Schauspiel, getroffen und allen Beteiligten die Möglichkeit gegeben, anonym zu sagen, ob sie mitfahren wollen oder nicht. Bei dem zweiten Treffen war klar, dass ein Großteil der Beteiligten aus den Gewerken und dem Schauspiel-Ensemble Angst hat, in die Türkei zu reisen. Der Anteil war so groß, dass er nicht durch Umbesetzung oder Ersatz in den technischen Gewerken aufzufangen gewesen wäre. Ich selbst war so hin- und hergerissen und die Entscheidung gegen das Gastspiel hat mich sehr unglücklich gemacht.

 Prof bernhardi1 560 Arno Declair uOstermeiers "Professor Bernhardi" – Best Practice in Sachen Ensemble-Arbeit? In der Titelrolle: Jörg Hartmann (vierter von rechts), heute zentral im Schaubühnen-Ensemble © Arno Declair

Bei dem Gastspiel in Istanbul vor 2,5 Jahren mit Ein Volksfeind gab es Angriffe regierungsnaher Presse, die uns vorwarfen, ein "dirty German game" zu spielen und das Publikum gegen Erdoğan aufzuhetzen. Die Verhaftung des Kunstmäzens Osman Kavala, der eng mit dem Goethe-Institut zusammenarbeitete, hat dazu beigetragen, unsere Bedenken noch zu steigern. Wir hatten Angst vor der Willkür, da das Verhalten der türkischen Regierung im Moment nicht durchschaubar ist. Wir sind als Schaubühne nicht bekannt dafür, vor Reisen in schwierige Regionen zurückzuschrecken – das haben wir in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen. Wir haben in Ramallah im Westjordanland gespielt und sind als Ensemble kurz nach der Ermordung meines Freundes Juliano Mer-Khamis ins Flüchtlingslager Jenin gefahren. Wir waren auch in Teheran und fahren regelmäßig nach China. Das werden wir auch weiterhin tun, außer, wenn wir das Gefühl haben, einem undurchschaubaren Willkür-Regime ausgesetzt zu sein.

Zurück zum Ensemble. Die Verabredung heißt also: Du spielst bei mir und wirst auch nicht bei nächster Gelegenheit gekündigt, wenn etwas nicht läuft. Was bedeutet Ensemble aber für die Gruppe von Schauspieler*innen?

In jeder wichtigen Theaterperiode, die ästhetisch und im besten Fall politisch prägend war, hat sich ein Regisseur mit einer Gruppe von Spielern verbunden und gemeinsam haben sie ästhetisch neue Ufer erreicht. Ariane Mnouchkine mit dem Théâtre du Soleil, Peter Stein mit der alten Schaubühne, Castorf mit seinem Volksbühnen-Ensemble.

Ivan Nagels "Theater der Truppe"?

Ja. Das ist es, was ich hier am Haus zu machen versuche. Inspiriert von internationalen Kompanien wie etwa der von Jan Lauwers oder Simon McBurney. Ich will diesen Geist einer Truppe. Und die einzige Möglichkeit, in Deutschland so etwas zu verwirklichen, ist im Rahmen eines von der Öffentlichen Hand finanzierten Theaters.

Wieso nur in einem solchen Theater?

Weil es im Theaterbereich die einzige Struktur ist, in der Menschen in künstlerischen Berufen soziale Sicherheit haben. Und ich so für alle hier die Verantwortung übernehmen kann.

Sie haben einmal egalitär begonnen mit Einheitsgage und Mitbestimmung. Später haben Sie begonnen, arrivierte Schauspieler wie Sepp Bierbichler, Kirsten Dene oder Angela Winkler als Gäste zu holen.

Weil wir keine Schauspieler in dieser Altersgruppe hatten. Ganz banal.

Das waren aber regelrechte Stars.

Vor allem Spieler mit der Aura des "Noch-nicht-zynisch-gewordenen-Mimen". Kirsten Dene hat die Leute an der Hand genommen, ohne jegliche Diven-Allüren. Angela Winkler ist durch ihre außergewöhnliche Persönlichkeit für jedes Ensemble eine Bereicherung. Sich auf der Probe von dieser Eigenartigkeit inspirieren zu lassen und zu merken, wir müssen gar nicht alle stromlinienförmige Schauspielerinnen sein, ist sehr wertvoll.

Das "Engagement der Stars" bedeutete also Zugewinn an Erfahrung für das Ensemble?

Ja. Wir haben Zeiten gehabt, wo wir diese Unterstützung brauchten. Jetzt nicht mehr. Schauspieler, die aus unserem Arbeitszusammenhang kommen, wie Jörg Hartmann, Mark Waschke, Lars Eidinger und andere übernehmen jetzt diese Rolle. Oder Nina Hoss und Ursina Lardi, mit denen ich gemeinsam auf die Schauspielschule gegangen bin, mit Ursina sogar in dieselbe Klasse. Und dann natürlich auch Jule Böwe, mit der ich seit "Shoppen & Ficken" 1998 zusammenarbeite.

Nora 280 Arno Declair xHier spielt er noch die Nebenrolle: Lars Eidinger als Doktor Rank und Anne Tismer als "Nora" © Arno DeclairMan holt durch Kino und Fernsehen populär gewordene Kolleg*innen – oder holt sie zurück. Sie bekommen bessere Bedingungen. Wie gut halten das die Mannschaftsspieler aus?

Das halten die deshalb aus, weil sie sich selber in fünf Jahren in dieser Position sehen. Und das sogar mit gewissem Recht. Denn ein Mark Waschke, eine Nina Hoss, ein Jörg Hartmann oder Lars Eidinger haben genau das erlebt. Eidinger hat 280 Vorstellungen Doktor Rank in "Nora" gespielt. Er spielte also nicht die Titelrolle. Und jetzt haben alle Kollegen das Beispiel Eidinger vor Augen, der neben Hamlet auch als Richard zu sehen ist. Er hatte über die Jahre die Möglichkeit, hier seine ungeheure Begabung zu entfalten. Jeder, der mit so einem Talent gesegnet ist an unserem Haus, hat die gleichen Möglichkeiten. 

Ensemblespieler, die in zehn Jahren nicht den großen Schritt gemacht haben, glauben, dieser Schritt stünde noch bevor?

Die meisten Spieler und Spielerinnen haben bei uns die Möglichkeit, protagonistisch oder halbprotagonistisch zu spielen. Aber manche haben auch erlebt, was es heißt, im Fokus zu stehen, und dass sie mit dem Druck nicht klar kommen.

Wann entsteht dieser Moment, wenn ein Schauspieler ahnt oder weiß: Er ist nun dran?

Im besten Fall merke ich das, oder einer der Dramaturgen, meine engsten künstlerischen Mitarbeiter, oder der Schauspieler merkt es selber. Das hat was mit unerklärlichen Phänomenen zu tun, wie bei der Entstehung von Erotik. Man merkt, wie jemand das Spielen als einen erotischen Vorgang zwischen sich und dem Publikum erfährt. Und diese Begegnung mit einer gewissen Lust auch sucht.

Heißt aber, das Ensemble besteht auch aus Spieler*innen, die aus Überzeugung Supporting Actors sind?

Wenige. Und die sind ungeheuer wertvoll, weil sie die langjährige Erfahrung haben, eine gewisse Ruhe, mit der sie Spannungen und Hysterien im Probenprozess abfedern und moderieren können.

Ist das Zusammenspiel mit den immer gleichen Kolleginnen eine Produktivkraft für ein Ensemble?

Wieso den immer gleichen?

Wenn das Ensemble konstant bleibt über Jahre ...

Der Begriff eines Ensemble ist beweglicher. Es muss einen Geist geben, der von Unterschiedlichen getragen wird. Das ist nicht zwingend an bestimmte Leute gebunden. Regelmäßig neue Spieler ins Ensemble zu bringen, ist wichtig. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass sehr gute Spieler uns verlassen, weil sie an gewachsenen Arbeitsbeziehungen zu Regisseuren festhalten wollen, die sie bei uns kennengelernt haben oder mit denen sie ans Haus gekommen sind. Ich denke da zum Beispiel an Luk Perceval oder Michael Thalheimer. Andere Schauspieler gehen, weil sie ihrer Film- und Fernsehkarriere nachgehen wollen. So werden immer wieder Positionen frei und dadurch kann man das Ensemble permanent erneuern. 

Das Schaubühnen-Ensemble besteht also aus einem Kern von Schauspieler*innen und anderen, die kommen und gehen?

Manchmal gehen welche weg, die zum Kern gehören. Jörg Hartmann und Mark Waschke saßen hier vor mir und erklärten, dass sie jetzt gehen wollten. Ich fand das damals sehr traurig. Und deshalb bin ich besonders froh, dass sie jetzt wieder bei uns sind.  

Deshalb traurig, weil sie von Anfang an fest dazugehörten?

Traurig, weil sie mir beide sehr ans Herz gewachsen waren. Wir haben über Jahre versucht, durch die Intelligenz und die Solidarität der Gruppe gemeinsam ästhetische Erfahrungen, Spielerfahrungen zu machen, mutig zu sein, weiterzugehen, sich zu verändern.

Personenkreis84 560 SchaubuehneMark Waschke in "Personenkreis 3.1", Ostermeiers Eröffnungs-Inszenierung im Jahr 2000. Seit 2015 ist Waschke "Tatort"-Kommissar, mittlerweile wieder Ensemble-Mitglied © Arno Declair

Wollten Sie die beiden zurückholen? Oder kamen sie von sich aus? Blieb man in Kontakt?

Ich wollte die beiden zurückholen. Unter anderem auch darum, weil sich beide für junge Kollegen interessieren, weil sie auch Premieren der anderen besuchen. So jemand ist zum Beispiel auch Nina Hoss, die zu einer Generalprobe kommt und mit den Schauspielkollegen danach redet und junge Leute an die Hand nimmt.

Angstabbau kommt also nicht nur von Ihnen, sondern auch aus dem Ensemble heraus?

Ja, natürlich. Zwingend. Und der Zusammenhalt in einem Ensemble und der Geist, den ein Ensemble unabhängig von seinem Leiter hat, kann auch ein Grund sein, warum Schauspieler gerne hier sind. 

Nochmal zurück. Das Ensemble, wie Sie es beschreiben, ist keine feste Gruppe, sie braucht immer wieder Austausch und Erneuerung. Aber das Ensemble hat einen Kern, der den Geist und die Idee dieses Ensembles trägt. Die hiesige Idee eines politisch eingreifenden, eines der Wirklichkeit verpflichteten Theaters.

Auch eines unterschiedlichen Ästhetiken verpflichteten Theaters. Deshalb ist es wichtig, Regisseure ans Haus zu binden, die das komplette Gegenteil von mir machen. Dadurch gewinnt das Spiel der Schauspieler eine ästhetische Bandbreite und sie kommen verändert zu mir auf die Probe. Inspirierter, freier, erfüllter, musikalischer, körperlicher. Es kann sein, dass einer von der Arbeit mit Herbert Fritsch zurückkommt und auf einmal bei einer realistischen Spielweise als Charakterdarsteller an Tiefe gewinnt. Das befruchtet sich, weil man durch eine Begegnung mit einem anderen Regisseur auf einmal Blockaden, die man bei dem vorherigen hatte, auflösen kann.

Und dann kommt Herbert Fritsch und bringt eine Reihe eigener Spieler*innen in das Schaubühnen-Ensemble mit. Was passiert dann?

Erstmal sind wir sehr glücklich, dass diese außergewöhnliche Gruppe von Künstlern zusammen mit Fritsch überhaupt zu uns ans Haus gekommen ist. Und im Ensemble sind viele auch deshalb froh, weil jetzt die Last des Spielens auf mehrere Schultern verteilt ist. Wir können in Berlin eine Serie Zeppelin spielen und gleichzeitig zwei Wochen Ungeduld des Herzens in Paris. Die Leute müssen, wenn sie aus Paris zurückkommen, nicht gleich wieder etwas anderes in Serie spielen, sondern können sich etwas ausruhen. Die Schauspieler bei uns im Ensemble haben in der Regel ein großes Problem, das heißt: "Ich kann nicht mehr." Die steigen aus dem Flugzeug und müssen noch am selben Tag auf die Probe oder spielen.

Gut. Aber wie schaut das mit dem gemeinsamen Anliegen aus, mit dem "Auftrag" des Ensembles? Wie gut funktioniert das mit anderen Regisseuren wie Michael Thalheimer oder Herbert Fritsch?

Ich habe Thalheimer als einen politisch denkenden und engagierten Künstler kennengelernt. Wir arbeiten ästhetisch gesehen komplett unterschiedlich und gerade das macht seine Arbeit so interessant für mich. Außerdem war Michael Thalheimer extrem ensembleorientiert und hat durchgängig mit festen Schauspielern aus unserem Ensemble gearbeitet. Ich musste nie mit ihm darüber diskutieren, ob für Hauptrollen Stars angestellt werden. Und ich finde Herbert Fritschs anarchischen Dadaismus auch politisch und genieße es extrem, mich mit Herbert über Theater im Allgemeinen und seine Arbeit bei uns im Haus im Speziellen zu unterhalten. Es sind ungeheuer angenehme Gespräche, wie jeder, der Herbert mal persönlich kennengelernt hat, sich vorstellen kann. 

Gibt es ein gemeinsames politisches Anliegen?

Nein, es gibt einen politischen Unmut, eine unglaubliche Wut auf die Verhältnisse. 

Wie wichtig sind Einflüsse von außen wie die von Angélica Liddell, Rodrigo García, Romeo Castellucci? Wie wichtig ist es, dem Ensemble etwas anderes anzubieten und damit zum Bestand, zur Entwicklung, zum Geist des Ensembles beizutragen?

Sehr wichtig. Ich bin ein Regisseur, der seine Leidenschaft darin sieht, Schauspieler zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass sie ab und an frei haben von Ostermeier, der sehr allergisch ist gegen falsche Töne und falsche manieristische Gebärden. Für die Schauspieler ist es eine richtige Befreiung, wenn sie mal genau das machen dürfen oder sogar sollen. Castellucci fordert die Schauspieler sehr und kann ihnen in der konkreten szenischen Arbeit nicht immer helfen, wenn sie fragen: "Was mach ich denn jetzt hier auf der Bühne?" Sich mit eigener kreativer Energie aus schwierigen Situationen herauszustemmen, kann eine fruchtbare Erfahrung sein.  

Oedipus tyrann1 560 arno declair uWas heißt es fürs Ensemble, wenn fremde Regisseure und Schauspielerinnen andocken? Romeo Castelluccis Inszenierung "Ödipus Tyrann", u.a. mit Angela Winkler (links) © Arno Declair
Ich habe 15 Jahre darum gekämpft, dass Simon McBurney hier arbeitet. Für die Schauspieler sind Proben mit Simon ein inspirierendes Erlebnis. Alleine der Geist des Ensembletheaters, das er ja seit Anfang der 80er Jahre mit Complicité betrieben hat – und das heißt ja nicht umsonst "Komplizenschaft" –, da weht nochmal ein ganz anderer Ensemblegeist rein.

Gehört zu diesem Ensemblegeist auch Mitbestimmung?

Natürlich.

Aber nicht mehr in dem Sinne wie im Jahr 2000, oder?

Wenn die Schauspieler sich die Mitbestimmung selbst erkämpfen, macht sie, glaube ich, mehr Sinn. Aber wenn man ihnen von oben oktroyiert, dass sie sich politisch engagieren sollen, hat das schon fast etwas von verordnetem Sozialismus. Und das ist ja auch in der DDR schiefgegangen.

Können Sie kurz sagen, worin die Enttäuschung mit der Mitbestimmung bestand?

Für mich war das die größte Niederlage meiner Biografie.

Warum hat es nicht funktioniert?

Ein Grund war, dass das Mitbestimmungstheater, als es Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre in Deutschland populär wurde, von einem gesellschaftlichen Aufbruch getragen wurde. Und von der Generation der 68er, die sich von ihren geistigen und biologischen Vätern losschlagen musste, weil die oft Nazi-Schuld mit sich trugen. Das Nachkriegsdeutschland kam zu einem neuen Bewusstsein, und man sah in Mitbestimmung und basisdemokratischen Formen, in Kollektiven eine Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit. Das heißt: Wenn an der alten Schaubühne Marxismus-Leninismus-Seminare stattfanden, dann kam das vielleicht aus einem Bedürfnis des Ensembles. Weil sie glaubten, dass sie in einer Zeit leben, in der sich Gesellschaft verändert, und sie nähmen an diesem Prozess teil.

Als wir unsere Mitbestimmung installierten, herrschte der Geist der New Economy, der Start-ups, und Berlin knüpfte, wenn überhaupt in der Vergangenheit, dann ans Berlin der 20er-Jahre des rauschhaften Erlebens und des Geniekults um junge Männer an. Eine komplett andere Situation. Wir waren null getragen von dem, was außerhalb dieser Mauern vor sich ging.

Die Schauspieler*innen selber waren es dann, die die Mitbestimmung zum Kippen brachten. Woran ist sie genau gescheitert?

ManifestDas Schaubühnen-Manifest aus dem Jahr 2000

Für die Schauspieler war es schwer, die Mitbestimmung als Mittel zu betrachten, das Produktivität und Kreativität freisetzt. Wir haben ja nicht nur einmal die Woche Ensembleversammlungen abgehalten, wir haben auch zwei Ensemblevertreter in der Direktionssitzung gehabt, die wussten also, was mit den Finanzen los ist, und zwei saßen in der Schauspielsitzung, wo man mit den Dramaturgen über den Spielplan redet. Dabei gab es enorme Reibungsverluste. Ich wollte etwa Stücke diskutieren und merkte nach kürzester Zeit: Moment mal, die haben die Texte ja gar nicht gelesen. Dann haben wir angefangen, die Stücke gemeinsam zu lesen, damit man darüber reden kann. Aber auch hier merkte ich schnell wieder, dass nur wenige den Text vorbereitet hatten. Gescheitert ist die Mitbestimmung, als einem der Schauspieler sein Geld nicht reichte. Wir hatten ja richtiggehend festgeschrieben, per Zweidrittel-Mehrheit bei der Ensembleversammlung kann man die Einheitsgage abschaffen. Diese Zweidrittel-Mehrheit wurde erreicht, weil die Leute dachten, sie könnten dann zukünftig mehr drehen und Funk und Fernsehen machen. Worin sich leider viele getäuscht haben.

Und dann?

Wir haben die Einheitsgage abgeschafft, aber noch fünf, sechs Jahre mit Ensemblevertretern und Ensembleversammlungen weiter gemacht, um so wenigstens den Geist der Partizipation aufrecht zu erhalten.

Die dann auch abgeschafft wurde?

Die auslief …

Weil sie zuviel Arbeit machte?

Weil keiner mehr zu finden war, der als Schauspiel-Vertreter in den Direktionssitzungen sitzen und die Hausaufgaben mache wollte, von Ensembleberichten über das Lesen und Diskutieren von Stücken bis hin zum Anschauen von Regisseuren, wie das früher an der Schaubühne war. Eine Schauspielerin hat dann anderthalb Jahre lang als Vertreterin gearbeitet, weil kein anderer kandidiert hat. Eigentlich vorgesehen war aber ein Rotationsprinzip, nach dem alle sechs Monate ein neuer Schauspieler oder eine neue Schauspielerin dran kommen sollte.

Das ähnelt der Situation heute, bei der Eröffnung der zweiten Ensemble-Netzwerk-Versammlung im Mai wurde geklagt, dass sich die Schauspieler*innen zu wenig engagieren.  

Man muss dazu aber auch sagen, dass Schauspieler sehr viel arbeiten. Und bei den langen Wegen hier in der Stadt, bis hin zur Probebühne in Reinickendorf, ist man schnell mehr als zehn Stunden am Tag unterwegs. Bei uns kam dazu: Gewerkschaftsarbeit, Parteiarbeit – politische Arbeit überhaupt – hatte keinen Sex Appeal mehr (wenn diese Arbeit überhaupt mal einen hatte). Wenn Du schon diese Mehrarbeit auf Dich nimmst, brauchst Du eine andere Aura als die eines spießigen Funktionärs. Du musst ja doch etwas davon haben, wenigstens, dass die Leute sagen: "Wir lassen uns jetzt mal von Dir das Betriebsverfassungsgesetz erklären!" Möglicherweise ändert sich das gesellschaftliche Klima gerade wieder. Das sieht man im Theater auch daran, dass sich art but fair und das Ensemble-Netzwerk bilden. Das ist gut. Auch bei uns gibt es wieder regelmäßig stattfindende Ensembleversammlungen und es gibt wieder Ensemblevertreter. Darüber bin ich sehr froh. Überhaupt bin ich sehr glücklich im Moment mit dem Geist im Ensemble und den vielen tollen Schauspielern und Persönlichkeiten, die hier zusammen arbeiten. 

Als das Schauspiel Köln im September erklärte, die Einstiegsgage sprunghaft zu erhöhen, um 450 Euro auf 2.300 Euro, folgte sofort eine Debatte, ob das nicht ungerecht sei den Älteren gegenüber, die soviel mehr auch nicht verdienen. Warum ist Gagen-Gerechtigkeit so kompliziert?

Sie ist superkompliziert. Wir haben 2.000 Euro Anfängergage, das heißt 150 Euro mehr als die tarifvertraglich vereinbarte Mindestgage, und werden 200 Euro mehr zahlen, wenn die Anfängergage nächstes Jahr angehoben wird. Aber die Ensembletheater in kleinen und mittleren Städten haben ein viel, viel schwereres Leben als wir und stecken in einer anderen finanziellen Situation. Als wir anfangs die Einheitsgage einführten, wurde die den Anfängern auch nicht zugestanden. Sie sind aber sehr schnell reingewachsen, fingen mit weniger an, wussten aber gleich, das springt im nächsten Jahr, und hatten nach drei Jahren die Gagen der anderen erreicht. Was nicht der Realität an normalen Theater entspricht.

Eine Forderung der aktuellen Debatte lautet auch, dass bei Intendant*innenwechseln die Schauspieler*innen nicht gekündigt werden sollen. Das wäre nach Ihrer Argumentation, dass Ensemble auch beweglich sein muss, hinfällig?

Wenn jemand in die Situation käme, die Schaubühne zu übernehmen, kann ich mir vorstellen, dass die neue Leitung mit einem Großteil des Ensembles weiterarbeiten möchte. Wenn man es geschafft hat, ein Ensemble zu profilieren, tut der Nachfolger gut daran, die Spieler zu übernehmen. Wenn ein Theater das nicht geschafft hat, finde ich es legitim, etwas Neues auszuprobieren.

Da spricht aber nicht Ostermeier, der Gewerkschafter.

Doch, da spricht der Gewerkschafter, weil wir uns in einer Situation befinden, wo die eigentlichen Kämpfe ganz woanders geführt werden müssen. Vor zehn Jahren gab es 3.000 festangestellte Schauspieler, heute gibt es 2.000. Das ist die Frontlinie. Wenn ich einem Schauspieler kündige oder ihn nicht verlängere, weil ich ein Haus übernehme, der sich aber in einer Landschaft wiederfindet, wo es 3.000 feste Stellen gibt, ist es eine andere Situation, als wenn es nur 2.000 oder, wenn die Entwicklung so weiter geht, nur 1.500 Stellen gibt.

Der Druck von unten ist enorm. Es drängen jedes Jahr etliche Absolventen ins System. Und natürlich schauen Häuser, ob man kostengünstig produziert. Die Älteren finden kein Engagement, das ist auch ein Stand der Debatte.

Die Theaterstrukturen sind kaputt gespart. Deshalb sage ich: Achtung, eure eigentlichen Gegner sind die Kämmerer und die Finanzpolitiker der Kommunen und der Länder! Es müsste viel mehr politische Arbeit gemacht werden mit den Verantwortlichen für die Kulturbudgets. Das ist das Problem der Diskussion zwischen Ensemble-Netzwerk und Intendanten, die getragen ist von dem Gestus: Warum gönnt Ihr uns keine Mindestgage, warum gönnt ihr uns nicht eine größere soziale Absicherung? Die Frontstellung Ensemble-Schauspieler gegen Intendanten ist nur zum Teil richtig. Da geht es doch nicht ums Gönnen, sondern um Verantwortung. Mit wenigen Ausnahmen versuchen die Intendanten ihr Bestes, sie versuchen Strukturen zu erhalten, in denen Menschen die Sicherheit eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatzes haben. 

Zum Schluss: Wenn Sie sich etwas wünschen dürften …?

Ich bin mit meinem Ensemble gerade sehr, sehr glücklich. Wenn ich noch einmal neu anfangen würde, dann wäre das mit einem kleinen Ensemble, das auskömmlich bezahlt wird, wo man nur produziert und das Stück dann spielt, damit auf Reisen geht und dann ist wieder Ruhe. So wie Complicité das macht. Ich möchte gerne ein kleines Theater, eine Bühne etwa von der Größe unseres Globe, und eine Truppe von fünf, sechs Leuten und mit denen sechs Monate Theater spielen, und die anderen sechs Monate können sie drehen. Eigentlich will ich eine Truppe, die auf Gedeih und Verderb gemeinsam eine Geschichte erzählen und kämpfen will und sich gegenseitig stützt und hilft, wenn einer durch eine Krise geht. Und dafür ist ein Ensemble auch wichtig.

 

Thomas Ostermeier, 1968 geboren, ist Theaterregisseur. 1992 bis 1996 studierte er Regie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". 1996 übernahm er am Deutschen Theater Berlin die Leitung der DT-Nebenspielstätte "Baracke" und machte die kleine Bühne gemeinsam mit dem Dramaturgen Jens Hillje in kurzer Zeit zu einem Brennpunkt des Gegenwartstheaters. Seit Herbst 1999 ist Thomas Ostermeier der Künstlerische Leiter der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin.

 

Mehr zur Debatte um die Zukunft der deutschen Stadttheater.

mehr debatten