Wer ist mein Mentor?

von Michael Laages

Hamburg, 16. November 2017. Womöglich hatte sich Maxim Gorki ja so das "Nachtasyl" vorgestellt – Menschen am Rand der Gesellschaft, Untergegangene und Untergeher, auf engstem Raum und unter armseligsten Bedingungen aufeinander geworfen, bis schlimmstenfalls Blut fließt oder Füße verbrüht werden. Und vielleicht fühlt sich so ja heute auch eine jener Notunterkünfte für Geflüchtete an, 100 Familien in einer dörflichen Turnhalle, mehrstöckige Betten nebeneinander gepfercht, und die Grenze zwischen den Privatsphären ist ein windschief gehängtes Bettlaken. Das ist nun unsere Welt, wenn wir in Hamburg Leiden lernen wollen; bei und unter Anleitung von Signa, dem so außergewöhnlichen Performance-Team, dessen deutsche Karriere nach aufsehenerregenden Lebenswelt-Erfindungen in Dänemark von Köln aus unter anderem über Leipzig und Berlin nach Wien zu den Festwochen führte – dann neulich nach Mannheim zu den Schillertagen und mittlerweile zum dritten Mal auch nach Hamburg und ans Deutsche Schauspielhaus.

Beziehungsweise gerade dahin dann eben doch nicht – Signa sind spezialisiert auf Außenspielstätten, für "Das halbe Leid" jetzt ist eine leere Fabrikhalle, mittlerweile von Hamburger Behörden umgenutzt, zum Erlebnisort geworden für eine zwölfstündige Empathieschulung. "Das halbe Leid" ist ein fiktiver Verein aus "Mitleidenden", Menschen übervoll von gutem Willen (und gerade darum oft besonders hilflos), und wir werden zu Teilnehmern eines Kurses dieses Vereins. Uns selber, den eigenen Habitus, geben wir dafür an der Garderobe ab. Genauer: im Spind – ausgewählt durch einen von 30 "Leidenden" (also von Signa gecasteten Darstellern, die uns echtes Leiden zeigen, vielleicht auch nur vorspielen), legen wir bei unserem speziellen "Mentor" die Klamotten ins Depot und bekommen von ihm welche aus dem Fundus des Vereins. Ihm oder ihr, unseren leidenden Mentoren, sollen wir äußerlich ähnlich werden, um näher heran zu kommen an die Art und das Wesens des speziellen Leidens, das er/sie verkörpert.

Mein Mentor war "Blondi", ein (eben!) blondierter schwuler Junkie-Stricher, 26 und (im Spiel?) ziemlich krank. Keine Zukunft, nirgends … er träumt von Lea – so hätte er sein Kind genannt, wenn er eins bekommen hätte. Er schreibt seine Geschichten auf, in ruppiger, kleiner Schrift in ein Schulheft. Er zeichnet Alptraumbilder dazu.

Liebesgaben für Dolores

Als "Blondi 4", einer von drei Kurs-Teilnehmern, die er für seine Vier-Bett-Burg ausgewählt hat, gehe ich von nun an durch den Abend: höre der Geschichte meines Mentors in körperlich-psychischem Kontakt-Training zu, Kontakt-Training, bei dem alle Kurs-Teilnehmer den Mentor mit Hand und Wort stützen. Erlebe bei noch einem Besuch in der Therapiehölle andere Mentoren, die einander unter Anleitung eines ziemlich finstren Folterknechts ziemlich schlimme Sachen an die Köpfe werfen; mit uns, den "Kursisten", als Echoraum, als Bande, über die die Mentoren spielen. Auch "Dolores" kommt ins Spiel: die fiktive, fetischartige Göttin des Schmerzes, die alle Mentoren sehnsüchtig herbei beschwören als fundamentalsten aller Alpträume. Eine unserer Aufgaben: Liebesgaben basteln für Dolores und für die Mentoren. "Dolor" ist Latein und heißt Schmerz, "dolores" sind die Schmerzen – Signa kann auch ganz schön bildungsbürgerlich agieren. Geschenkt.

DashalbeLeid SIGNA 3 560 ErichGoldmann uTheaterelend in yer face © Erich Goldmann

Gegen Mitternacht sind die eher theoriehaltigen Kurse vorüber; so gestählt richten wir uns mit den Mentoren in den Schlafsaal-Ecken ein; Männlein im unteren, Weiblein im oberen Saal der Industriebrache. Jetzt beginnt wirkliche Magie – denn von überall her tönt's, singt's und schrillt's. Kreischende Frauen im Stockwerk drüber, keifende Männergruppen, die kleine Bandenkämpfe simulieren; darüber klimpert das berühmte Reeperbahn-Lied aus der Spieluhr, auf einer weiteren Tonspur gibt's erst Prokofjews "Peter und der Wolf" und dann echtes Wolfsgeheul. Stundenlang. Wir liegen in kargen Betten, und an Schlaf ist kaum zu denken: überall und immerzu Menschlich-Allzumenschliches, voller Sehnsucht, voller Gewalt; Stöhnen aus Schmerz oder Lust. Mein Mentor wird sehr zart.

Kannst Du Mitleid?

Plötzlich, gegen drei, dröhnt der Zerberus mit dem Stalinisten-Ton von vorher durch die Bettenreihen: "Aufsteh'n! Vortrag!" … Wer dem Befehl folgt, bekommt Neonazi-Gebelfer zu hören und schlafende Tiere zu sehen. Später, zum Frühstück um halb sechs, gehört mein Mentor auch zum Küchenteam und gibt sich extra Mühe … erstaunlich weit weg ist mittlerweile die eigentlich nahe liegende Frage, was hier noch Theater ist und was schon Leben. Das ist ja immer der wichtigste Risiko- und Knackpunkt in den Arbeiten von Signa – können wir die Verabredung darüber vergessen, dass wir im Theater sind; eröffnet die Einfühlung mit dem Mentor vielleicht tatsächlich die Option für den Persönlichkeitstausch … könnten wir vielleicht wirklich Empathie für ein Alter Ego entwickeln? Obwohl das behauptete Leid immer größer ist als das typische eigene: Suff, Drogen, Krankheit, Klapse, Knast, Kriminalität, Schauder, Schrecken überall – "dolores" eben.

Signa kommen weit mit dieser Arbeit; auch weil sie anders vorgehen als meistens. Oft drifteten wir, die Versuchskaninchen, bei ihnen durch ein Labyrinth sich ständig wiederholender Szenerien, und wir waren mit der Entschlüsselung abstrakt und traumatisch vorfabulierter Formeln beschäftigt. Durch die Bindung an die Mentoren und deren Geschichten werden wir, das Publikum, diesmal deutlicher auf uns selbst zurück geworfen – und die eigene Sehnsucht nach, aber auch Unfähigkeit zu echtem Mitleid.

Nur zur Erinnerung: Compassion, Mitleid war der politische Zentralbegriff für Persönlichkeiten wie John F. Kennedy und Willy Brandt. Wie lange ist das her … es ist aber wieder genug Leiden in der Welt, unendlich viel mehr sogar als vor 50 und ein paar Jahren. Innerlich stumm und gedankenlos werden die "Teilnehmerinnen und Teilnehmer" von "Das halbe Leid" vielleicht nicht mehr daran vorbei schauen und vorbeigehen. Wer weiß schon, wer von den schrägen Vögeln in der Fußgängerzone ein Mentor, mein Mentor sein könnte …

Das halbe Leid
Konzept Signa Köstler
Regie: Signa und Arthur Köstler, Bühne: Signa Köstler, Olivia Schröder, Camilla Lönbirk, Kostüme: Tristan Kold und Signa Köstler, Technisches Design, Sound und Medien: Arthur Köstler und Simon Steinhorst, Dramaturgie: Sibylle Meier.
Mit: Amana Babaei Vieira, Georg Bütow, Asger Degnbol, Navid Rashid Farrokhi, Kai Friebus, Erich Goldmann, Imke Grabe, Benjamin Hassmann, Zenzi Huber, Flora Janewa, Saskia Kaufmann, Thor Albin Kjaer, Dominik Klingberg, Tristan Kold, Tom Korn, Arthur Köstler, Signa Köstler, Renè Marvin Kuhnke, Jan Liefhold, Camilla Lönbirk, Frederik von Lüttichau, Evi Meinardus, Simon Salem Müller, Wanja Neite, Chiara Nicolaisen, Joanna Noga, Sonja Pikart, Fabian Raith, Christopher Ramm, Sofie Ruffing, Julian Sark, Benedicte Skjalholt, Johanna Sarah Schmidt, Antonio Schmidt, Markus Schmon, Andreas Schneiders, Olivia Schröder, Raphael Souza Sá, Viktoria Steiber, Simon Steinhorst, Luisa Taraz, Lorenz Vetter, Marie S. Zwinzscher; "guest stars" Jonas Preben Jörgensen, Steven Reinert, Helga Sieler, Ivana Sokola, Mareike Wenzel.
Dauer: 12 Stunden

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Das komplexe Signa-Paralleluniversum von Signa und Arthur Köstler mit seinen über 40 Performern hat mich fest im Griff", resümiert Sven Ingold in der Welt (18.11.2017) seine Erfahrung des 12-Stunden-Experiments. "Die Illusion ist perfekt und – ich leide mit. Oder ist auch das nur eine Illusion?"

"Dieses Theaterstück macht etwas mit jedem, der dabei ist", schreibt Heinrich Oehmsen im Hamburger Abendblatt (18.11.2017). "Wer demnächst vor einem Lebensmittelmarkt einen Obdachlosen lagern sieht, wird vielleicht mit anderem Blick auf ihn schauen – weil er in dieser Nacht eine Ahnung davon bekommen hat, was es bedeutet, auf der Straße zu leben."

"Das waren aufrüttelnde, sogar lebensverändernde zwölf Stunden", gibt Daniel Kaiser im NDR (18.11.2017) zu Protokoll. "Nach nur einer Nacht in der Obdachlosenunterkunft-Attrappe sehe ich die Menschen, die in den Fußgängerzonen auf dem Boden sitzen und unter Brücken zelten, anders. Aber auch die Mechanismen und die Motivation von Mitleid erscheinen neu."

"'Furcht und Mitleid zu erregen' sei der Zweck des Theaters, so meinte schon Gotthold E. Lessing. Mitleid im Theater – so verstand der damalige Dramaturg des Hamburger Nationaltheaters seinen Aristoteles – sei 'geteiltes Leid', und zwar mit den vom Schicksal aus der Bahn Geworfenen." Man greife nicht zu weit, wenn man die neue Signa-Arbeit in diesen Zusammenhang stelle. Aber Bernhard Doppler vom Wiener Standard (29.11.2017) bereitete die Nacht des Elends auch "komödiantisches Vergnügen: das Verwildern und Herausfallen aus der Mitte der Gesellschaft!" Nicht nur an Gorkis Nachtasyl müsse man denken, auch Puccinis zugiger La Bohème-Dachboden sei gar nicht so fern.

 

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